Kitabı oku: «Der Zauberladen von Applecross (Bd. 1)», sayfa 2
DRITTES KAPITEL
DER REVEREND
MISTER CULLEN
JULES DER POSTBOTE
An das Mittagessen und den darauffolgenden Nachmittag erinnere ich mich nicht gern: Nachdem ich gleich eine doppelte Standpauke von beiden Elternteilen kassiert hatte, flüchtete ich mich in mein Zimmer. Dusty durfte mich natürlich nicht begleiten. Er trollte sich auf die Wiese unter meinem Fenster und rollte sich neben der Buche zusammen. Ich legte mich auf mein Bett und hatte bis zum Abend nur meine Gedanken als Gesellschaft.
Die waren nicht gerade schön: Ich musste immer wieder darüber nachgrübeln, dass ich einen Fehler gemacht hatte, klar, und dass ich von nun an wohl nicht mehr tun und lassen konnte, was ich wollte. In Zukunft würde ich besser aufpassen müssen, wollte ich mich nicht erwischen lassen. Wahrscheinlich hatte ich es ein bisschen übertrieben. So etwas in der Art ging mir durch den Kopf. Und am Abend fühlte ich mich ein wenig besser. Ich möchte nicht behaupten, dass ich an diesem Tag etwas erwachsener geworden bin, aber ich begriff immerhin, dass ich nicht auf ewig ein Kind sein wollte.
Als es Zeit zum Abendessen war, klopfte mein Vater an die Tür zu meinem Zimmer. Er war der Einzige, der anklopfte, meine Mutter und Doug kamen immer so rein.
»Ja«, sagte ich und setzte mich ruckartig auf.
Ich wollte nicht, dass er mich so in die Kissen vergraben sah und etwa denken könnte, ich sei völlig verzweifelt wegen dem, was ich angestellt hatte. Immerhin hatte ich ein ganzes Schuljahr sausen lassen und mir damit höchstwahrscheinlich den Sommer verdorben. Er sollte einfach nur denken, dass es mir leidtat.
»Wir haben alle zurückgesteckt, Finley, damit du zur Schule gehen kannst«, begann mein Vater und machte mir damit klar, dass die ganze Sache noch lange nicht vom Tisch war. »Es wäre durchaus nützlich für den Hof, wenn du dich um die Schafe kümmern würdest. Dein Bruder und ich müssen ziemlich ackern, um hier zu zweit zurechtzukommen.«
»Papa, es tut mir leid. Aber ich würde dir und Doug gern …«
»Das ist nicht wahr«, erwiderte mein Vater. »Auf Dauer wärst du nicht glücklich. Ganz bestimmt nicht. Und das weißt du selbst genau.«
Es stimmte. Und das wusste ich auch, na klar. Ich war der Meinung, dass Schafe die dümmsten Lebewesen waren, die es auf der Welt gab. Abgesehen von Doug natürlich.
»Wir haben alle zurückgesteckt, deinetwegen«, fing mein Vater wieder an. »Und du hast uns hintergangen. Bei deinem Bruder haben wir ziemlich schnell gemerkt, dass die Schule nichts für ihn ist. Aber du bist nicht Doug. Und deshalb …«
Er ließ den Satz drohend in der Schwebe.
»… bringe ich dich morgen zu Reverend Prospero«, vollendete er ihn schließlich in einem Atemzug.
Und damit ging er und ließ mich auf dem Bett und ohne Abendessen sitzen.
Als mir klar wurde, was ich da eben gehört hatte, rannte ich zum Fenster. »Dusty! Hast du gehört? Dusty! Sie schicken mich zu Reverend Prospero!«
Doch dieser miese Verräter hatte schon seinen Platz unter meinem Fenster verlassen und war auf die andere Seite des Hauses gelaufen, um sich dort sein Fressen zu holen.
Es wurde die längste Nacht meines Lebens.
Mit weit geöffneten Augen lauschte ich den Sternen, die vor dem Fenster vor sich hin wisperten, und als ich schließlich doch eingeschlafen war, wurde ich gleich wieder von meiner Mutter aus den Träumen gerissen. Zumindest kam es mir so vor, als wäre es noch mitten in der Nacht.
