Kitabı oku: «Untote leben länger», sayfa 7

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Der Neoliberalismus, die Krise und die Doktrin der doppelten Wahrheit

Unabhängig von ihrer Ausrichtung sind alle politischen Bewegungen häufig gezwungen, etwas zu bestreiten, was sie in der Vergangenheit selbst behauptet haben. Wäre Politik das Reich der völligen Konsequenz, jener »Plage der Kleingeister« (Ralph Waldo Emerson), dann würden Fanatiker die Welt regieren. Dennoch scheint im Neoliberalen Denkkollektiv etwas sehr Merkwürdiges vor sich zu gehen, das meines Erachtens mit Blick auf die Doktrin der »doppelten Wahrheit« erklärbar, wenn nicht sogar gänzlich nachvollziehbar wird.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht hier nicht um die platonische Lehre von der »edlen Lüge« oder um die Reflexionen des lateinischen Averroismus über die Spannung zwischen philosophischer Vernunft und Glauben. Gemeint ist auch nicht das Orwell’sche »Doppeldenk«, das eher eine Verdrehung von Wortbedeutungen durch den Staat bezeichnet. Es könnte ein gewisser Zusammenhang zum Denken von Leo Strauss bestehen – dem zufolge »alle Philosophen […] die politische Situation der Philosophie berücksichtigen müssen, also die Frage, was gesagt werden kann und was unter Verschluss gehalten werden muss«, wie es im Cambridge Companion to Leo Strauss heißt –, doch Ermittlungen zu einer möglichen Chicago Connection zwischen seinen Schriften und den Neoliberalen würden angesichts der vielen noch zu behandelnden Themen zu weit führen.92 Worum es hier geht, ist die These, dass ein Denkkollektiv der aus seinem Politikverständnis folgenden Notwendigkeit nachgibt, eine exoterische Version seiner Lehre für die breite Masse zu pflegen – da dies sicherer ist und der Gesellschaft letztlich zugutekommt –, aber zugleich an einer esoterischen Version für eine kleine geschlossene Elite festzuhalten, die es als Fackelträger seines Wissens betrachtet. Beide behandeln ähnliche Themen, doch auf den ersten Blick scheint die exoterische der esoterischen Version in etlichen Punkten zu widersprechen. Es wird zu prüfen sein, ob diese scheinbaren Widersprüche weniger einem Zynismus entspringen, wie er häufig den politischen Karrieristen kennzeichnet, sondern sich organisch aus den Grundpositionen des Denkkollektivs ergeben.

Dass das NDK, höflich formuliert, etliche Paradoxien aufweist, ist nicht unbemerkt geblieben. Das beginnt bei dem merkwürdigen Verhalten, auf das wir bereits hingewiesen haben: Von den Dreißiger- bis zu den Fünfzigerjahren akzeptierten seine Vertreter das Präfix »neo« für ihr Unternehmen, nur um danach, allen gegenteiligen Beweisen zum Trotz, jede Abweichung von einem altehrwürdigen »Liberalismus« zu bestreiten. Die Kontinuitätsbehauptung wurde zur exoterischen Erzählung, während das »neo« eine esoterische Charakterisierung blieb. Doch der Gegensatz zum Liberalismus kehrte darüber hinaus in einer Vielzahl scheinbar unvereinbarer Positionen wieder: Anstatt sich wechselseitig zu bedingen, soll sich Demokratie nur einseitig durch Marktwettbewerb sichern lassen; anstatt einer moralischen Ordnung zu entspringen, soll ungehinderte Wirtschaftstätigkeit die politische Freiheit gewährleisten. Wobei die MPS selbst seltsamerweise noch einmal einen ganz anderen Umgang mit Demokratie und Freiheit pflegte.93

