Kitabı oku: «Stille Pfade», sayfa 5
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Entspannt trat Ismail vor dem Hinkenden Stoffel auf den Gehsteig, blickte in die Sonne und schloss die Augen. Er atmete tief durch. Nach der düsteren, wolkenverhangenen Nacht erschien Freistadt in diesem Sonnenschein wie eine völlig andere Stadt. Die Spatzen sangen auf den Dächern, hüpften auf den Dachrinnen umher und wann immer sie konnten, flatterten diese runden, doch flinken, Spitzbuben zwischen die Bewohner auf die Straße und pickten blitzschnell alles auf, was fallengelassen wurde. Die Stadt war wie neu geboren. Ein Gefühl, welches der Waldläufer nach einer Nacht in einem richtigen Bett und einem heißen Bad am Morgen, in gewissem Maß teilte.
Neugierig betrachtete Ismail die Fußgänger vorm Hinkenden Stoffel. Freistadt war im gesamten Königreich dafür bekannt, alle Rassen der Fünf Provinzen mit offenen Armen zu empfangen und in sich zu vereinen. Soweit er sehen konnte, waren die Menschen dabei jedoch klar in der Überzahl – was aber nicht wirklich verwunderlich war. Zum einen gab es einfach weitaus mehr Menschen als Alben und Zwerge im Königreich, zum anderen lebten die letzteren meist lokal sehr verankert unter sich.
Der Großteil der Zwerge etwa, siedelte in den einem der großen Gebirgszüge des Königreiches: dem Götterkamm oder dem Goldenen Acker. Beim Götterkamm handelte es sich zweifelsfrei um das größte und höchste Gebirge. Es bedeckte beinahe die gesamte Westliche Provinz. Lange Zeit das Armenhaus des Königreiches, erlebte es in den letzten Dekaden einen Aufschwung, dem niemand ihm zugetraut hatte. Es waren wohl die enormen Kohlevorkommen dort, welche die Provinz lange Zeit zum Gespött und heute zum unentbehrlichen Rohstofflieferanten machten. Das zweite Gebirge, in dem traditionell viele Zwerge lebten, war der Goldene Acker und lag in der Nördlichen Provinz. Ein Vielfaches kleiner als sein großer Bruder im Westen, barg es nicht weniger wertvolle Schätze. Der Goldene Acker besaß zwar keine Kohle, dafür jedoch die bedeutendsten Gold- und Edelsteinvorkommen im gesamten Königreich. Seine Bedeutung für die Reichen und Mächtigen ergab sich somit ganz von alleine.
Während die Zwerge inzwischen nahezu vollkommen in die Belange der Menschen eingebunden waren, war die Situation der Alben eine ganz andere. Grob konnte man diese in zwei Gruppen herunter brechen: jene Alben, die etwas mit den anderen Rassen zu tun haben wollten und jene Alben, auf die dies nicht zutraf. Die erste Gruppe lebte oftmals friedlich mit Menschen und Zwergen zusammen, meist in Städten oder kleineren Ortschaften überall in den Fünf Provinzen. Die zweite Gruppe hingegen lebte in nomadischen Familienverbänden, tief zurückgezogen im Schattenforst, dem mächtigsten und gefährlichsten Wald des Königreichs. Manche Stimmen behaupteten sogar, die Alben der Freien Stämme hätten den Schattenforst einfach niemals verlassen, da ihre Wurzeln in dieser unbezwungenen, lebensfeindlichen Wildnis lägen. Ismail wusste nur, dass er selbst als erfahrener Waldläufer die Tiefen des Schattenforstes fürchtete.
Er trat nun vom Gehsteig und folgte der Straße nach links. Im Gegensatz zu den Außenbezirken Freistadts, war der Mittlere Ring mit Kopfsteinpflaster ausgelegt und verfügte über eine Gosse, welche in einer ausgebauten Kanalisation mündete. Ein Regenschauer hatte hier also ganz andere Auswirkungen als im Äußeren Ring, nicht zuletzt im Hinblick auf den Geruch, der einem auf der Straße entgegen schlug. Als der Waldläufer beiläufig einen großen, runden Gullydeckel in der Straßengosse inspizierte, fiel sein Blick unweigerlich auf seine abgetragenen Lederstiefel. Es ist zum verrückt werden, dachte er wütend. Kaum hat man die Dinger richtig eingelaufen, muss man damit schon wieder zum Schuster. Während der Waldläufer noch die Kosten für die Reparatur abschätzte, wog er zähneknirschend seinen Geldbeutel in der Hand. Ich sollte lieber erst einmal das Wolfsfell verkaufen … Wie war nur der Name dieses verdammten Geschäftes, von dem die beiden Trottel am Stadttor mir erzählt haben?, überlegte Ismail angestrengt während er die vorbeiziehenden Geschäfte auf eine Verkaufsmöglichkeit für das Fell auf seinem Rücken prüfte. Der Waldläufer wollte sich auf keinem Fall über den Tisch ziehen lassen, so dringend er das Geld auch benötigte.