»Los, aufstehen, raus aus den Federn, du Nichtsnutz!«
Sie schmiss mich buchstäblich aus dem Bett, trieb mich vor sich her ins Bad und deutete auf die mit dampfendem Wasser gefüllte Badewanne. Rechts davon lagen zwei Handtücher. Auf der anderen Seite meine guten Anziehsachen, in die sie mich immer steckte, wenn wir in die Kirche gingen: dunkle Hose und Jacke, ein gestärktes Hemd, weiße Socken und schwarze Halbschuhe. »Du hast zehn Minuten, um dich fertig zu machen!«
Mir war sofort klar: Wenn ich wagte, wegen der Wanne zu protestieren, würde sie mich mit Gewalt dort hineinstecken und mich eigenhändig baden, so wie früher als Baby.
Zehn Minuten später, gewaschen und so gründlich gestriegelt, dass sich mein Kopf fast kahl anfühlte, näherte ich mich dem Frühstückstisch. Mein Magen grummelte, weil ich gestern Abend nichts gegessen hatte. Papa hatte die Sportzeitung von letzter Woche vor dem Gesicht und ließ sie auch nicht sinken, um mir Guten Morgen zu wünschen.
»Einstein im Anflug!«, begrüßte mich Doug.
Ich erwiderte nichts. Mein Bruder hatte sich einen Riesenberg Rührei auf den Teller geladen, auf den er gleichzeitig einen Löffel Honig und einen Löffel Senf klatschte. Ich war so hungrig, dass ich sogar das gegessen hätte.
Ich nahm mir einen Toast mit Marmelade und ein Ei mit sauren Gurken, die ich normalerweise hasse. Der Milchkaffee war so heiß wie dieser Vulkan auf Island, der seit einiger Zeit Asche spuckte, aber ich wagte nicht, mich zu beschweren.
Während ich mein Frühstück aß, versuchte ich, Doug zu ignorieren, der mit dem Fuß rhythmisch zu dem Song aus seinem Kopfhörer aufstampfte, und als ich fertig war, blieb ich einfach sitzen und wartete ab.
Laut raschelte mein Vater mit der Zeitung. »Gehen wir.« Dann fügte er noch hinzu: »Nimm dieses Ding ab, Doug.«
Mein Vater und ich setzten uns vorn in den Lieferwagen, Dusty drängte sich zwischen uns, und sobald wir losfuhren, kletterte er auf meine gute Hose, um seine Schnauze zum Seitenfenster hinauszustecken und sich den Fahrtwind um die Schlappohren wehen zu lassen.
Und ich ließ ihn machen, hielt ihn nur am Halsband fest, damit er nicht hinaushüpfte.
»Warum fahren wir zu Reverend Prospero?«, fragte ich Papa, als die Häuser und der einzige Kirchturm von Applecross in Sichtweite kamen.
»Ich habe ihn gebeten, dir für diesen Sommer einen Job zu suchen«, erwiderte er nach einer Weile.
Einen Job?
»Aber … kann ich denn nicht bei euch auf dem Hof arbeiten?«, protestierte ich. »Gestern Abend hast du gesagt, dass … es nützlich wäre.«
Papa parkte den Lieferwagen vor der Kirche, stieg aus und forderte mich auf, ihm zu folgen. »Weil dir die Arbeit auf dem Hof einen Sommer lang Spaß machen könnte«, sagte er in diesem verbitterten Ton, der mir verdammt wehtat. »Deshalb habe ich den Reverend ausdrücklich um einen Job gebeten, der so richtig … unangenehm ist.«
Mit einem Bum! knallte er die Fahrertür zu.
