Kitabı oku: «Untote leben länger», sayfa 5

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Kurzer Abriss der neoliberalen Wirtschaftslehre

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich das neoliberale Projekt von anderen konservativen Denkströmungen dadurch unterschieden, dass es bewusst als ein vielschichtiges soziologisches Unternehmen der kontinuierlichen transnationalen Entwicklung, Verbreitung und Popularisierung von Lehren angelegt war, die sich mit der Zeit in Reaktion auf theoretische Einwände und äußere Ereignisse wandeln sollten. Es glich nie einem im Konzil von Trient festgelegten Katechismus, sondern bewies durchweg Flexibilität.48 Der Lackmustest für Neoliberale waren in der Regel bestimmte politische Ziele, die man ihnen in ihren Lehrjahren im Denkkollektiv eingeimpft hatte, doch selbst diese konnten Thema heikler Debatten sein. Gleichwohl brachte der Neoliberalismus als soziologisches Denkkollektiv schließlich eine relativ verbindliche Weltanschauung hervor, die mehr oder weniger verbindliche Auffassungen über Märkte und politische Ökonomie einschließt. In einem Buch über das Verhältnis der Neoliberalen zur Krise müssen diese Auffassungen natürlich ein zentrales Thema sein. Gewisse Kenntnisse darüber sind allein schon deshalb wichtig, weil sie uns vor der naiven Annahme bewahren, das neoliberale Krisenverständnis sei eine Art bibeltreuer »Marktfundamentalismus«.

Auch wenn geistige Gebrauchtwarenhändler auf der Rechten gerne lauthals bekunden, die »freie Marktwirtschaft« komme ihren religiösen Auffassungen entgegen (oder sogar umgekehrt), behindert es ein adäquates Verständnis, beides als »Fundamentalismus« gleichzusetzen – ein in der Linken leider zunehmend übliches Schimpfwort. Der Neoliberalismus weist keine Spur einer altertümlichen Religion auf; nicht nur, dass er über keinen Urtext verfügt, die Neoliberalen ziehen sich auch nicht auf einen Obskurantismus zurück, sosehr manche ihrer Sympathisanten dies offenbar auch getan haben mögen. Man wird sie nicht oft bei der Frage »Was würde Hayek tun?« ertappen. Vielmehr haben sie im Lauf der Zeit eine Reihe komplex verbundener und sich teilweise überschneidender Modelle hervorgebracht – etwa Ludwig Erhards »soziale Marktwirtschaft« und Herbert Gierschs kosmopolitischen Individualismus, Milton Friedmans »Monetarismus« und die Theorie der rationalen Erwartungen, Hayeks »spontane Ordnung« und James M. Buchanans konstitutionelle Ordnung, Gary Beckers »Humankapital« und Steven Levitts »Freakonomics«, den Klimaskeptizismus des Heartland Institute und das Geoengineering des American Enterprise Institute, oder – ein besonders passendes Paar – Hayeks »Wirtschaftsrechnung im Sozialismus« und die Chicagoer Effizienzmarkthypothese. Etliche klassischliberale Lehren wurden im Zuge dessen über Bord geworfen, ohne dies klar zu benennen – so etwa die Ablehnung der politisch bedenklichen Macht von Monopolen, die Skepsis gegenüber starken geistigen Eigentumsrechten oder die Kritik am Finanzsektor als einer Quelle makroökonomischer Störungen.49

Wer kein Historiker ist, bekommt das Phänomen Neoliberalismus angesichts dieser Wandlungsfähigkeit nur schwer zu fassen, und wer eine bündige Definition sucht, wird kurzerhand kapitulieren. Skeptiker spotten oft, wenn sie von einer neoliberalen Doktrin hören, die sich gerade durch Veränderbarkeit auszeichnen soll, doch sie sollten wenigstens zur Kenntnis nehmen, dass die Wissenschaftsforschung keine Bedenken dagegen hat, auch in solchem Wandel eine funktionale Identität auszumachen, indem sie Institutionen und wechselnde – aber der Zahl nach begrenzte – Akteure untersucht und dies mit altmodischer Ideengeschichte kombiniert. Was bedeutete es zum Beispiel, sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts mit Quantenphysik zu befassen? Das Feld war nicht auf einige an schweren Apparaten arbeitende Forschungsteams und eine Handvoll Genies auf der Suche nach der Großen vereinheitlichten Theorie beschränkt, sondern reichte bis zu Hippie-Kommunen und der New-Age-Szene.50 Solange wir ebenfalls über mehrere Einschlusskriterien verfügen und die Akteure und Lehren des Neoliberalen Denkkollektivs so definieren, dass sie zugleich exklusive Organisationen wie die MPS und bestimmte Think-Tanks, allgemeinverständliche Grundlagentexte und Archivbestände der Vordenker umfasst, steht einer vorläufigen Charakterisierung des Neoliberalismus nichts im Wege.