Da Fenriswölfe überaus schwer zu erlegen waren, wurden ihre Felle im gesamten Königreich zu hohen Preisen gehandelt. Andererseits wollte er die Stadt nach dem Zwischenfall mit den Stadtwachen so schnell wie möglich wieder verlassen und musste aufpassen, dass er auf dem Fell nicht sitzenblieb. Das Feilschen mit Händlern war noch nie einer seiner Stärken gewesen.
Ismail entdeckte eine offizielle Niederlassung der Gilde zu seiner Rechten. Und wie bei allen offiziellen Niederlassungen, prangte auch über dessen Eingangstür das Symbol der Handelsgilde: die goldene Kaufmannswaage auf schwarzem Grund. Im Gegensatz zu den Handwerkern mussten sich die Händler im Königreich nicht in städtischen Zünften organisieren, sondern durften weitestgehend unabhängig und auf eigene Rechnung handeln – bis auf jene, die Geschäfte mit der Handelsgilde machten oder von dieser dazu gezwungen wurden. Mit ihrem rücksichtslosen Vorgehen hatte es die Handelsgilde in den vergangenen Jahrzehnten geschafft, ein weit verflochtenes Netz von offiziellen und inoffiziellen Vertragshändlern im gesamten Königreich zu weben. Die Gilde war einfach überall und handelte mit allem, was einen Erlös versprach. In diesem Geschäft würde er sein Fell auf jeden Fall verkaufen können, doch wurde Ismail schon übel, wenn er nur an den Verkaufspreis dachte.
„Mein Herr, bitte nur eine Reichsmark für eine arme Frau und Mutter.“ Die Bettlerin hatte sich dem Waldläufer aus einer schmalen Gasse hinter im genähert. Sie wirkte gehetzt und blickte verschreckt in alle Himmelsrichtungen. „Bitte, mein Herr … meine Kinder und ich leiden Hunger.“ Instinktiv fasste Ismail an seine lederne Umhängetasche und prüfte, ob die Frau in bereits bestohlen hatte. „Mein Herr, bitte …“ flehte die Bettlerin erneut. Sie trug einfache Kleidung aus Leinen, die ihre besten Tage bereits lange hinter sich hatte. Wieder zuckte ihr Kopf zur Seite und spähte die Hauptstraße hinab. Ismail hatte sich gerade dazu durchgerungen, der Bettlerin entgegen seiner Gewohnheit ein paar Reichsmark zuzustecken, als ein dumpfer Schlag seine Aufmerksamkeit erregt.
Die Frau lag am Boden und hielt sich den blutenden Kopf. Und neben ihr entdeckte der Waldläufer den Grund ihrer Wunde: einen handgroßen, blutbefleckten Stein, der nur langsam das Kopfsteinpflaster entlang polterte. Sofort versuchte Ismail die Richtung auszumachen, aus der das Geschoss geworfen worden war. So eine Scheiße, fluchte er innerlich als er die beiden Stadtwachen entdeckte, die geradewegs auf die Bettlerin und ihn zusteuerten. Das hat mir gerade noch gefehlt.
„Wage es ja nicht, der blöden Schlampe auch nur einen Groschen zu geben!“, brüllte die linke Stadtwache, eine junge Frau, die freudig mit einem weiteren Stein in ihrer Hand spielte. „Wenn du dieses Gelumpe erst einmal anfütterst, wirst du die gar nicht mehr los!“
Ohne zu wissen warum, streckte Ismail der verletzten Bettlerin seine Hand entgegen und half ihr aufzustehen. In keinem Moment wendete er seine Augen von den herannahenden Stadtwachen ab. Kaum wieder auf den Beinen, eilte die Verletzte augenblicklich wieder zu der Gasse, aus der sie so überraschend aufgetaucht war. Selbst Ismail konnte ihr nur kurz in ihre Augen blicken. Sie wirkten gebrochen.