»Dann wirst du es dir im nächsten Jahr zweimal überlegen, ehe du zum Angeln an den Fluss gehst.«
Reverend Prospero war eine Institution im Dorf. Er hatte sämtliche Kinder getauft, hatte denen, die es wünschten, die Beichte abgenommen, alle Ehewilligen verheiratet und all jenen die letzte Ölung erteilt, die sich wirklich auf den letzten Weg machen wollten. Er lebte mit Miss Finla in dem Pfarrhaus hinter der Kirche von Applecross. Miss Finla war seine Haushälterin und wahrscheinlich der einzige Mensch im Dorf, der älter war als er. Der Reverend war ein wahrer Riese, mit kräftigen Armen und einem Kreuz wie ein Rettungsschwimmer. Er war in mehreren Kriegen Seelsorger gewesen, in welchen, weiß ich nicht mehr, und ich konnte ihn mir nur zu gut vorstellen, wie er unter feindlichem Beschuss den Soldaten voranschritt und dazu auf seinem Dudelsack spielte. Er hatte einen riesigen Schnauzbart und die Haare kamen ihm sogar aus den Ohren heraus. Nur auf dem Kopf war er kahl.
Miss McCameron hatte mir einmal gesagt, dass Reverend Prospero eine geheimnisvolle Tätowierung auf der Schulter hätte und dass sie die entdeckt hatte, als sie Maß genommen hatte, um das Messgewand für ihn zu ändern. Aber ich hatte diese noch nie gesehen, und daher wusste ich nicht genau, ob es sie wirklich gab.
Der Reverend hatte eine sehr mächtige, befehlsgewohnte Stimme und eine ziemlich direkte Art: Um die Seelen seiner Schäfchen zu retten, peitschte er auf sie ein.
Mein Vater schubste mich in den Hof zwischen Pfarrhaus und Kirche und gleich darauf fiel der mächtige Schatten des Reverends über mich.
Ich musste nicht aufsehen, um zu wissen, dass er mich aus seinen pechschwarzen Augen anstarrte.
»Nun denn, McPhee junior, was haben wir denn diesmal angestellt?«
Er sagte »diesmal«, weil ich ihm nicht zum ersten Mal vorgeführt wurde. Unsere erste Begegnung hatten wir vergangenes Jahr gehabt, als Jacky Turbine und Sammy Angler das Fenster von Mr Everett mit dem Fußball eingeschmissen hatten. Aber Mr Everetts Haus lag eben genau hinter dem Fußballplatz und Jacky Turbine hatte den härtesten Linksschuss der Highlands. Vielleicht hätten wir nach der ersten kaputten Scheibe aufhören sollen. Oder vielleicht hätten wir nicht unbedingt versuchen sollen, durch Mrs Gordons Gemüsegarten auf der anderen Seite des Fußballplatzes abzuhauen, als Mr Everett uns stockschwingend hinterherkam.
Damals hatte Reverend Prospero gemeint, das wäre ja wohl bloß ein Dummejungenstreich, aber er hatte uns gezwungen, uns einen Monat lang um Mrs Gordons Gemüsegarten zu kümmern, und Jacky Turbine hatte er dazu verdonnert, rund um alle Grabsteine auf dem Friedhof Unkraut zu jäten.
»Ich glaube, ich bin ein wenig zu oft angeln gegangen, Reverend«, erwiderte ich, um etwas zu sagen.
Er lachte dröhnend. »Statt zur Schule zu gehen? Haha! Und was sollen wir jetzt mit dir machen?«
»Das müssen Sie mir schon sagen, Reverend …«, nuschelte ich. Wenn ich etwas in der Hand gehabt hätte, hätte ich es zwischen meinen Fingern zerrieben. Mir wurde langsam heiß in meiner guten Jacke.
»Was kannst du denn?«, fragte er mich.
Ich schüttelte stumm den Kopf. Ich konnte angeln. Dinge sammeln, die das Meer angeschwemmt hatte. Amerikanische Comics lesen. Mit Dusty durch den Winterwald laufen. Mit Dusty über Sommerwiesen laufen. Ich konnte mit Dusty bei jedem Wetter und egal zu welcher Jahreszeit umherlaufen. Und außerdem konnte ich verwunschene Orte erforschen, die Eingänge zum Reich des Kleinen Volkes erkennen und Landkarten zeichnen.
»Kannst du denn wirklich gar nichts?«, fragte der Reverend nach.