Kluge Historiker haben eingewandt, ein derart vielgestaltiges Wesen könnte sich einer seriösen Analyse entziehen. Festzuhalten ist jedoch, dass die neoliberalen Bodentruppen offenbar durchaus in der Lage sind, Gleichgesinnte zu erkennen, den intellektuellen Austausch mit Verbündeten zu fördern und – wichtiger noch – selbst inmitten der Weltwirtschaftskrise politische Bewegungen mit klaren Zielen und Argumenten zu organisieren und zu finanzieren. Deutlich wird dies etwa an Phänomenen wie der Dämonisierung der Hypothekenbanken Freddie Mac und Fannie Mae, der Blockade von Finanzmarktreformen auf nationaler wie internationaler Ebene, den Aufrufen »populistischer« rechter Politiker zum Klassenkampf von oben im öffentlichen Sektor, an der umfassenden neoliberalen Definitionsmacht über das Problem des Klimawandels, dem Bestsellerstatus von Hayeks Weg zur Knechtschaft, den Astroturfing-Kampagnen der Tea Party und vor allem an einer klaren Verschiebung im öffentlichen Bewusstsein: Nicht mehr Banken und Hedge-Fonds gelten als Ursache der Krise, sondern eine unverantwortliche Finanzpolitik des Staates. All das zeugt von einem Maß an Kohärenz und Beständigkeit, das sowohl der Kontinuität der intellektuellen Tradition als auch beharrlichen Abgrenzungen der Neoliberalen entspringt und durchaus analytische Verallgemeinerungen zulässt.

Sicherlich verfügen die Neoliberalen nicht über eine fixe Utopie, die ihnen bei sämtlichen politischen Schritten als Kompass dient. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil sie sich nicht einmal über Grundbegriffe wie »Markt« und »Freiheit« völlig einig sind, wie wir später sehen werden. Man kann sogar Neil Brenner et al. und Naomi Klein zustimmen, dass ihr bevorzugtes Handlungsfeld die Krise ist, da sie mehr Spielraum für kühne »Reform«-Experimente bietet, die später nur weitere Krisen verursachen.51 Dennoch löst sich der Neoliberalismus nicht in stupiden Empirismus oder pragmatische Beliebigkeit auf. Sein Umgang mit Krisen offenbart eine gewisse beharrliche Logik, die von direkter Bedeutung ist, um seine unerwartete Stärke in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise zu begreifen.

Von dieser Annahme ausgehend versuchen wir das circa bis zu den Achtzigerjahren entstandene neoliberale Gedankengebäude telegrammartig darzustellen, wobei ein Anspruch auf Letztgültigkeit naturgemäß nicht erhoben werden kann. Wie die Neoliberalen selbst werden wir dabei disziplinäre Grenzen überschreiten. Die folgenden dreizehn Gebote wurden auch deshalb ausgewählt, weil sie für die Entwicklungen während der 2007 einsetzenden Krisenperiode unmittelbare Relevanz besitzen. Die Frage, wer – inner- wie außerhalb der MPS – wann welchen Gedanken vertreten hat, umgehen wir zugunsten knapper Kernaussagen, bei denen wir von Details und vollständigen Nachweisen zudem absehen.52

[1] Entgegen der klassisch-liberalen Lehre geht der Neoliberalismus von dem Eingeständnis aus, dass sich seine Vision der guten Gesellschaft nur durch die Konstruktion ihrer Voraussetzungen verwirklichen lässt – sie ergeben sich nicht einfach so ohne konzertierte politische Anstrengungen und Organisation. Wie Foucault 1978 hellsichtig bemerkte: »Der Neoliberalismus stellt sich […] nicht unter das Zeichen des Laissezfaire, sondern im Gegenteil unter das Zeichen einer Wachsamkeit, einer Aktivität, einer permanenten Intervention.«53 Die Aufforderung, im Angesicht mangelnder epistemischer Sicherheit zu handeln, bildet den Kern des »Konstruktivismus« wie auch des Neoliberalen Denkkollektivs. Der klassische Liberalismus lehnte dies ab: Ihm stellte sich, wie Sheldon Wolin einmal schrieb, »das Problem als eines der Versöhnung von Freiheit und Autorität dar, und er löste es, indem er Autorität im Namen persönlicher Freiheit zerstörte und durch Gesellschaft ersetzte«.54 Die Neoliberalen weisen ›Gesellschaft‹ als Lösung zurück und errichten stattdessen neue Formen von Autorität. Weiter unten werden wir sehen, wie sich dies in verschiedene Argumente für einen starken Staat übersetzt, der eine stabile Marktgesellschaft hervorbringen und schützen soll.