Die beiden Stadtwachen hatten seine Position erreicht. „Hier werden keine Bettler gefüttert – merk dir das!“, geiferte ihn die Frau mit dem Stein an und der Geruch von schalem Bier wehte ihm ins Gesicht. „Und sieh zu, dass du Land gewinnst, sonst muss ich dir noch in den Arsch treten!“ Ismail gab keinen Ton von sich – er blickte der Wortführerin lediglich stumm ins Gesicht. „Jetzt verpiss dich endlich, Bauerntölpel!“, schrie die Frau noch erregter als zuvor.
Ohne eine Regung zu zeigen, wandte sich der Waldläufer ab und setze seinen Weg fort. Kaum hatten sich die beiden Stadtwachen ein Stück weit entfernt, entdeckte Ismail aus dem Augenwinkel die Bettlerin in der schmalen Gasse – diesmal mit einem kleinen Mädchen an ihrer Seite und beide winkten ihm zu. Der Waldläufer verstand dies als Dank für die paar Münzen, die er der Frau heimlich beim Hochhelfen zugesteckt hatte.
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Die Blätter der Laubbäume im Vorhof begannen sich bereits zu verfärben. Ein Wechselspiel aus Gelb und Rot wanderte durch die Baumkronen, welche durch den Sonnenschein erleuchte wurden. Der Herbst hatte die Fünf Provinzen erreicht. Stanislaw genoss den Anblick, als er die steinernen Stufen im Eingangsbereich des Wächters der Freiheit hinunter schritt. In seinen Überlegungen, hing der Magier noch immer dem Gespräch mit Stefanie nach. Und obwohl er die Intentionen der Senatsvorsitzenden durchaus nachvollziehen konnte, blieb ein bitterer Nachgeschmack.
Das Antlitz des Königreichs wird sich in diesem Herbst weitaus dramatischer wandeln als wir uns das jetzt auch nur ausmalen können, prophezeite er düster. Wandel und Verfall. Hoffentlich hat Stefanie bedacht, dass einem wunderschönen Frühling immer ein dunkler Winter vorangeht. Schnellen Schrittes durchquerte der Magier den sandsteinernen Torbogen zur Hauptstraße und schloss sein Sakko. Es schien kälter geworden zu sein in Freistadt.
Stanislaw bog nach rechts ab und grüßte freundlich den Wachposten. Er wollte schnellstmöglich nach Hause, um seine nächsten Schritte zu planen, denn er musste sehr behutsam vorgehen. Wenn er nicht aufpasste, würde er bei dem bevorstehenden Konflikt schnell zwischen die Fronten geraten. Einerseits verband ihn eine persönliche Freundschaft zu Senatsvorsitzenden und er befürwortete viele ihrer Ziele. Andererseits war er ein führendes Mitglied der Akademie der Zauberkünste.
Auch wenn das so mancher an der Akademie wahrscheinlich anders sieht, mutmaßte der Magier. Nicht ohne Grund saß Stanislaw heute nicht mehr im Präsidium, dem Führungsgremium der Akademie, sondern verbrachte seine Tage als Dekan der Fakultät in Freistadt, einer zweitklassigen Außenstelle.
Rhythmisch klackerte die Metallspitze seines Gehstockes auf dem Kopfsteinpflaster der Straße. Beinahe so, als wolle dieser eine melodische Untermalung für den bunten Tanz der rotgoldenen Blätter bieten, welche soeben einen unnachahmlichen Tanz aus Farben neben dem Magier aufführten. Wandel und Verfall, kam es Stanislaw wieder in den Sinn und mit Bedauern musste er an die Entwicklung der Magie in den Fünf Provinzen denken. Wir waren einst der Inbegriff von Macht. Verehrt im Königreich und gefürchtet vom Kaiserreich – gottgleich. Und heute? Er seufzte. Niemand im Königreich oder der Akademie wusste, warum die Magie in den Fünf Provinzen schwand. Früher einmal platzten die Vorlesungssäle der Akademie zu Semesterbeginn aus allen Nähten. Heute waren die Kurse oftmals nur noch zur Hälfte besetzt. Unbewusst öffnete der Magier sein Sakko und griff in die rechte Tasche seiner Weste. Sich seiner eigenen Zauberkraft vergewissernd, berührte er zart den magischen Fokus darin und spürte die beruhigende Energie, welche von diesem in ihn überging. Obwohl er diesen zweiten Fokus, ebenfalls ein dunkelroter Pyrop, eigentlich nur für Notfälle in seiner Anzugsweste mit sich trug, genoss er von Zeit zu Zeit das Gefühl der Frische, wenn er den magiegeladenen Edelstein zwischen seinen Fingen hielt. Wandel und Verfall. Die Blätter tanzten noch immer neben dem Magier und schienen ihn einladen zu wollen, doch zog dieser anstandslos seine Hand wieder aus der Westentasche und schloss gekonnt das Sakko. Noch war es für ihn nicht soweit.
