Kitabı oku: «Untote leben länger», sayfa 3

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Um auf den Ausgangspunkt dieses Abschnitts zurückzukommen: Wenn wir den Alptraum der gegenwärtigen Krise begreifen wollen, müssen wir Neoklassik und Neoliberalismus unbedingt analytisch unterscheiden.26 Die neoklassische Theorie ist wesentlich älter als das Neoliberale Denkkollektiv und weist erst neuerdings Anzeichen einer Infektion auf. Wie wir zeigen werden, hatten ihre Vertreter in der jüngsten Krise die Aufgabe, praktisch jeden seriösen Erklärungsversuch dafür, dass die Krise für die zuständigen Experten ein rätselhafter Schock gewesen ist, zu Fall zu bringen. Mit ihren unausgegorenen Analysen des schleichenden Grauens sind sie zu einem Alptraum geworden. Doch es waren die Neoliberalen, die den Zombie-Horden als Stoßtruppen gedient haben, als Spähtrupps, deren Schock-Strategien und -Therapien die wandelnden Toten nach sich ziehen.

Einmal wachgerufen, begannen die neoklassischen Ökonomen durchs Land zu taumeln und mit ihren schlechten Frisuren, ihrem toten, starren Blick und resolutem Geschrei die Bevölkerung zu verängstigen – und wurden ihrerseits zu den entscheidenden Wegbereitern des wiedererstarkenden Neoliberalismus. Wie Quiggin einräumte: »Ich habe unterschätzt, mit welcher Geschwindigkeit und Macht sich Zombie-Gedanken ausbreiten.«27 Wir müssen die Gründe dafür herausfinden.

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Die Schock-Block-Strategie
Neoliberalismus als Denkkollektiv und politisches Programm

Die Sozialwissenschaften funktionieren in vieler Hinsicht anders als naturwissenschaftliche Disziplinen. Besonders auffällig sind allerdings ihre großen Theoriedebatten, in denen die einen Koryphäen den »Tod von X« verkünden, während die anderen darauf beharren, X habe nie wirklich existiert. Physiker mögen erklären, die ptolemäische Astronomie, die Theorie des Äthers oder die kalte Fusion seien für die moderne Disziplin »tot«, aber sie würden nie so weit gehen zu behaupten, die Theorie oder den Begriff habe es historisch nur in der Fantasie von Leuten gegeben, die man niemals hätte ernst nehmen sollen. In den Sozialwissenschaften geschieht dies hingegen unentwegt: Sie praktizieren häufig den schmerzhaften Spagat, einem bestimmten verbreiteten Konzept schlechthin die Existenz abzustreiten, während sie zugleich seinem ektoplasmischen Leichnam die letzte Ölung verpassen. Kein Wunder, dass wir in Zombie-Alpträume geraten sind, wie im letzten Kapitel gesehen. Das mag symptomatisch für eine verbreitete Schwäche der ontologischen Auffassungsgabe, mangelnde Pietät gegenüber den Verstorbenen oder Schlimmeres sein, doch in jedem Fall ist es ein Defekt, der Debatten tückisch macht.

Im Lauf der aktuellen Krise betraf dieser Spagat das theoretische Gebilde »Neoliberalismus«: Während ein Chor von Think-Tanks den Begriff für gegenstandslos erklärte, stimmte eine kleinere Gruppe den Grabgesang an. Kommentatoren aller Art, darunter bezeichnenderweise nicht wenige Neoliberale, behaupteten beharrlich, jenseits der bloßen Bezeichnung habe nie wirklich eine Theorie existiert, oder taten den Begriff polemisch gestimmt als Schimpfwort umnachteter Linker ab.1 Verwirrenderweise kursierten aber zugleich voreilige Gerüchte über ein Ableben des Neoliberalismus, dessen Schicksal die Wirtschaftskrise endlich besiegelt habe. Für manche war dieser Eindruck so eindringlich, dass sie praktisch hören konnten, wie die Würmer am Sarg der noch warmen Ideologie knabberten. Kapitel 1 sollte zeigen, wie die Erfahrungen der Jahre danach nahezu alle Beteiligten irritiert und verunsichert haben und dass eine Voraussetzung des politischen Fortschritts darin besteht, ein genaueres Verständnis dieses Debakels zu gewinnen. Das gesamte Thema Neoliberalismus muss möglicherweise selbst von denjenigen überdacht werden, die gute Kenntnisse der politischen Theorie für sich beanspruchen, und sei es nur um besser zu begreifen, warum die Neoliberalen nach der Krise seltsamerweise stärker sind als zu der Zeit, in der sie ihr den Weg bahnten. Die plakative Rede von einer bösartigen »Schock-Strategie« (Naomi Klein) ist das eine. Etwas anderes ist es, im Detail nachzuvollziehen, wie der Neoliberalismus dem Tag der Abrechnung entging: durch etwas, das man »Schock-Block-Strategie« nennen könnte. Der Neoliberalismus ist quicklebendig; die Leidtragenden sollten die Gründe dafür kennen.