Viele der im vorliegenden Buch dokumentierten Widersprüche in seiner Konzeption der »guten Gesellschaft« hat das Neoliberale Denkkollektiv dadurch zu bändigen versucht, dass es einfach beides zugleich vertritt: Es warnt eindringlich vor den Gefahren einer Ausweitung der Staatstätigkeit – und hält gleichzeitig den von ihm selbst angestrebten starken Staat dank irgendeiner »natürlichen« Regulierung für unbedenklich. Es präsentiert den »freien Markt« als bequemen Informationsgenerator und -vermittler – und führt gleichzeitig in der Realität einen hartnäckigen und gnadenlosen »Krieg der Ideen«. Es behauptet, sein Programm werde zu ungebremstem Wirtschaftswachstum und allgemeiner Wohlfahrt führen – und erklärt gleichzeitig, kein Mensch könne so etwas wirklich wissen, weshalb man das Programm nicht durch die zu erwartenden Ergebnisse rechtfertigen dürfe. Es stellt den Markt als etwas Natürliches dar – das gleichzeitig durch beflissene Sorge beständig neu hergestellt werden muss. Es zeichnet den neoliberalen Markt als die Krönung aller menschlichen Institutionen – und erklärt gleichzeitig, er sei für sich genommen unzureichend, um transökonomische Werte politischer, sozialer, religiöser und kultureller Art hervorzubringen und zu bewahren. »Neoliberale Schriften über Allokation wechseln beständig zwischen einem libertären und einem utilitaristischen Vokabular, die mitunter in ein- und demselben Text oder Absatz als austauschbar erscheinen.«94 Diese Fähigkeit zur schwindelerregenden Kehrtwende von einem Absatz zum nächsten sollte als eine politische Technik des NDK betrachtet werden.

Ein solches Wuchern von Widersprüchen lässt sich nicht einfach auf Pluralismus, ungenügende Kritik oder Gedankenlosigkeit zurückführen. Wenige politische Lehren sind einer so anhaltenden internen Kritik unterzogen worden wie der Neoliberalismus in der Mont Pèlerin Society. Auch wenn alle Systeme im Zuge ihres Alterns gewisse innere Widersprüche zeigen, verweisen die genannten Ungereimtheiten offenbar auf strukturelle Probleme innerhalb des neoliberalen Programms, denen in der jüngeren Vergangenheit mit dem Prinzip der doppelten Wahrheit begegnet wurde. Drei solcher Widersprüche, die für ein Verständnis der Krise zentral sein dürften, sollen hier untersucht werden: erstens, dass eine liberalen Idealen verpflichtete Organisation sich zum Rückgriff auf illiberale Verfahren und Praktiken genötigt sah; zweitens, dass eine Organisation, die spontane Ordnungen für das non plus ultra der menschlichen Zivilisation hält, sich selbst strenger Reglementierung und Kontrolle unterwerfen musste; und drittens, dass eine Organisation, die sich dem rationalen Diskurs über einen als überlegenen Informationsprozessor verstandenen Markt verschrieben hat, schließlich zur Befürwortung und Förderung von Unwissenheit gelangte. Das sind derart widersprüchliche Positionen, derart eklatante Verstöße gegen die intellektuellen Anstandsregeln, dass man unmöglich annehmen kann, dass sie den Protagonisten selbst entgangen sein könnten. Es lässt sich auch historisch belegen, dass dies nicht der Fall war.

1. Der Illiberalismus und die hierarchische Kontrolle der MPS

Kann ein liberales politisches Programm durch offene Diskussion mit allen Interessierten entwickelt und verfolgt werden? Hayek, von einem komplexen Verständnis der Wissenssoziologie geleitet, lehnte dies in der MPS von Anfang an ab. Als er 1946 durch die Vereinigten Staaten tourte, um Unterstützung für seine neue Gesellschaft zusammenzutrommeln, erklärte er ausdrücklich, er verwende »die Bezeichnung Akademie im ursprünglichen Sinne einer geschlossenen Gesellschaft, deren Mitglieder durch gemeinsame Überzeugungen verbunden sind und versuchen, diese gemeinsame Philosophie auszuarbeiten und zu verbreiten«.95 Der Verweis auf Platons Akademie war nicht unbedenklich, wie Hayek zweifellos wusste; andere Mitglieder haben sich ebenfalls auf sie berufen, wann immer der Charakter der MPS als einer geschlossenen Geheimgesellschaft angesprochen wurde. Hayek konnte sich durchsetzen: Anwerbung, Teilnahme und Mitgliedschaft wurden von Anfang an streng überwacht. Damit stellt sich allerdings in drastischer Weise die Frage, ob die MPS selbst praktizierte, was sie offiziell predigte. Dieses Problem wurde gleich 1947 von einem ihrer berühmten Mitglieder angeschnitten: von Karl Popper.