Endlich an seinem Wohnhaus angekommen, übersprang Stanislaw mit einem langen Satz die ersten Stufen des Treppenaufgangs und fingerte dabei den Haustürschlüssel aus der Hosentasche. Schnell rettete sich der Magier vor der unangenehmen Kälte des Herbstwindes in das Hausinnere und schloss die Tür hinter sich. In der Bibliothek knisterte noch immer die Glut des morgendlichen Feuers im Kamin. Glücklich über diesen Umstand, legte Stanislaw schnell einen weiteren Scheid Fichtenholz auf und die Flammen griffen prasselnd über. Er nahm das schmutzige Weinglas der letzten Nacht, welches neben einem ledereingebundenen Folianten stand, und brachte es zurück in die Küche. Gedankenverloren lehnte sich Stanislaw an den Küchentisch und blickte aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Bewohner Freistadts.
Welche Zukunft hält Stefanie tatsächlich für die Akademie der Zauberküste bereit? Die Akademie war seit jeher unabhängig. Ihr einziges Interesse bestand in der Erforschung des Arkanen und der Ausbildung neuer Magier – so zumindest die offizielle Lesart. Tatsächlich hatte sie in jeder gewalttätigen Auseinandersetzung, die die Fünf Provinzen gesehen haben, eine gewichtige Rolle gespielt. Dies wird sich auch in dem heraufziehenden Konflikt nicht vermeiden lassen. Traditionell pflegte die Akademie der Zauberkünste eine enge Bindung zum Königshaus. Im Laufe der Zeit hatten die Magier ihren festen Stand in der monarchischen Ständeordnung eingenommen und sich an diesen gewöhnt. Ein Umsturz würde sie wahrscheinlich nicht weniger berühren als den König selbst. Und sollte Stefanie scheitern und mit ihrer - noch nicht einmal geschlossenen - Allianz gegen die Kaiserin unterliegen, würde dies wahrscheinlich zur endgültigen Unterwerfung der Fünf Provinzen und dem Ende der Akademie der Zauberkünste führen. Zum einen hatten die Kaiserlichen nicht den Hauch eines Verständnisses für die Magie und deren Anwender und zum anderen saßen die Erinnerungen an die erbitterten Schlachten um die Meerenge von Schwarzenheim tief.
Keine dieser Überlegungen brachte ihn jetzt weiter. Er musste schnellstmöglich Kontakt zur Akademie aufnehmen und unter Geheimhaltung mit dem Präsidium sprechen. Am besten bräche er noch diese Nacht auf. Stanislaw stieß sich vom Küchenfenster ab und steuerte auf die Holztreppe im Flur zu, dessen erste Stufe gereizt knarrte als der Magier sein Gewicht darauf verlagerte. Am oberen Treppenabsatz angekommen, peilte der Magier kurzentschlossen sein Schlafzimmer an, um seine Sachen für die Reise zu packen. Außerdem würde er sich noch einmal hinlegen, um dann die Nacht hindurch reiten zu können, was der Aufgabe die angemessene Diskretion garantieren würde. Der Magier betrat sein Schlafzimmer und öffnete direkt den Kleiderschrank.
„Hallo Stanislaw, du bist grau geworden … aber dein Hintern sieht in diesen Anzugshosen noch immer exquisit aus.“
Er erkannte die Stimme in dem Moment, als er sie vernahm. „Hallo Katharina.“
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Ismail konnte seinen Verfolger in der Menge zwar nicht ausmachen, doch spürte er seine Anwesenheit. Es war nur wenige Atemzüge her, dass der Waldläufer sich die verschiedenen Werkzeuge in der Auslage eines Handwerkers ansah und ihn überraschend jenes diffuse Gefühl des Beobachtetwerdens beschlich. Es war ein Gefühl, das er nicht recht in Worte fassen konnte: ähnlich einem Schaudern, bei dem sich die Nackenhaare aufstellten, und doch vollkommen anders. Nicht durch eine konkrete Wahrnehmung, ein Wort oder ein Geräusch ausgelöst, sondern eher durch eine Ahnung. Ein sechster Sinn.