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Existenz, der Wirkungsmacht und Widerlegbarkeit des Neoliberalismus. Er dominiert weiterhin die Politik und wichtiger noch: Die meisten Menschen selbst betrachten ihre angespannten Lebensverhältnisse weiterhin durch eine Brille, die vom Neoliberalismus geprägt ist. Ist dies Verwirrung, Missgunst oder Naivität geschuldet? Oder liegt der Grund in einem Zusammenspiel je nach geografischer Lage unterschiedlicher, an sich unverbundener historischer Tendenzen wie der Verunsicherung durch die Arbeitsmigration, den schwachen Regierungsstrukturen der Europäischen Union oder der starken Abhängigkeit des Staates vom Finanzsektor? Auch wenn wir die vielen lokalen Besonderheiten berücksichtigen, sie erklären doch alle nicht das wirklich Entscheidende: Die Krise hat keine grundlegende Revision des bisherigen politischen Katechismus bewirkt. Ein bedeutender Grund für diese Verschonung des Neoliberalismus, des für das Debakel verantwortlichen Gedankengebäudes, dürfte lauten, dass er als Weltanschauung mittlerweile so tief im Alltagsleben verwurzelt ist, dass er als nahezu »ideologiefreie Ideologie« durchgehen kann.

Viele Menschen meinen sogar noch immer, er existiere gar nicht wirklich. Dass die heutige politische Ökonomie jenseits vager Annahmen über Angebot und Nachfrage eine Struktur aufweisen könnte, ist für solche Skeptiker unvorstellbar. Selbst von der Mont Pèlerin Society, eine Zeit lang der entscheidende Ort für seine Herausbildung, hat offenbar kaum jemand gehört. Teilweise ist dies den Neoliberalen selbst anzulasten: Wie ich dokumentieren werde, bezeichneten sich die Mitglieder der MPS zwar in den frühen Fünfzigerjahren als »neoliberal«, nur um davon bereits in den Sechzigerjahren wieder Abstand zu nehmen und stattdessen eine ungebrochene Kontinuitätslinie zu Adam Smith zu behaupten. Genauso viel Schuld sollte man allerdings ihren linken Gegnern geben, die »Neoliberalismus« in der Auseinandersetzung mit wichtigen, zumeist als »Globalisierung«, »Finanzmarktkapitalismus« und »Gouvernementalität« verhandelten Phänomenen häufig als pejorativen Allzweckbegriff zücken. Grobe Bezeichnungen für aktuelle politische Entwicklungen sollte man nicht mit der sorgfältigen Analyse politischer Doktrinen verwechseln, die zum Zwecke langfristiger Organisierung geschaffen wurden, sosehr sich beides auch berühren mag; abstrakte Kampfbegriffe haben der durchschnittlichen Person leider kaum Klarheit über das Wesen des Neoliberalismus verschafft. Obendrein wird manchmal noch behauptet, es gehe bei alldem ausschließlich um »Wirtschaftstheorie«, was bei den meisten Menschen garantiert den Wunsch auslöst, das Thema möglichst schnell hinter sich zu bringen.