Na ja, sagte ich mir. Ich konnte die ganze Küstenlinie von hier bis zur Rattle Farm mit geschlossenen Augen beschreiben. Und ich wusste auch sonst noch eine ganze Menge nützlicher und weniger nützlicher Dinge. Ich wusste zum Beispiel, dass es zwischen dem Greelock-Pub und dem Gasthaus der Familie McStay einen Geheimgang gab, und ich wusste auch, wie man dort hineinkam. Ich wusste, dass Mr Everett ab und zu heimlich hinter seinem Andenkenladen rauchte. Und dass der einzige Funker des Dorfes, Seamus, einen Apparat erfunden hatte, mit dem er die Satellitenkanäle gucken konnte, ohne dafür zu bezahlen. Und ich wusste …
Mein Vater versetzte mir von hinten einen kleinen Schubs, der mich fast aus dem Gleichgewicht brachte. »Denk dir was aus, Prospero«, sagte er einfach. »Ich muss zurück auf den Hof.«
Dann wechselten die beiden Männer einen Blick, der eine vorher getroffene Abmachung zu besiegeln schien. Ich stellte mir vor, wie die beiden am Telefon miteinander gesprochen hatten, während ich in meinem Zimmer eingesperrt war, so wie Männer das eben tun, mit nur ein paar knappen Sätzen.
»Komm mit«, befahl mir Reverend Prospero und ging voran.
Eins muss ich zu Reverend Prosperos Verteidigung sagen. Er hat an jenem ersten Tag zumindest versucht, Applecross zu retten. Aber anscheinend konnten weder er noch ich verhindern, was unausweichlich geschehen sollte.
Weil ich keine vierzehn war, konnte ich nicht richtig arbeiten. Das wäre illegal gewesen. Es gab nämlich ein Gesetz gegen die Ausbeutung der Arbeitskraft von Minderjährigen. Oder so ähnlich. Aber das hielt den Reverend eines kleinen frommen Ortes wie Applecross nicht davon ab, mich zu verpflichten, hier und da Leuten »zur Hand zu gehen«, und zwar vollkommen umsonst. Denn ich war ja ein guter Junge, der gern half.
Das war das schottische Hausmittel gegen Faulheit.
Am ersten Tag ging ich der landwirtschaftlichen Genossenschaft »zur Hand«. Sie schickten mich ins Lager, wo ich die Kisten von den Lieferwagen abladen und in die Regale einräumen sollte. Anfangs machte mir das sogar Spaß, aber später nicht mehr: Alles, was kam (und es war jede Menge Zeug, das zu den unterschiedlichsten Zeiten angeliefert wurde), musste in einer bestimmten Ordnung eingeräumt werden. Dahinter steckte eine Logik, die sich mir allerdings nicht erschloss. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie viele Produkte im Lager eines kleinen Supermarktes Platz finden konnten und wie viele Menschen dort jeden Tag hinkamen, um nach den ausgefallensten Dingen zu fragen.
Bereits nach der Hälfte des Vormittags spürte ich meine Schultern nicht mehr.
Mr Cullen, mit dem ich noch kein Wort gewechselt hatte, zeigte auf einen kleinen Hocker neben der Kasse. »Ich gehe mal kurz zur Bank. Wenn jemand kommt, dann sagst du, ich bin gleich zurück.«
Sobald er weg war, nahm ich mir ein Wassereis aus der Kühltruhe und lutschte es hastig, damit er es nicht mitbekam.
In dem Moment betrat ein Mann den Laden, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Er sah aus wie ein Rockstar. Er war riesengroß, spindeldürr, hatte einen blonden Wuschelkopf und wirkte so verwirrt, als hätte er eben entdeckt, dass die Mondlandung nie stattgefunden hatte.
Der Mann sah sich um, wie um zu begreifen, wohin es ihn verschlagen hatte, und fragte mich: »Gibt es hier Pizza?«
Ich zeigte ihm das Kühlregal mit den Steinofenpizzas, auf denen der Mozzarella so schön Fäden zieht, und er musterte sie etwas misstrauisch. Schließlich nahm er zwei.