Unauffällig ließ Ismail seinen Blick durch die Reihen der Marktbesucher wandern, während er den kleinen Handspaten vor sich in der Auslage halbherzig begutachtete. Doch konnte der Waldläufer niemanden ausmachen, der sich in besonderem Maße für ihn zu interessieren schien. Wenn er sich nicht vor mir befindet, muss er hinter mir sein, überlegte er verunsichert und versuchte irgendetwas Verdächtiges auszumachen, obwohl er sich der Sinnlosigkeit dieses Unterfangens, in der erregten Masse an Käufern und Verkäufern, bewusst war. Doch just in dem Moment, in dem er sich auf sein Gehör konzentrierte, geschah etwas Seltsames: es schien sich zu schärfen.
Ismail konnte die Personen auf dem Marktplatz – jeden einzeln für sich – hören. Das Wirrwarr an Stimmen entflocht sich vor seinem geistigen Auge und er konnte, ohne sich umzudrehen zu müssen, einzelne Gesprächsfetzen bestimmten Verkaufsständen in seinem Rücken zuordnen. Anscheinend besteht eine doch beeindruckende Nachfrage für potenzsteigernde Zaubermittelchen, dachte er amüsiert. Dafür sprach zumindest das harte Gefeilsche am Stand des fliegenden Händlers, der sich auf der anderen Straßenseite niedergelassen hatte. Gleich neben dem Imbissstand, der gegrillte Köstlichkeiten aus der Südlichen Provinz feilbot. Dem intensiven Geruch nach Kümmel folgten Erinnerungen an seine Kindheit. Wieso kann ich das nur riechen? Die Sinneseindrücke prasselten jetzt nur so auf den Waldläufer ein. Sich selbst zur Ruhe zwingend, legte er den Handspaten zurück in die Auslage und verließ den Verkaufsstand.
Zurück in der Flut aus Stadtbewohnern nahm Ismails Unbehagen noch zu. Seine Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Erdrückt von den Informationen ergab sich der Waldläufer bereitwillig der menschlichen Flut und hoffte darauf, dass ihn der unbekannte Verfolger darin nicht einfach attackieren würde – sofern dieser es überhaupt auf sein Leben abgesehen hatte. Durch die Masse taumelnd, blickte sich Ismail erneut um. Auch sein Sehen hatte sich verändert. Die undurchsichtige Welt des prächtigen Marktplatzes, mit all seinen Farben und Schnörkeln, war einer Welt der Konturen und Kontraste gewichen. Keine fließenden Übergänge und Farbenspiele mehr, sondern nur noch messerscharfe Konturen aus hell und dunkel. Ismails Blick war klarer denn je.
Wer oder was auch immer eine der Konturen verletzte – etwa durch die Bewegung einer Hand oder eines Kopfes – konnte sich seiner Aufmerksamkeit nicht weiter entziehen. Ismail sah ihn. Mit der Klarheit kehrte auch die Selbstsicherheit zu dem Waldläufer zurück. Sein Gang in der quirligen Masse wurde wieder geschmeidiger. Und seinen geschärften Sinnen geschuldet, dauerte es nur einen kurzen Augenblick an, möglicherweise einen Wimpernschlag lang, und dennoch hatte Ismail sie sofort wahrgenommen: die Frau am Stand des Bäckers.
Heimlich hatte sie zu ihm hinübergeschaut. Weder beiläufig noch aus Versehen, sondern vollkommen bewusst. Die Frau mit den strähnig-blonden Haaren, befand sich ungefähr zehn Schritt vor ihm am rechten Straßenrand und hatte ihren Blick verräterisch auf ihn – ihn direkt – gerichtet. Sie beobachtete ihn.
Ismail ließ sich seine Entdeckung nicht anmerken und schritt anstandslos an dem Stand des Bäckers vorüber. Doch konzentrierte er sich dabei auf die Stimmen, die nun an ihm vorbeizogen. Die Frau hatte eine angenehme Stimme und verhandelte halbherzig um ein Laib Brot. Kaum hatte sich der Waldläufer ein paar Schritte vom Stand entfernt, brach sie die Verhandlung unvermittelt ab und verabschiedete sich in kurzangebundenen Floskeln. Obwohl auch sie in die Anonymität der Masse zurückgekehrt war, konnte Ismail deutlich ihr Schrittmuster hinter sich wahrnehmen.