[2] Diese konstruktivistische Orientierung wirft die diffizile Frage nach der ontologischen Beschaffenheit des neoliberalen Marktes auf. Welche Art von »Markt« wollen Neoliberale fördern und schützen? Während die Chicago School mit dem Versuch Karriere machte, eine Variante der neoklassischen Wirtschaftstheorie mit neoliberalen Prinzipien zu verbinden, haben unterschiedliche Fraktionen der MPS den Markt ganz anders gefasst. So erkannte etwa der »radikal-subjektivistische« Flügel der Österreichischen Schule seine Grundlage in der Dynamik erfinderischer Entrepreneure, von deren Produkten die Konsumenten noch gar nicht wissen, dass sie sie brauchen, da die Zukunft prinzipiell unerkennbar ist.55 Die in der MPS vielleicht vorherrschende (und später kulturell dominierende) Version geht auf Hayek selbst zurück: Er bediente sich wesentlich der Metaphern von Gehirn und Computer, um den »Markt« als einen jedem menschlichen Kopf überlegenen Informationsprozessor darzustellen.56 Diese Version beruht stark auf modernen erkenntnistheoretischen Annahmen, die zu der am engsten mit der neoliberalen Weltanschauung verbundenen philosophischen Position geworden sind.

Hier stoßen wir auf eine erste direkte Beziehung zum Narrativ über die globale Krise. Denn aus dieser Perspektive betrachtet enthalten Preise auf einem effizienten Markt alle relevanten Informationen und entziehen sich jeder Vorhersage. Der Markt sprengt demnach grundsätzlich die Fähigkeit des Staates zur Informationsverarbeitung, und dies ist die wesentliche Begründung dafür, dass der Sozialismus nicht funktionieren kann. Alle Versuche zur Überlistung des Marktes müssen scheitern – selbst wenn er sich in der Krise im freien Fall befindet. Allerdings ist dies mitnichten eine rein negative Lehre: Viele der Theorien und Algorithmen, mit deren Hilfe die obskuren, zur Krise führenden Finanzinstrumente und -praktiken entwickelt wurden, beruhen auf einer Fassung der Effizienzmarkthypothese.

Eine weitere, damit teilweise konkurrierende Marktdefinition entstammt dem deutschen Ordoliberalismus. Demnach muss ein funktionierender Marktwettbewerb direkt vom Staat organisiert, d. h. in unterschiedliche soziale Institutionen eingebettet werden.57 Anders als in der Literatur häufig behauptet wird, sind sich unsere Protagonisten in der entscheidenden Frage nach dem Wesen des Marktes somit gar nicht einig. Gewiss schwören sie nicht allesamt auf die neoklassische Lehre oder das kybernetische Marktverständnis. (Dies verweist erneut auf die im ersten Kapitel getroffene analytische Unterscheidung.)

Es mag unglaublich klingen, doch sowohl die neoklassische Tradition als auch das NDK sind in der analytischen Bestimmung von Struktur und Charakter der von beiden als »Markt« bezeichneten Erscheinung äußerst vage geblieben. Beide rücken ins Zentrum, was er angeblich tut, und kümmern sich kaum darum, was er tatsächlich ist. Den Neoliberalen ermöglicht dies ein Ausweichen vor dem fundamentalen Widerspruch zwischen ihren konstruktivistischen Tendenzen und der durchgängigen Berufung auf einen monolithischen Markt, der während der gesamten Geschichte und überall auf der Welt existiert habe – denn wie sollte »gemacht« sein, was ewig und unwandelbar ist? Sie lösen dieses Problem durch die zunehmende Verwischung aller Unterschiede zwischen Staat, Gesellschaft und Markt, während sie zugleich behaupten, ihr politisches Projekt ziele auf die Erneuerung der Gesellschaft durch Unterordnung unter den Markt.