Dann kramte er in seinen Taschen und rief: »Verdammt! Entschuldige. Ich bin neu hier. Ich habe … ich habe mein Portemonnaie zu Hause vergessen. Kann ich später noch mal wiederkommen und sie bezahlen?«
Ich sah zur Bank hinüber, aber von Mr Cullen keine Spur. Ich musste also schnell eine Entscheidung treffen. »Okay«, sagte ich zu dem Unbekannten. »Aber Sie kommen ganz bestimmt wieder, oder?«
»Sicher komme ich wieder«, erwiderte er. »Und danke. Ich bin … wirklich …«
Was auch immer er noch sagte, ich konnte es nicht verstehen. Und als ich Mr Cullen erzählte, was vorgefallen war, zeigte er bloß auf ein Schild, auf dem stand: ANGESCHRIEBEN WIRD NICHT und schickte mich zu Reverend Prospero zurück.
Am nächsten Tag fing ich auf dem Postamt an und ging dem Briefträger »zur Hand«.
Dort blieb ich dann eine ganze Woche. Ich sortierte Berge von Post, und wieder war ich überrascht, wie viele Briefe, Päckchen und Pakete die Leute verschickten und erhielten. Waren denn nicht Computer und E-Mails erfunden worden, um Briefpapier und Umschläge zu ersetzen? Anscheinend galt das nicht für Applecross.
Meine erste Arbeitswoche war alles in allem sehr vergnüglich und endete sogar noch mit einer guten Nachricht. Jules, der Briefträger des Dorfes, hatte sich einen Knöchel verstaucht, als er oben bei der Villa des Grauens versucht hatte, seine Hacken vor dem Schäferhund der McBlacks zu retten. Das Ganze schilderte er uns sehr theatralisch, gestenreich und mit dramatischer Stimme und meine Kollegen wirkten ehrlich beeindruckt: Keiner, so beteuerten sie, sollte gezwungen werden, dieser Familie die Post zu bringen.
Nun ja: Es gibt viele Gerüchte über die Brutalität der McBlacks und darüber, weshalb ihr Haus den Namen Villa des Grauens verpasst bekommen hatte, obwohl eigentlich nichts daran wirklich angsteinflößend war, mal abgesehen von den Statuen. Die Meinung des Briefträgers, dass ihr Schäferhund besonders gefährlich war, fand ich maßlos übertrieben. Aber Jules hatte sich wirklich den Knöchel verstaucht, er hatte das Bein hochgelegt und kühlte ihn mit einem Eisbeutel.
»Schlimme Geschichte, Jules …«, sagte eine der Schalterdamen.
Und die andere fragte: »Wenn du so zugerichtet bist, wer soll denn jetzt mit dem Fahrrad die Post austragen?«
Es dauerte keine Sekunde und alle starrten mich an. Und noch schneller hatte ich zugestimmt, die Aufgabe zu übernehmen.
Applecross, ich saß wieder im Sattel! Und ich war wieder im Freien, wo ich mich nun mal am liebsten aufhielt.
VIERTES KAPITEL
DAS FAHRRAD
DIE UMHÄNGETASCHE
DER UMSCHLAG MIT DEN
GOLDENEN BUCHSTABEN
Am zweiten Samstag im Juni, als die Schulen offiziell ihre Tore schlossen und die Listen ausgehängt wurden mit den Namen und Noten der Schüler, die versetzt worden waren, und auch der Schüler, die das Jahr noch einmal wiederholen mussten (nur ich), strampelte ich auf dem Fahrrad des Dorfbriefträgers durch Applecross.
Dusty rannte keuchend hinter mir her, fest entschlossen, mir nicht einen Meter Vorsprung zu gönnen, und wenn die Straße anstieg, stellte ich mich auf die Pedale. Ich hatte das Gefühl, Jules’ Fahrrad könnte jeden Moment unter mir zusammenbrechen, und das wäre gar nicht gut gewesen. Schließlich war das heute mein erster Tag als Briefträger.