Aufklärung über das neoliberale Programm erfordert in erster Linie eine historische Untersuchung seiner Herkunft und Entwicklung – eine Forschungsarbeit, die bereits weitgehend geleistet wurde.2 Das vorliegende Kapitel rekapituliert diese Geschichte jedoch nicht einfach, sondern nähert sich der Rolle des Neoliberalismus in der Krise stärker analytisch. Wir werden zunächst dokumentieren, wie man durch die Krise eine Veränderung der geistigen Landschaft erwartete, danach gängige, seine Zählebigkeit fördernde Missverständnisse über die Kernlehren des Neoliberalismus zusammenfassen, uns der dringend gebotenen Darstellung seiner »doppelten Wahrheiten« widmen und mit dem Wissensverständnis der Neoliberalen schließlich einen der Hauptgründe dafür erörtern, dass sie unbeschadet durch die Krise gekommen sind. Mit diesem politischen Hintergrundwissen gerüstet, können wir uns im Rest des Buches dann direkt mit den Debatten im Gefolge der Krise befassen.

Schau’ nicht zurück

Es bereitet gewiss kein Vergnügen, auf die völlige Fehleinschätzung der geistigen Folgen der Krise hinzuweisen. Ich erinnere mich, wie ich 2008 selbst meinte, vielleicht werde nun endlich manches von dem Unfug verschwinden, der die orthodoxe Wirtschaftslehre zeit meines Lebens verschandelt hatte. Wer von uns dachte damals nicht, der Zusammenbruch von Bear Stearns, Lehman Brothers, AIG, Northern Rock, Lloyds Bank, Anglo Irish Bank, Kaupthing, Landsbanki, Glitnir und einiger kleinerer Institute werde zumindest die triefende Siegesgewissheit derer durchkreuzen, die sich eines umfassenden Verständnisses der globalisierten Ökonomie gerühmt hatten? Die Erwartung eines solchen weltweiten Kollapses des Finanzsektors und sodann der übrigen Wirtschaft war bis dato ein Markenzeichen von Verschwörungstheoretikern, Apokalyptikern und unverbesserlichen historischen Materialisten gewesen. Wer hätte bestreiten können, dass etwas furchtbar schiefgelaufen war? Der nächste Schritt des logischen Schlusses, der sich indes als falsch erwies, lautete, nun werde jedermann erkennen, dass die der Krise vorausgehende Blase eine direkte Folge bestimmter Doktrinen war, deren Widerruf folglich bevorstehe. Fasste man diese Doktrinen unter dem Sammelbegriff »Neoliberalismus« zusammen und gab eine Prise Falsifikationismus hinzu, dann gelangte man zu der verbreiteten Annahme, wir würden Zeuge des Niedergangs einer gesamten Denkweise:

»Die erste intellektuelle Folge der Krise bestand darin, den Neoliberalismus – oder den Glauben, Märkte allein böten eine hinreichende Gewähr für das menschliche Wohl – als Grundideologie der Epoche zu unterminieren.«3

»Das Projekt des freien Marktes steckt in der Klemme. Noch nie ist die Frage nach der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rolle – Schuld könnte ein treffenderes Wort sein – des Neoliberalismus mit einer solchen Dringlichkeit, derart global und öffentlich debattiert worden.«4

»Der Neoliberalismus hat sich selbst zerstört. Der dreißig Jahre andauernde globale Vormarsch der Ideologie des freien Marktes ist an sein Ende gekommen.«5

»Der Fall der Wall Street ist für den Neoliberalismus, was der Fall der Berliner Mauer für den Kommunismus war.«6

Um den Eindruck zu vermeiden, ich würde hier ungerechterweise die Neigung einer bestimmten Menschengruppe zu voreiligen Schlüssen ausnutzen, sei jemand zitiert, der der Orthodoxie in der amerikanischen Wirtschaftswissenschaft nähersteht. Joseph Stiglitz schrieb:

»Der neoliberale Marktfundamentalismus war immer eine politische Doktrin, die gewissen Interessen diente. Die ökonomische Theorie war nie eine Grundlage. Auch sollte nun klar sein, dass Marktfundamentalismus ebenso wenig auf historischen Erfahrungen basierte. Diese Lektion zu lernen, könnte ein Hoffnungsschimmer hinter der dunklen Wolke sein, die momentan über der Weltwirtschaft hängt.«7