[3] Auch ohne umfassenden Konsens über das »wirkliche« Wesen des Marktes konnten sich die Neoliberalen darauf einigen, die von ihnen angestrebte Marktgesellschaft in der öffentlichen Auseinandersetzung als einen »natürlichen« und unentrinnbaren Zustand darzustellen. Das neoliberale Denken bringt folglich ein eigentümliches Hybrid aus »Konstruiertem« und »Natürlichem« hervor, das den Markt vielfältige Gestalten annehmen lässt. Praktisch erforderte dies eine Integration naturwissenschaftlicher Metaphern in das neoliberale Narrativ. (Dies wird in Kapitel 6 eingehender untersucht.) Bemerkenswert ist dabei, dass MPS-Mitglieder den Markt als ein evolutionäres Phänomen zu zeichnen begannen, schon lange bevor die Biologie die Physik als die für das moderne Weltbild wichtigste Wissenschaft ablöste.58 Wenn der Markt nur ein ausgefeilter Informationsprozessor war, dann das Gen in seiner biologischen Nische ebenso. Selbst unschuldige, ahnungslose Tiere waren demnach wie neoklassische Wirtschaftssubjekte auf die Maximierung alles nur Erdenklichen aus, und in den kognitionswissenschaftlichen Modellen der »Neuroökonomie« traten sogar Neuronen als Marktteilnehmer auf. »Biomacht« wird dazu eingesetzt, die Natur und unsere Körper für Marktsignale empfänglicher zu machen.59 Durch einen frühzeitigen Dialog gewann der Neoliberalismus beträchtlichen Einfluss auf Gebiete wie die »evolutionäre Psychologie«, die Soziologie der Netzwerke, Ökologie, Tierethologie, Linguistik, Kybernetik und selbst auf die Wissenschaftsforschung. Weit über eine ökonomische Lehrmeinung hinaus wurde er so zu einer umfassenden Weltanschauung.60

Mit Blick auf die Krise hat ein Flügel der Neoliberalen naturwissenschaftliche Konzepte der »Komplexität« in den Dienst der Behauptung gestellt, dass sich Märkte einer Steuerung systemischer Risiken generell entziehen.61 Allerdings fasst der Neoliberalismus das Verhältnis von Markt und Natur grundsätzlich anders als die neoklassische Standardtheorie. Kurz gesagt vertritt die Neoklassik eine deutlich statischere Konzeption des Marktes; vielen ihrer Darstellungen zufolge kann der Markt »unvollkommen« sein und »versagen«. Als Grund dafür gelten zumeist unerklärte natürliche Eigenschaften der gehandelten Waren, die unter anderem als »Externalitäten« verbucht werden. Neoliberale lehnen solche Verweise auf Defekte oder Störungen gewöhnlich ab und vertreten stattdessen ein Narrativ, demzufolge Evolution und/oder »spontane Ordnung« den Markt in immer komplexere, menschlicher Erkenntnis mitunter nicht zugängliche Zustände der Selbstentfaltung befördern. Neoklassischen Erklärungen der Krise durch ein »Marktversagen« hat das Neoliberale Denkkollektiv folgerichtig rundweg eine Absage erteilt.

[4] Ein primäres Ziel des neoliberalen Projekts besteht in der Neudefinition von Gestalt und Funktionen des Staates, keineswegs in seiner Zerstörung. Entsprechend schwierig gestaltet sich das gelegentliche Bündnis der Neoliberalen mit den Anarchisten. Der Widerspruch, mit dem sie ständig zu kämpfen haben, besteht darin, dass ein starker Staat ihr Programm gleichermaßen vereiteln wie implementieren kann; daher das Interesse an neuen Formen technokratischer Steuerung, die den idealen Markt vor unbotmäßiger politischer Einmischung schützen sollen. In ihrer Rhetorik und Praxis haben Neoliberale die in der Theorie durchaus anerkannte Bedeutung eines starken Staates mit beträchtlichem Aufwand zu verdecken versucht. Insofern ist die Durchsetzung neoliberaler Politik »eine sich selbst widersprechende Form verleugneter Regulierung«.62 Daraus folgt unter anderem, dass die Demokratie, von Neoliberalen mit einer gewissen Ambivalenz als geeigneter staatlicher Rahmen für den idealen Markt gutgeheißen, zugleich relativ ohnmächtig bleiben muss, sodass die Bürger kaum etwas ändern können.63

Eine Möglichkeit, Demokratie zu Zwecken der Machtausübung einzuschränken, bietet die Unterwerfung des Staates unter eine Marktlogik, die vorgibt, man könne »Bürger« durch »Kunden« ersetzen (vgl. Punkt 5). So versuchen die Neoliberalen den Staat im Namen von Transparenz und Verantwortlichkeit durch diverse Evaluationstechniken umzustrukturieren, ihn durch ein neues Management zu rationalisieren oder – besser noch – staatliche Aufgaben auf Vertragsbasis an Privatunternehmen zu übertragen.64 Auch dies betrifft direkt die Krise: Der Finanzsektor war einer der Hauptschauplätze der Auslagerung staatlicher Aufsichtsfunktionen in quasi-private Institutionen wie etwa die Ratingagenturen Moody’s, Fitch und Standard & Poor’s. Auch die »Privatisierung« der in den Sechzigerjahren zunächst vom Staat betriebenen Hypothekenverbriefung gilt inzwischen als wichtiger Grund dafür, dass der Finanzsektor auf Abwege geriet.