Penibel darauf achtend, dass sich die Distanz zwischen ihm und seinem Schatten nicht unnötig verringerte, suchte er nach einer passenden Gelegenheit. In der Gasse könnte er seine Verfolgerin unbeobachtet stellen und in dem Geschäft könnte er einfach ausharren. Eine dritte Möglichkeit war freilich, am nächsten Stand einfach stehen zu bleiben und sich erneut überholen zu lassen, dann wäre die Frau zumindest nicht mehr in seinem Rücken. Das setzt allerdings voraus, dass sie alleine ist … Die Idee nicht einmal zu Ende gesponnen, registrierte Ismail eine weitere auffällige Bewegung.
Wenige Schritte vor ihm huschte ein schwarzer Schatten geschwind durch das Chaos der unterschiedlichsten Schrittmuster. War das eine Katze? Um die sollte ich mir nun wirklich keine Sorgen machen …, schüttelte er seine Bedenken bezüglich eines zweiten Verfolgers ab und konzentrierte sich wieder auf die Suche nach einer Fluchtmöglichkeit. Erneut blitzte der schwarzen Schatten vor ihm auf – und verschwand ebenso überraschend wieder. Der Waldläufer fühlte sich auf seltsame Weise von der Erscheinung angezogen und strengte seine Sinne auf der vergeblichen Suche danach an. So sehr er es auch versuchte, er konnte sie in der Menge nicht ausfindig machen. Ein drittes Mal schoss der Schatten auf Stiefelhöhe zwischen den Marktbesuchern hindurch und offenbarte sich als schwarze Katze, die ebenso plötzlich wieder entschwunden war. Obwohl der Waldläufer den flinken Vierbeiner weder sehen noch hören konnte, wirkte es nun auf ihn, als könne er dessen Anwesenheit spüren. Ein seltsames Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die Anziehungskraft zu dem geheimnisvollen Schatten wuchs. Sie wurde zu einem inneren Drang, dem Ismail nicht weiter widerstehen konnte. Er musste der schwarzen Katze einfach folgen – ungeachtet seiner Verfolgerin im Nacken.
Der Drang, dem Schatten zu folgen, entließ den Waldläufer ebenso unvermittelt aus seinem Griff, wie er ihn in Besitz genommen hatte. Ismail hatte die Katze nicht einmal zu Augen bekommen – dafür stand er nun jedoch vor einer schmalen und dunklen Gasse, die unauffällig von der lebendigen Marktstraße abzweigte. Wie dafür gemacht, sich unleidiger Gefolgschaft zu entledigen, freute sich Ismail. Als hätte mich die Katze hierhergeführt. Kurzerhand entschied sich der Waldläufer dafür, seine Verfolgerin im Schutz des Zwielichts zu stellen und schlüpfte in die Gasse.
Kaum hatte er diese betreten und so den Blickkontakt zu der Frau hinter sich unterbrochen, sprintete er los bis zur ersten Hausecke und versteckte sich hinter dieser im Schatten. So leise wie möglich zog er seinen Dolch aus der Scheide und drückte sich rücklings an die kalte Hauswand. Sein Blut rauschte in den Ohren.
Seine Verfolgerin betrat die Gasse. Die Worte, welche die Frau nun leise vor sich hin fluchte, schallten wie die Hammerschläge eines Schmiedes in Ismails Ohren und ließen ihn die Luft anhalten. Um den Anschluss an ihr Ziel nicht zu verlieren, beschleunigte die Verfolgerin nun ebenfalls ihren Schritt und begann die Gasse hinabzulaufen. Der Waldläufer verschmolz mit dem Schatten. Die plätschernden Schritte hallten in der schmalen Gasse wider. Sie war beinahe beim ihm. Pfeilschnell griff Ismail aus dem Schatten der Frau mit der linken Hand vor den Mund und führte mit seiner Rechten die gebogene Klinge des Dolches unter deren Kehle, begleitet von einem leichten Tritt in die Kniekehle. Überrumpelt knickte die Frau ein und wurde nun nur noch von der Hand vor ihrem Mund sowie der Klinge unter ihrem Kinn gehalten. Ismail zog sie zu sich in den Schatten.