Popper hatte gerade Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945), eine Abrechnung mit Platon, Hegel und Marx, veröffentlicht, und war bereits ein enger Verbündeter Hayeks, der sich für seine Einstellung an der London School of Economics verwendete. Bekanntlich sah Popper, in Übereinstimmung mit seiner einflussreichen Definition von Wissenschaft als eines ständigen Prozesses von Hypothesen und Widerlegung, den einzig richtigen Weg zu politischem Fortschritt in einer Ordnung der offenen Kritik und Debatte. Es ist bemerkenswert, dass er dies gegenüber Hayek beinahe sofort, nachdem er dessen Exposé für die neue Organisation erhalten hatte, geltend machte:

»Für eine solche Akademie wäre es meines Erachtens vorteilhaft, ja notwendig, die Beteiligung einiger Personen sicherzustellen, die als Sozialisten bekannt sind oder dem Sozialismus nahestehen […]. Wie Sie sich erinnern werden, bin ich immer für eine Versöhnung von Liberalen und Sozialisten eingetreten […]. Das heißt selbstverständlich nicht, dass man die Hervorhebung der Gefahren des Sozialismus (Gefahren für die Freiheit) unterbinden oder abschwächen sollte. Im Gegenteil […]. Mir kam der Gedanke, Sie könnten mich vielleicht nach Namen von Sozialisten fragen, die man einladen könnte; und ich muss gestehen, dass mir keine einfallen.«96

Ob mangels »geeigneter« Kandidaten oder aufgrund von Hayeks Unnachgiebigkeit, eine solche Meinungsvielfalt wurde auf den MPS-Treffen nie zugelassen. Sämtliche Diskussionen wurden auf einen kleinen Kreis politisch Getreuer beschränkt, die häufig weniger eine gemeinsame Utopie verband als das, was sie ablehnten. Popper wandte sich auf den ersten MPS-Versammlungen weiterhin gegen die Vorstellung, eine fruchtbare politische Diskussion erfordere die Vorauswahl der Beteiligten nach Maßgabe ideologischer Homogenität – oder »gemeinsamer Grundannahmen«, wie es vornehmer hieß –, wurde aber letztlich ignoriert.97 Die MPS entwickelte sich folglich schnell zu einer geschlossenen Gesellschaft mit relativ strengen ideologischen Aufnahmekriterien.

Das wirft die heikle Frage auf, ob die »offene Gesellschaft« tatsächlich so funktioniert, wie von Popper geschildert und vom NDK in feierlichen Momenten bis heute beschworen. Viele Autoren haben detailliert gezeigt, wie sich Poppers Vision als unvereinbar mit der von Hayek erwies; viele Wissenschaftsphilosophen haben sein Verständnis der Funktionsweise von Wissenschaft zurückgewiesen.98 Doch Popper ahnte zumindest selbst, dass seine jugendliche Begeisterung für grenzenlose Toleranz gegenüber Kritik in vielen Konstellationen wie denen, die die MPS laut Gründungsauftrag bekämpfen sollte, zu nichts führte. Zum Beispiel erkannte er in einer langen Fußnote in Die offene Gesellschaft die Paradoxien von Toleranz und Demokratie an (»Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz«; es kann sich »die Mehrheit zur Herrschaft eines Tyrannen entschließen«), zu deren Lösung er wenig anzubieten hatte. Zu dieser Zeit liebäugelte er allerdings bereits mit Hayeks »Lösung«: Die Mitglieder der Offenen Gesellschaft mussten auf ihre Zustimmung zu einem »Mindestmaß an gemeinsamer Philosophie« überprüft werden, auch wenn er die daraus folgenden Auswahlkriterien nie so explizit darlegte wie Hayek.99