Alternativ können wir auch eine bekannte Vertreterin der Globalisierungsanalyse anführen – Saskia Sassen, die das »Ende des Finanzkapitalismus« prognostizierte: »Das Besondere der aktuellen Krise besteht eben darin, dass der finanzialisierte Kapitalismus an die Schranken seiner eigenen Logik gestoßen ist.«8 David Harvey fragte etwas vorsichtiger, ob der Neoliberalismus »wirklich« am Ende sei.9 Angehörige der Fakultäten von Cambridge und Birkbeck erklärten: »Der Zusammenbruch des Vertrauens in die Finanzmärkte und das Bankensystem […] untergräbt gegenwärtig die Auffassungen des Neoliberalismus.«10 Auch Politiker ließen sich zeitweilig zu solchen Übertreibungen hinreißen: Der australische Premierminister Kevin Rudd verkündete den Tod des Neoliberalismus, nur um auf Betreiben der eigenen Partei selbst ein vorzeitiges politisches Ende zu finden. US-Senator Bernie Sanders prognostizierte, mit dem Kollaps der Wall Street sei auch das Vermächtnis Milton Friedmans erledigt; die Universität Chicago jedoch sammelte ungerührt 200 Millionen Dollar Spendengelder, um eben diesem ein Ehrenmal zu errichten und ein neues Milton Friedman Institute zu gründen. 2008/09 waren Grabgesänge auf den Neoliberalismus schier allgegenwärtig.

Linke Akademiker legten mit genaueren Analysen des Krisenverlaufs nach. John Campbell zum Beispiel erkannte in der finanziellen Kernschmelze insofern eine Krise des Neoliberalismus, als die Deregulierung der Finanzmärkte und andere politische Maßnahmen zur Umverteilung von unten nach oben die Folge eines mangelhaften Marktverständnisses gewesen seien – theoretische Annahmen hatten demnach genauso zum Crash beitragen wie die natürliche Trägheit von Institutionen.11 Freilich dämpfte Campbell seine Analyse mit einer Mahnung: »Auch wenn der Moment der Krise in theoretischen Debatten als Auslöser radikaler Veränderung gilt, erkennen heute viele Wissenschaftler an, dass sich institutioneller Wandel selbst in historischen Augenblicken wie diesem meist sehr langsam vollzieht.« Andere Krisendiagnostiker äußerten sich weniger vorsichtig, doch ob nüchtern oder überschwänglich gestimmt, alle folgten demselben logischen Schluss: Menschen können aus ihren Fehlern lernen; der Zusammenbruch der Finanzmärkte und die tiefe Rezession sind der klare Beweis dafür, dass der Neoliberalismus falsch ist; folglich muss er praktisch erledigt sein. Dieses Credo befeuerte die Maschine, die 2008/09 Unmengen von Kommentaren zur Krise ausstieß, und gab den bekannten Litaneien über Finanzmarktreformen eine neue Eindringlichkeit. Mahnende Worte über den Tod des Neoliberalismus fanden sich in ganz unterschiedlichen Abhandlungen zur Krise, ja selbst bei Autoren, die in gehobener Gesellschaft den Begriff »Neoliberalismus« niemals verwenden würden.12