Eines der großen Täuschungsmanöver, mit dem die Neoliberalen ihre Rolle an der Macht verschleiern, ist die Darstellung einer solchen »Vermarktung« staatlicher Funktionen als Verkleinerung des Staates – wenn überhaupt, werden die Staatsapparate unter neoliberalen Regimes noch ausgreifender.65 Ein anderes Manöver besteht in der Erfindung zahlloser Methoden zur »Fesselung« des Staates, die jegliche Veränderung durch Verfassungsmodifikationen verbieten (wie in der »Public-Choice«-Theorie von James M. Buchanan). In der Praxis läuft die »Deregulierung« stets auf eine lediglich anderen Direktiven folgende »Reregulierung« hinaus.

[5] Die Skepsis angesichts der mangelnden Steuerbarkeit der Demokratie tritt immer wieder hinter der Erkenntnis zurück, dass der neoliberale marktförmige Staat der Legitimation durch die Bevölkerung bedarf. Darin liegt ein heikles Problem für Neoliberale: Wie lässt sich der Anschein von Freiheit als Zwanglosigkeit aufrechterhalten, wenn es in Wirklichkeit unwahrscheinlich ist, dass die Mehrheit freiwillig die neoliberale Version des Staates wählt? Wie Hayek einmal schrieb: »Es wäre unmöglich zu behaupten, daß eine freie Gesellschaft immer und notwendigerweise Werte entwickelt, die wir billigen würden, oder auch nur, wie wir sehen werden, daß sie Werte erhält, die mit der Erhaltung der Freiheit vereinbar sind.«66 In gewissem Sinn bietet das NDK selbst eine praktische Lösung für das Problem: Die russische Schachtelpuppe beinhaltet auch einen bewussten Eingriff, der die Kultur durch Entwaffnung des politischen Gegners in eine für die Neoliberalen günstige Richtung verschieben soll. Da eben dies aber als Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzbarkeit des individuellen Willens gewertet werden könnte, haben die Neoliberalen auch eine theoretische »Lösung« für das Problem entwickelt.

Den nicht zu duldenden Widerspruch einer demokratischen Ablehnung ihres idealen Staates versuchen Neoliberale dadurch zu überwinden, dass sie Politik so behandeln, als ob sie ein Markt wäre, und eine wirtschaftliche Theorie der »Demokratie« vertreten. Im Extremfall bezeichnet der Begriff des Bürgers dann nicht mehr als einen Kunden staatlicher Dienstleistungen.67 Das erleichtert die Anwendung neoklassischer wirtschaftlicher Modelle auf vormals politische Themen, erklärt aber auch, warum die neoliberale Bewegung ihre politische Macht durch ein Agieren innerhalb des Staates zu konsolidieren versuchen muss. Dabei wird die abstrakte »Herrschaft des Gesetzes« häufig mit der neoliberalen Vision eines idealen Marktes gleichgesetzt oder ihr untergeordnet. Die Form des Nachtwächterstaates erfährt eine vollständige Zurückweisung: Es gibt keine separate Sphäre des Marktes, die wie ehedem von der der Zivilgesellschaft abgetrennt wäre. Alles gilt als Freiwild, das vermarktet werden kann.

Dass das Recht in ihrem idealen Staat ein System von Macht und Herrschaft ist, bestreiten Neoliberale unter größten Verrenkungen. Es soll vielmehr ein System neutraler allgemeiner Regeln darstellen, die für jeden gleichermaßen gelten und keineswegs auf den politischen Zielen einer bestimmten Gruppe (nämlich der Neoliberalen) beruhen: Anarchisten wie Rothbard gründen es auf eine Art Naturrecht, die Anhänger einer Public-Choice-Theorie à la Buchanan auf die Vertragstheorie, die Chicago School auf eine Welt, in der die Ökonomie mit der Gesamtheit der menschlichen Existenz zusammenfällt, und Hayek auf seine höchst eigentümliche Vorstellung von kultureller Evolution.68 Im alltäglichen Neoliberalismus scheint die Chicagoer Version das Rennen zu machen. In der jüngsten Krise wurde allerdings auch Hayeks Theorie wieder ausgemottet, wie wir in Kapitel 6 sehen werden.

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