Hier sehen wir, wie eine für den Neoliberalismus der MPS charakteristische »doppelte Wahrheit« Gestalt annimmt. Nach außen stellten sich Neoliberale als Fortführer des klassischen Liberalismus dar und priesen eine tolerante, offene Gesellschaft, in der jede Position unvoreingenommen angehört und empirisch geprüft wird. Hayeks Weg zur Knechtschaft, den »Sozialisten in allen Parteien« gewidmet, folgt diesem Register. Zwischen unterschiedlichen Ansichten sollten Wettstreit und wechselseitiges Kritisieren herrschen. Jeder, so hieß es, sei zur Teilnahme daran eingeladen. Daneben existierte jedoch ein kleiner Kreis von MPS-Insidern, denen die Tragweite der Paradoxien von Toleranz und Demokratie bewusst war. Folglich betrieben sie ihr Denkkollektiv als eine exklusive hierarchische Organisation, bestehend aus ideologisch handverlesenen Mitgliedern, die konkurrierende Weltbilder nur aus den völlig karikaturhaften Darstellungen ihrer Glaubensgenossen kannten. Das esoterische Wissen verstieß gegen die eigenen Regeln: Ein Liberalismus für das 21. Jahrhundert konnte nur von einer hoffnungslos illiberalen Organisation ausgebrütet und verfochten werden. Der Preis der Aufnahme bestand auch in der Initiation in die doppelte Wahrheit des »Mindestmaßes an gemeinsamer Philosophie«: Nach langen Lehrjahren konnten Eingeweihte mit dieser esoterischen Doktrin leben. Außenstehende mussten davon nichts wissen und sollten stattdessen an der behaglichen Vorstellung festhalten, Liberalismus bedeute toleranten Dialog in der offenen Gesellschaft – um Mitgliedschaft in der MPS brauchten sie sich natürlich gar nicht erst zu bewerben.

2. Die MPS als eine reglementierte und gesteuerte Gesellschaft, die der Lehre von der »spontanen Ordnung« verpflichtet ist

Wie im vorherigen Fall wurde auch dieser Widerspruch zuerst von MPS-Mitgliedern selbst angesprochen. Das Problem lag auf der Hand: Wenn die Marktwirtschaft eine so überlegene Ordnung war wie von den Neoliberalen behauptet, warum hatte sie dann nicht alle anderen Wirtschaftsformen längst auf natürlichem Wege bezwungen? Weshalb hatte sie nicht den Geist des Liberalismus heraufbeschworen, der ihr Aufblühen garantiert hätte? Wozu brauchte es eigentlich die Stoßtruppen des Neoliberalen Denkkollektivs? Klassische Liberale hatten eine konsistente Position vertreten: Ihre Ordnung existierte bereits oder würde zwangsläufig kommen, also konnten sie sich zurücklehnen und den unausweichlichen Lauf der Geschichte genießen. Neoliberale lehnten dies zugunsten einer aktivistischen Haltung ab, handelten sich eben damit aber einen lästigen theoretischen Widerspruch ein: Sie verspotteten den unverfrorenen Willen zur Planung, hielten ihren eigenen Willen zur Macht aber für zutiefst ehrenwert.