In einem Buch über die Krise in das Dickicht der formalen Erkenntnistheorie einzutauchen wäre eine Abschweifung, doch alle diese Prognosen hatten mindestens einen gravierenden Mangel, den wir berücksichtigen müssen: Die Sozialpsychologie, die Wissenschaftsgeschichte und -philosophie sowie die Wissenssoziologie haben übereinstimmend gezeigt, dass sich Menschen gewöhnlich nicht in der hier angenommenen Weise verhalten. Nur der seichteste Popperianer, der an die durchschlagende Wirkung einer punktuellen Widerlegung glaubt, könnte meinen, aufgrund einer bestimmten Beobachtung werde jemand seine tiefsten Überzeugungen, die er seit Langem hegt und die grundlegend für sein Weltbild sind, kurzerhand in Zweifel ziehen. Solche Bekehrungen kommen zwar vor, allerdings nur sehr selten. Viel häufiger sorgen langjährige Schulbildung, Sozialisierung und Erfahrungen für eine enorme Trägheit kognitiver Prozesse. Droht eine starke Überzeugung widerlegt zu werden, dann wird ihre Auslegung gewöhnlich so modifiziert, dass sie mit den zunächst gegenteiligen Befunden vereinbar wird; in der sozialpsychologischen Literatur ist dies als Theorie der kognitiven Dissonanz, in der Philosophie als Duhem-These diskutiert worden. Erkenntnisprozesse haben zudem zwangsläufig eine gesellschaftliche Dimension: Da man das Wissen, das man als gültig akzeptiert, größtenteils kaum überprüfen kann, ist man stark von anderen wie beispielsweise Lehrern, Experten und Kollegen als Bürgen seiner Überzeugungen abhängig.13 Eine zweite mit Blick auf unser Rätsel sehr relevante Frage lautet, ob die faktischen Anhänger des Neoliberalismus ihn mehrheitlich überhaupt als kohärente, mit einem klaren Programm verbundene Lehre verstehen oder stattdessen ihre eigenen neoliberalen Ansichten für zusammenhangslose Implikationen anderer Überzeugungen halten. Wie bereits angedeutet, haben die meisten Menschen weiterhin keine Vorstellung davon, was Neoliberalismus ist, geschweige denn davon, wie er ihr eigenes Denken prägen könnte. Anders gesagt: Wie sollten sie etwas ablehnen, das für sie gar keine räumlich-zeitliche Konsistenz besitzt, oder auch nur ihre eigenen Ansichten als Teil einer kohärenten geistigen Tradition begreifen?

Dieses Buch geht der Frage nach, warum die Krise bislang kein Beispiel dafür gewesen ist, wie bestimmte Auffassungen falsifiziert werden, und untersucht die Abwehrmechanismen maßgeblicher Gruppen wie der orthodoxen Ökonomen und der Mitglieder des Neoliberalen Denkkollektivs. Es dient letztlich dem Zweck, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, doch dazu müssen wir uns zunächst an den Gedanken gewöhnen, dass Dogmen zumeist nicht aufgrund einer plötzlichen Flut schlechter Nachrichten von selbst zusammenbrechen. Das erfordert weit mehr, weshalb das vorliegende Kapitel bei Erwartungen an Erkenntnisprozesse zur Vorsicht mahnt. Im Folgenden skizzieren wir zunächst die ernüchternden Lektionen der Sozialpsychologie, was die voreilige Annahme eines bevorstehenden Ablebens des Neoliberalismus betrifft. Im Abschnitt danach widmen wir uns der schwierigen Frage, ob dieser in den vergangenen Jahrzehnten überhaupt genügend Kohärenz und Beständigkeit aufgewiesen hat, um einer Widerlegung feste Anhaltspunkte zu bieten.

Was geschieht, wenn eine verführerische, umfassende Weltanschauung in die Brüche geht? Es wäre eigenartig, gäbe es nicht zahlreiche Studien zu dieser Frage, schließlich berührt sie direkt das Bild, das wir von uns selbst und anderen haben. Tatsächlich wurde ihr auch in vielfältiger Weise nachgegangen, doch der Kürze halber beschränken wir uns auf die von dem Sozialpsychologen Leon Festinger begründete Theorie der kognitiven Dissonanz. Die klassische Problemlage, die auch die heutige Wirtschaftswissenschaft kennzeichnet, beschreibt Festinger in seinem hervorragenden Werk zum Thema wie folgt:

»Angenommen, ein Individuum glaubt an etwas aus ganzem Herzen […], angenommen, ihm werden sodann eindeutige und unbestreitbare Beweise dafür vorgelegt, dass seine Überzeugung falsch ist: Was wird geschehen? Das Individuum wird danach häufig nicht nur unerschüttert, sondern stärker denn je von der Wahrheit seiner Ansichten überzeugt sein. In der Tat kann es sogar einen neuen Eifer bei der Überzeugung und Bekehrung anderer zeigen.«14