Ich hatte mir die Umhängetasche quer über die Brust geworfen, und anders als Jules, der die Umschläge stets vorher ordnete und seine Route plante, ehe er sich in den Sattel schwang, holte ich immer einen Brief nach dem anderen hervor, las die Adresse und machte mich dann auf den Weg. Wie bei einer Schnitzeljagd. Der Job gefiel mir.
Außerdem bedankten sich alle, vor allem auf den Bauernhöfen, überschwänglich dafür, dass ich ihnen die Post brachte. Sie luden mich auf eine Limonade ein, und während der ganzen Zeit hielten sie ihre Hunde am Halsband fest, damit sie weder mich ins Bein bissen noch auf Dusty losgingen. Ich hatte meinen Hund noch nie so glücklich gesehen: Bei jedem Halt markierte er sein Revier, grub mit den Hinterläufen im Gras und lief dann zufrieden und völlig unbehelligt davon. Er jagte meinem Fahrrad hinterher, während die knurrenden Hütehunde mühsam von ihren Besitzern zurückgehalten wurden.
Es war kurz nach eins, als ich aus meiner Umhängetasche den letzten Brief zog, den ich noch ausliefern wollte, bevor ich nach Hause ging, um dort etwas zu essen und eine Pause zu machen.
Es war der Umschlag für die Lilys. Ich erinnere mich noch genau an jenen Moment: Ich befand mich in einer kleinen Seitenstraße mitten im Ort, neben einer langen, von einer niedrigen Trockensteinmauer eingegrenzten Wiese. Am Straßenrand stand eine knorrige Eiche mit einer dichten, verschlungenen Krone. Es war auf den Punkt genau dreizehn Uhr dreizehn. Und mir war gerade ein äußerst merkwürdiger Briefumschlag in die Finger geraten, länglich und mit verschnörkelten Buchstaben, die mit echtem Gold geschrieben zu sein schienen. Der Umschlag kam aus London, von einem gewissen »Klub der Imaginären Reisenden«, und war wie folgt adressiert:
An die ehrenwerte Familie Lily
Zauberladen
36, Eggstones Heaven
Reginald Bay, Applecross (Schottland)
Im ersten Moment hielt ich das Ganze für einen Witz. Das lag sowohl am Absender wie am Empfänger. Ich hatte noch nie von einer Familie Lily in Applecross gehört, auch nicht von einer Reginald Bay oder einem Ort namens Eggstones Heaven. Klar, in Schottland kann sogar jeder Baum mehr als einen Namen haben, aber die hier hörte ich wirklich zum ersten Mal.
Ich weiß nicht wieso, auf jeden Fall schnupperte ich an dem Brief: Er duftete leicht. Und fühlte sich seltsam an. Ich versuchte, ihn zu knicken, aber darin steckte anscheinend nicht einfach nur ein Blatt Papier, sondern etwas wesentlich Festeres. Oder nein, etwas …
Ich musste lachen. Der Umschlag fühlte sich an, als wäre er mit Sand gefüllt, der von einer Seite zur anderen rieselte, je nachdem, wie man ihn hielt.
»Wie bei einer Sanduhr«, murmelte ich leise vor mich hin und hielt den Umschlag gegen das Licht. Ich zermarterte mir das Hirn über die Adresse, aber das war sinnlos. Da lief es mir plötzlich eiskalt den Rücken hinab. »Lass uns nach Hause gehen, Dusty, okay? Vielleicht können wir mit vollem Magen besser denken.«
Dusty bellte mich glücklich an.
Ich radelte ruhig zum Hof meiner Eltern, ohne zu bemerken, dass von den Ästen der Eiche, unter der ich angehalten hatte, langsam eine Gestalt herabsegelte, die in einen Spiegelumhang gehüllt war. Ein Mann oder eine Frau oder eher noch ein Zauberwesen, mit einer langen Hakennase und blauen, eiskalten Augen, die mir neugierig hinterherblickten.
Ich glaube, das war ein Bote der Askells, wenn nicht gar Samuel Askell höchstpersönlich, aber damals konnte ich das natürlich noch nicht wissen.
Ich war völlig ahnungslos, denn noch hatte ich den Umschlag mit den goldenen Buchstaben nicht ausgeliefert. Und noch war nichts geschehen.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.