Die erste Antwort auf das Problem stammte von Milton Friedman und James M. Buchanan. Der moderne Staat, so ihre Erzählung, sei ein Irrweg in der Geschichte der Zivilisation, da unablässig bestrebt, seine beträchtliche Macht als Hebel für einen weiteren Machtzuwachs einzusetzen, weshalb er sich wie ein Krebsgeschwür im gesunden Organismus der Marktgesellschaft ausbreite. Besonders Friedman meinte, wenn es ihm nur gelinge, dies der Öffentlichkeit einfach und plausibel, durch kurze Sätze, griffige Vorschläge und prägnante Losungen klarzumachen, könne er sie von seinem Bild der natürlichen Ordnung überzeugen und für die politischen Vorschläge des NDK gewinnen.100 Alles, was es zur Korrektur der historischen Fehlentwicklung brauche, seien mediale Bilder eines kleinen tapferen David, der dem Goliath namens Staat die Stirn bietet. Friedman war ein Meister der gespielten Gemeinsamkeit: Ich will dasselbe wie ihr, aber vom Staat werden wir es nie bekommen. Ich dagegen kann es verwirklichen.101 An diesem Rezept hielt er unbeirrbar fest. Mit immenser Energie arbeitete er an Büchern für die breite Masse, einer Fernsehsendung, seiner Newsweek-Kolumne und lieferte sich mit unterschiedlichsten Gegnern in aller Welt unermüdlich Debatten. Friedman stiftete sogar sein Erbe für den Zweck, das öffentliche Grundschulwesen zu schwächen, durch das der Staat ungezählte zarte Geister einer Gehirnwäsche unterzogen hätte. Das Volk war ein gestaltloser Klumpen Lehm, den der charismatische Experte formen musste. Von den Sechziger- bis zu den Neunzigerjahren trat Friedman de facto als das öffentliche Gesicht des NDK in Amerika auf, doch für den Geschmack der härter gesottenen MPS-Mitglieder war er zu sehr unverbesserlicher Optimist und machte zu viele Zugeständnisse an die »Demokratie«.

Die zweite, komplexere Antwort stammte von Hayek. Wie erst recht spät in seiner Karriere deutlich wurde, versuchte er dem Gedanken eines natürlichen, dem Neoliberalismus günstigen Telos der Geschichte treu zu bleiben, dessen Realisierung jedoch durch einen Verrat der Intellektuellen durchkreuzt werde. Diese »berufsmäßigen Ideenvermittler »attackierte er unerbittlich und berief die MPS als eine Gegenbewegung ein, die sie langfristig politisch neutralisieren sollte. Andere MPS-Mitglieder, von Bertrand de Jouvenel bis zu Raymond Aron, teilten diese Feindseligkeit. Dies setzte allerdings eine Dynamik in Gang, die Hayek schließlich zur Unterscheidung von legitimen und künstlichen Organisationen, von »Kosmos« und »Taxis«, nötigte. Die Taxis oder gemachte Ordnung war demnach »einfach« und bewusst mit Blick auf bestimmte Zwecke geschaffen. Der Kosmos, die spontane Ordnung, entstand organisch und ohne festgelegte Ziele, auch wenn er sein Fortbestehen der Fähigkeit verdankte, bestimmte gar nicht antizipierte Funktionen besser zu erfüllen. In einem Kosmos konnten die Beteiligten auch ohne Kenntnis oder Einsicht in die Regeln mit dem Strom schwimmen, in der Taxis dagegen musste man sie zu ihrer Einhaltung zumeist zwingen. In einer wie üblich subtilen Manier versah Hayek den Begriff der Taxis mit negativen Konnotationen und setzte ihn schließlich mit den staatlichen Institutionen gleich, während der Kosmos allerhand positive Konnotationen erhielt und sich unmerklich in Hayeks eigene neoliberale Konzeption des Marktes verwandelte.102

So weit bereiteten diese Definitionen keine Schwierigkeiten, doch die Frage, die Hayek wirklich umtrieb, auch wenn er sie nie wirklich direkt stellte, lautete: Was für eine »Ordnung« war die MPS, und was für eine Ordnung wollte das Neoliberale Denkkollektiv schaffen? Seine vorläufige Antwort verwischte zunächst die gerade getroffene scharfe Unterscheidung: Er erklärte, dass »zwar die Regeln, auf denen eine spontane Ordnung beruht, selbst auch spontanen Ursprungs sein können, dies aber nicht immer der Fall zu sein braucht. […] es ist möglich, dass eine Ordnung, die immer noch als spontan beschrieben werden müsste, auf Regeln beruht, die zur Gänze das Ergebnis eines bewussten Entwurfs sind. […] In jeder Gruppe von Menschen […] beruht die Zusammenarbeit stets sowohl auf spontaner Ordnung als auch auf bewusster Organisation.«103 Hier vermied Hayek die Feststellung, dass die MPS und das NDK schon deshalb nicht als spontane Ordnungen gelten konnten, weil sie auf Regeln beruhten, die nicht für alle Mitglieder dieselben waren, und sie einem gemeinsamen Zweck dienten. Einmal auseinandergenommen, erwies sich die russische Schachtelpuppe bloß als eine weitere ausgeklügelte und hierarchische politische Bewegung.