„Wenn du schreist oder versuchst zu fliehen, schneide ich dir die Kehle durch“, raunte Ismail der Frau ruhig ins Ohr. „Und glaube mir: weder werde ich zögern, noch ist es das erste Mal für mich.“ Der Waldläufer bedauerte, dass seine Warnung der Wahrheit entsprach. Die Frau gab keinen Ton von sich. Jeder Muskel in ihrem drahtigen Körper war verkrampft und darauf bedacht, keine unnötige Bewegung auszulösen. Als Ismail behutsam den Druck auf den Dolch erhöhte, kippte der Oberkörper der Frau unbewusst nach hinten, bis sie endgültig das Gleichgewicht verloren hatte und ihr Schicksal vollkommen in den Händen des Waldläufers ruhte. „Hast du das verstanden?“, flüsterte Ismail erneut.
Ein schweigsames Nicken seitens der Frau.
„Gut, dann werde ich dir jetzt ein paar Fragen stellen. Und damit du antworten kannst, entferne ich meine Hand von deinem Mund - doch nicht den Dolch von deiner Kehle. Denke daran, bevor du antwortest.“
Ein erneutes Nicken.
Ismail hatte keinerlei Interesse an dem Tod der Frau. Das Töten hatte ihm noch nie Spaß bereitet - egal um wen oder was es sich auch handelte. Dies galt insbesondere für die Jagd. Als Waldläufer hatte er kein Problem mit dem Töten aus Notwehr oder Hunger, doch war es ihm nie zu einer Gewohnheit geworden. „Wer bist du und wer hat dich geschickt? Weshalb verfolgst du mich?“, befahl er und nahm langsam seine linke Hand vom Mund seiner Verfolgerin.
„Ich heiße Isolde und niemand hat mich geschickt“, erklärte die Frau ängstlich. „Ich folge dir, weil ich mich bei dir bedanken möchte.“ Ihr Schluchzen hob die Klinge an ihrem Hals sanft an.
„Ich kenne keine Isolde und es gibt keinen Grund mir zu danken.“
„Doch, den gibt es“, widersprach sie ihm schnell. „Letzte Nacht hast du eine Frau im äußeren Stadtring vor zwei Stadtwachen gerettet. Diese Frau war ich, Isolde.“
Ismail schwieg und dachte nach: Durchaus möglich … Immerhin dürften nur die Frau und ich von dem Kampf wissen - und die beiden Stadtwachen natürlich. Aber die sollten noch nicht wieder auf den Beinen sein. Er war sich unsicher. Und wie hat sie mich überhaupt gefunden? Vorsichtshalber log er: „Keine Ahnung, was du meinst. Du scheinst mich zu verwechseln …“
„Die Katze“, entgegnete sie zurückhaltend. „Ich habe dein Amulett erkannt: Der schwarze Katzenkopf mit den grünen Augen.“ Sie schien mit ihrem Kopf auf etwas deuten zu wollen. „Vorne an deinem Umhang. Bitte glaube mir …“ Ismails Kopf zuckte nach oben, als er tapsige Schritte im Schatten zu hören dachte. „Ich habe dich vor dem Hinkenden Stoffel auf der Straße gesehen“, erklärte die Frau weiter. „Ich möchte dich nicht verraten, sondern nur für deine Hilfe danken. Was du für mich getan hast, tun nicht viele in Freistadt für einen Fremden.“
Weil nicht viele so dumm sind wie ich, dachte Ismail bitter und fragte skeptisch: „Wenn du die Wahrheit sprichst, warum hast du mich dann nicht einfach angesprochen? Warum folgst du mir heimlich und beobachtest mich?“
„Zuerst war ich mir nicht ganz sicher“, rechtfertigte sie sich. „Die ganze letzte Nacht erschien mir wie ein Alptraum. Ich wusste nicht mehr, was Einbildung und was Wahrheit war. Doch als ich die Spange an deinem Umhang sah, da wusste ich Bescheid.“ Ismail hatte genug gehört.