Diesen bemerkenswerten Befund führte Festinger darauf zurück, dass das Individuum dergestalt auf die von der Widerlegung tiefer Überzeugungen bewirkte kognitive Dissonanz reagiere. Es gibt umfangreiche Literatur zu der These, dass Menschen eher rationalisierend als rational sind, doch in der Wirtschaftswissenschaft wird sie kaum beachtet.15 Die Theorie der kognitiven Dissonanz geht dabei insofern deutlich über die der Duhem-These folgende wissenschaftsphilosophische Literatur hinaus, als sie Reaktionsmechanismen auf eine emotionale Enttäuschung untersucht, während Erstere darstellt, wie eine drohende Widerlegung durch unendlich viele zulässige Hilfshypothesen abgewehrt werden kann: Sie dienen als Erklärung dafür, warum ein bestimmtes empirisches Ereignis die zu überprüfende Lehre nicht wirklich anficht, sondern auf unberücksichtigte Faktoren zurückzuführen ist. Die Wissenschaftsphilosophie weidet sich daran, dass es rational sein kann, Gegenbeweise abzutun; die Sozialpsychologie der kognitiven Dissonanz zeigt dagegen, als wie überaus dehnbar sich der Begriff der Rationalität im gesellschaftlichen Leben darstellt.

Festinger illustrierte diese Erkenntnisse gemeinsam mit Kollegen in seinem ersten Buch When Prophecy Fails anhand der »Seeker«, einer Gruppe im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten, die den Glauben ausgebildet hatte, fliegende Untertassen würden sie an einem bestimmten Tag im Jahr 1954 vor einer großen Flut retten, die Lake City (ein Pseudonym) verschlingen werde. Er dokumentierte Stunde für Stunde sehr detailliert, wie die Seeker reagierten, als der Tag ihrer Rettung kam und schließlich verstrich, ohne dass irgendwelche Raumschiffe landeten oder eine Flut losbrandete und Lake City auslöschte. Während sie anfangs Journalisten mieden, um sich nicht ihre falschen Prophezeiungen vorhalten lassen zu müssen, änderten sie ihre Haltung bald und nutzten jede Gelegenheit zur Verbreitung ihres (modifizierten und erweiterten) Glaubens. Eine Minderheit löste sich zwar von der Gruppe, doch diese bestand laut Festinger aus Personen, die schon vor der Krise eher halbherzige und randständige Mitglieder gewesen waren. Die große Mehrheit der Seeker gab ihre infrage gestellten Lehren nie auf, und die Anführer verfolgten ihre Missionierungsbemühungen mit noch mehr Nachdruck, zumindest so lange, wie sie mit einem Kreis von Glaubensgenossen verkehren konnten.

In gewissem Sinn hatte die Verbannung von Philosophie und Methodologie aus den akademischen Lehrplänen zur Folge, dass sich große Teile der orthodoxen Wirtschaftswissenschaft und viele Vertreter neoliberaler Think-Tanks und Medien von 2008 an ähnlich wie die Seeker verhielten. Schien die Krise auf den ersten Blick nahezu alles widerlegt zu haben, wofür das NDK und die Orthodoxie standen, so erklärten im Laufe der Zeit sowohl Linke wie Rechte, die Krise habe ihre Verbundenheit mit der neoklassischen Lehre respektive der neoliberalen Tradition noch gestärkt.

Allerdings haben sich die Ökonomen dabei anders verhalten als die Neoliberalen – die im ersten Kapitel getroffene Unterscheidung beginnt nun zu greifen. Die Ökonomen geben bereitwillig zu, dass sie bestimmte Lehrmeinungen und geistige Orientierungen teilen. Ihr an einer renommierten Universität erworbener Doktortitel ist zugleich eine Art Mitgliedsausweis; kaum ein Ökonom würde in Zweifel ziehen, dass ein Theoriegebäude namens Wirtschaftswissenschaft existiert. Entsprechend einfach wird sich nachweisen lassen, dass sie ihre Positionen nach der Krise nicht revidiert haben. Think-Tank-Vertreter, Publizisten und Politiker hingegen bekennen sich in derart schwierigen Zeiten weniger gern zu einer klar definierten Reihe von Positionen. (In Kapitel 6 werde ich die These vertreten, dass der Neoliberalismus auf Krisen mit einer mehrgleisigen, unterschiedliche Positionen umfassenden Strategie reagiert.) Die Grundannahme der Theorie der kognitiven Dissonanz, dass Menschen trotz schmerzhafter Widerlegung an ihren Überzeugungen festhalten, wird sich anhand der Neoliberalen folglich weniger leicht belegen lassen. Insofern wird das Gebot, beide Gruppen separat zu behandeln, auch hier der Aufklärung dienen.

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