Doch vielleicht ließ sich dieses Problem entschärfen, sofern man die MPS als ein Amalgam aus Taxis und Kosmos betrachten konnte. Intentionale Regelungen können zweifellos unbeabsichtigte Folgen haben, und insofern weist beinahe jedes Phänomen Elemente von Kosmos und Taxis auf. Hayek befand indes, einen derartigen Mischmasch könne er nicht gutheißen: Es sei unmöglich,

»nicht nur die spontane Ordnung durch Organisation zu ersetzen und zugleich so viel wie möglich von den verstreuten Kenntnissen ihrer Mitglieder Gebrauch zu machen, sondern auch, diese Ordnung zu verbessern und zu berichtigen, indem man in sie durch direkte Befehle eingreift. Eine solche Kombination von spontaner Ordnung und Organisation einzuführen, kann niemals rational sein.«104

Da Hayek ursprünglich zeigen wollte, dass ein Kosmos von niemandem »rational« eingeführt wird, brach sein Konstrukt damit zusammen. Entweder bestand eine klare Trennlinie zwischen Kosmos und Taxis, und die MPS war ein Beispiel für Letztere, dann besaß sie nach Hayeks eigenem Maßstab keine Legitimität. Oder aber Kosmos und Taxis waren heillos miteinander verworren, dann gab es auch keine zuverlässige Methode der Trennung von »Staat und Markt«, und die Politik des NDK drohte sinnlos zu werden. Da dem Hayek-Flügel der Neoliberalen die Quadratur dieses Kreises nie gelang, musste er auf die Taktik der doppelten Wahrheit zurückgreifen. Nach außen werden neoliberale Denker als couragierte Einzelkämpfer dargestellt, die gegen sämtliche Kräfte des aufgeblähten Staates und partikularistischer Interessengruppen aufbegehren, in gelegentlichen Fällen von Übermut sogar gegen die »Kapitalisten«.105 Wie Löwenzahn, der nach einem Frühlingsregen aus dem Boden schießt, ohne dass ihn jemand gesät hätte, sind sie reiner Ausdruck des Kosmos. Doch nach der Einweihung in die Mysterien des NDK gelangen nur die loyalen Soldaten der Organisation nach oben, und das wissen sie auch. Die entscheidenden Kräfte hinter der neoliberalen Bewegung sind die Richard Finks, Leonard Reads und Antony Fishers dieser Welt, nicht irgendein Blogger in seinem Keller. Solche angestellten Funktionäre sind reinste Taxis – nur zugeben dürfen sie das nicht.

Die meiner Ansicht nach klügste und ehrlichste Auseinandersetzung mit diesem Spagat zwischen spontaner Ordnung und kalkulierter Politik stammt von George Stigler, einem MPS-Mitglied, das, obwohl ebenfalls Nobelpreisträger der Bank von Schweden, seltener zitiert wird. Dass sich sein Verständnis des Zwecks der Wirtschaftswissenschaft von anderen unterschied, ist in der mündlichen Überlieferung in Chicago seit Langem anerkannt:

MILTON FRIEDMAN: Da besteht kein Problem [der Vereinbarkeit ihrer jeweiligen Ansätze]. Es stimmt, dass George etwas ändern wollte.

AARON DIRECTOR: Aber er studierte die Dinge lieber, anstatt sie zu ändern.