Prompt nahm er den Doch von der Kehle und ließ ihn verschwinden. Ohne ein Kommentar half er der Frau wieder auf die Beine und warf dabei einen Blick auf ihren Hals: die Klinge hatte zwar eine deutliche Spur hinterlassen, jedoch keine ernsthafte Verletzung. Die Frau war noch immer vollkommen verkrampft. „Du hast wirklich Glück gehabt“, belehrte er sie, „viele hätten dich einfach getötet.“
„Viele hätten mich erst gar nicht gerettet“, konterte sie geistesabwesend. „Danke, dass …“
„Du brauchst mir nicht zu danken“, unterbrach er sie barsch. „Wir wissen beide, was geschehen ist und sollten es dabei belassen.“
„Aber du hast nicht nur mein Leben gerettet, sondern auch das Leben meines Sohnes. Er heißt Matthias …“
Der Waldläufer ergriff die schmächtige Frau bestimmend an ihrer Schulter und sagte: „Ich möchte das nicht hören. Was ich tat, tat ich nicht dir zuliebe, sondern weil ich meine eigenen Beweggründe hatte. Am besten sehen wir beide uns nie wieder.“ Das Erstaunen sprang der Frau förmlich aus dem Gesicht. Sie stand mit offenen Mund und aufgerissenen Augen einfach nur da. Ismail wartete keine weitere Reaktion ab, sondern strebte flugs zum Ausgang der Gasse und ließ die Frau mit der Situation alleine. Wie in der Nacht zuvor.
Ich muss schnellstmöglich diese verdammte Stadt verlassen, entschied der Waldläufer zornig, als er auf die Einkaufsstraße zurückgekehrt war. Gestern hatte ich alle Vorteile auf meiner Seite und heute hatte ich Glück - morgen habe ich möglicherweise weder das eine noch das andere! Ich muss endlich dieses verdammte Fell verkaufen.
Überstürzt stolperte er in einen feinbetuchten Alben, der entspannt auf der Straße flanierte. Noch bevor der Mann das rüde Verhalten überhaupt tadeln konnte, brachte Ismail ihn mit einem beißenden Blick zum Schweigen und eilte schroff weiter voran. Er wollte so viel Distanz wie möglich zwischen sich und diese Frau zu bringen. Zurück in die schützenden Arme der Anonymität.
Nach zwei Querstraßen und mehreren Gassen verlangsamte der Waldläufer schließlich seine Geschwindigkeit. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass die Frau ihm bei diesem Tempo erneut gefolgt war. Betont desinteressiert lehnte er sich an ein Anschlagbrett am Straßenrand und überblickte die Personen um sich herum: keine Isolde. Erst jetzt fiel dem Waldläufer auf, dass sich seine Sinne nicht mehr in Alarmbereitschaft befanden. Alles war wie immer. Ismail hatte keine Ahnung, wann sich seine Wahrnehmung wieder normalisiert hatte, hoffte aber inständig, dass ein sicheres Umfeld die Beruhigung ausgelöst hatte. Nun musste er nur noch einen passenden Händler für sein Fell finden. Sofort suchte nach vielversprechenden Informationsquellen und erspähte vor einem Barbier schließlich einen breitschultrigen Zwerg, der sich sinnesfreudig durch seinen frischgestutzten Bart strich und auf den Waldläufer einigermaßen gesprächig wirkte.
„Entschuldigung“, sprach er den Zwerg höflich an. „Können Sie mir einen Händler in Freistadt empfehlen, der Felle zu einem vernünftigen Preis ankauft?“
„Was für Felle willst du denn verkaufen, Kumpel?“, entgegnete der Zwerg ebenso freundlich und ließ seine dicken Finger nochmals durch den vollen Bart streichen. „Wenn du Frettchen oder so ein Kleinkram dabeihast, würde ich es an deiner Stelle im Äußeren Ring probieren. Habe gehört, die machen alles Mögliche aus diesem Zeug. Einmal hat wohl einer sogar …“
„Nein, nein. Kein Kleinkram“ unterbrach Ismail den Mann behutsam und zeigte mit dem Daumen auf das zusammengeschnürte Bündel auf seinem Rücken. „Ich möchte dieses Wolfsfell verkaufen. Ein Fenriswolf um genau zu sein.“
„Ein Fenriswolf, was?“ Der Zwerg pfiff durch die Zähne. „Na dann mal Waidmannsheil! Die Viecher sollen ja wahrlich nicht leicht zu erlegen sein. Ich habe einen Vetter - oder vielmehr hatte ich mal einen Vetter - der einen Fenriswolf eigenhändig erlegen wollte. Habe aber nie wieder etwas von ihm gehört … und Vetter Sven war selbst ein ganz schönes Viech, wenn du weißt, was ich meine.“ Bei der abschließenden Bemerkung riss der Mann seine Hände auseinander um das breite Kreuz seines Vetters zu veranschaulichen. „Vetter Sven hat nämlich mal einen ganzen Trupp Holzfäller im Alleingang aus unserer Stammkneipe geworfen. Okay, zugegeben, das waren nur Menschen, aber …“
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