MF: Zumindest zog er vor zu behaupten, dass er sie lieber studiert. […] Das war teilweise eine alte Differenz zwischen ihm und mir. […] Er betonte das gerne: »Ich will die Welt nur verstehen, Milton will sie verändern.«106

Stiglers selbstverleugnender Ritus war jedoch kein gewöhnlicher Fall von Zurückhaltung und Bescheidenheit des besonnenen Wissenschaftlers, sondern eine direkte Reaktion auf den hier behandelten Widerspruch. Er begriff, dass die verwegenen Eingriffe der Neoliberalen aus einer Asymmetrie in ihrer Theorie der Politik resultierten:

»Wenn ich Miltons Arbeit Revue passieren lasse, erinnere ich mich an keinen bedeutsamen Fall, in dem er Unternehmern Verhaltensanweisungen gegeben hätte […]. Eine solche Zurückhaltung kannte er allerdings nicht, wenn er dem Kongress und der Öffentlichkeit Ratschläge über Geldpolitik, Zölle, Bildungswesen, Mindestlöhne, die Vorteile einer Abschaffung der Kirchensteuer und einige andere Themen erteilte […]. Warum sollten Unternehmer – oder Kunden, Geldverleiher und andere Wirtschaftsakteure – ihre Interessen kennen und vertreten, Wähler und politische Koalitionen dagegen so stark auf unsere klugen, aufgeklärten Instruktionen angewiesen sein?«107

Stigler glaubte tatsächlich an den Markt der Ideen, die neoliberale Vorstellung par excellence: Die Öffentlichkeit kauft die Informationen, die sie will, und nimmt auf Grundlage optimaler Unwissenheit politische Positionen ein.108 Für Stigler gab es keine zwangsläufige historische Tendenz oder Teleologie in Richtung des neoliberalen Marktes. Friedmans (und Buchanans) Bemühungen um die Erziehung des gemeinen Volkes erscheinen in seinen Büchern als furchtbare Zeit- und Ressourcenverschwendung, sofern man dem neoliberalen Verständnis des Marktes – und von Politik als einem Marktphänomen – folgte. Doch worin bestand dann die Funktion des NDK? Stiglers Antwort war frappierend: Es sollte die maßgeblichen Eliten durch innovative wirtschaftliche und politische Doktrinen beeinflussen. Sobald man sie – vermutlich durch die äußeren Schichten der russischen Puppe – damit vertraut machte, würden sie darin ihr eigenes Interesse erkennen. Die MPS war demnach ein nobler Protagonist, ein intellektueller Unternehmer, der Produkte anbot, von denen die Kundschaft noch gar nicht wusste, dass sie sie braucht; und was sie verkaufte, waren Instrumente zur Infiltrierung des Staates sowie zu seiner Immunisierung gegen den Einfluss der optimal dummen Wählerschaft. Technokratische Eliten sollten den Staat neoliberal umbauen und dabei die Fiktion aufrechterhalten, »die Menschen« hätten das Sagen. Durch solche elitären Saboteure ließ sich die neoliberale Marktgesellschaft Stigler zufolge viel umfassender und effektiver verwirklichen als durch das geduldige Warten darauf, dass die wankelmütige Öffentlichkeit neoliberale Positionen übernimmt.109 Friedman und Buchanan agierten aus seiner Sicht riskant, weil sie nicht genügend Verachtung für die Demokratie hatten: Das neoliberale Programm implizierte einen Staatsstreich, nicht eine demokratische Gemeindeversammlung wie in Neuengland. Stigler wollte in der Tat die Welt verändern, aber in einer stärker machiavellistischen Manier als seine Gefährten.110 Anstatt auf den Staat nur zu schimpfen, legte er ein Handbuch für seine neoliberale Kaperung vor.

Stiglers Verständnis von Sinn und Zweck des NDK hat sich meines Erachtens nach den Achtzigerjahren durchgesetzt, und ein Grund dafür war, dass er die Doktrin der doppelten Wahrheit offen befürwortete, anstatt wie Friedman ängstlich um sie herumzuschleichen. Die MPS sollte die Eliten instruieren, während die äußeren Schichten der Schachtelpuppe die Öffentlichkeit berieseln. Für Fox News und das Wall Street Journal genügte die exoterische Erzählung von der spontanen Ordnung des Marktes; die Marschbefehle des NDK aber ergaben sich aus der esoterischen Doktrin einer gesellschaftlichen Transformation durch Umbau des Staates. Friedman war das öffentliche Gesicht, Stigler der Generalsekretär der Organisation. Für Ersteren war die MPS ein Debattierclub wie jeder andere; für Letzteren das Exekutivkomitee der kapitalistischen Insurrektion.

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