Kitabı oku: «Sara Z., verschwunden», sayfa 2
4. Es hallt von der Kirchenwand
«Nach der Sitzung ist vor der Sitzung», sagte Verena Grunder-Koch beim Abschied. «Das ist eben lokale Politik, das Bohren harter Bretter braucht Zeit. Heute hast du die ganz dicken Bretter erlebt.» Sie wartete Rahels Reaktion ab, als diese ausblieb, fuhr sie fort: «Die Polizei hat einen schweren Job. Kommandant Willisauer ist allergisch auf Kritik, dünnhäutig und eitel, das stimmt. Aber er führt seine Leute, er fordert sie, intern greift er durch.» Die Stadtpräsidentin klemmte ihre Mappe unter den Arm. Schornfeger eilte auf sie zu, bat um eine Minute, sie winkte ab, er solle morgen telefonieren.
Rahel überlegte einen Augenblick.
«Ich fand es befremdlich, wie die Herkunft des Opfers thematisiert wurde. Die Situation am Bahnhof – ich hatte nie Probleme mit Eritreern.»
«Es sind die Sorgen der Bevölkerung», entgegnete die Stadtpräsidentin, «und Bedrohung wird subjektiv erlebt. Die Politik ist männlich geprägt, leider, seit Jahrtausenden.»
«Das erklärt für mich noch nichts.» Rahel verschränkte die Arme vor der Brust.
«Politik ist eine Kunst, nicht nur des Machbaren, wie immer gesagt wird, sondern vor allem des Umgangs mit den Ängsten der Bevölkerung.»
Diese Erklärung verstand sie.
Drei Treppen führten vom Rathaus aus hinunter ins Allmendquartier: eine direkt an der Nordmauer über den behauenen Felsen, zwei bei der Kirche, wobei die eine als Tunnel durch eine Häuserreihe gebaut worden war. Meist nahm Rahel den Kirchweg, der länger war, dafür mit Strassenlaternen beleuchtet, gesäumt von denkmalgeschützten Fassaden und Fenstern, aus denen nachts Licht schien. Hier wohnten langjährige Mieter, die sich kannten und die gerne am Schattenhang lebten, solange sie dafür mit weniger Geld durchkamen.
Rahel trat durch die grosse Rathaustür ins Freie, eilte über den Vorplatz und bog in die erste Querstrasse, auf der sie zum Kirchplatz gelangte. Hinter sich hörte sie das Klacken harter Absätze auf dem Kopfsteinpflaster. Zwei Frauen mittleren Alters, die betrunken durch die Altstadt staksten – Rahel war beruhigt. Je näher sie der Kirche kam, desto deutlicher hörte sie die Schritte von vorne, als näherten sie sich aus der dunklen Nebengasse vor ihr. Das Phänomen war ihr bekannt, eine Reflexion des Schalls. Doch so täuschend wie jetzt hatte sie es noch nie erlebt. Auf der Höhe des Kirchturms hallten die Schritte aus allen Richtungen. Eine mysteriöse Vervielfachung, die kurz darauf in sich zusammenfiel. Rahel liess die beiden Frauen vorbei, die zielstrebig einer Haustür entgegenwankten. Die eine lachte, die andere sang, falsch, dafür mit Begeisterung und laut.
Rahel kam zum Pfarrsteig, wo sie sich von Sara verabschiedet hatte. Seit sie vor vier Jahren in ihre Stadt zurückgekehrt war, hatte der Ort für sie nichts mehr von der früheren Unheimlichkeit, selbst nachts strahlte er eine eigentümliche Vertrautheit aus. Eine Art Verbindung mit ihrer Schwester, mit ihrem früheren Leben, bevor es auseinanderfiel. Ein Gefühl von Zeitlosigkeit erfasste sie. Als wäre hier Anfang und Ende.
Einige Stufen tiefer verlor sich dieser Zustand, es blieb das Rauschen des Verkehrs, die Lichter, das dunkle Band der Aare.
Das Haus, in dem sie aufgewachsen war und jetzt wohnte, lag an einer Kreuzung von zwei kaum befahrenen Strassen. Sie öffnete das Gartentor, es quietschte, schloss es vorsichtig und trat auf den Kiesweg, der zur Veranda führte.
Es knackte im Unterholz.
Rahel zuckte zusammen und spürte in sich diese lauernde Angst, die sie seit Saras Verschwinden verfolgte. Sie konzentrierte sich auf das Jetzt. Der linke Schuh drückt an der Ferse. Zigarette ausdrücken. Die Handballen gegeneinander reiben und an die Schläfen pressen.
Es gibt keinen Grund zur Panik. Alles ist gut.
Sie öffnete die Verandatür. In der Küche stapelte sich Geschirr, es roch muffig. Lena hörte Musik in ihrem Zimmer.
5. Sara
Sara war stets fröhlicher gewesen als ihre Schwester. Sie hatte die Art der Grossmutter väterlicherseits, sportliche Figur, gewinnendes Wesen. Der Umgang mit Menschen fiel ihr leichter als Rahel, die brüsk und verschlossen sein konnte. Nach Abschluss des Gymnasiums plante sie ein Auslandjahr in Amerika, jedenfalls englischsprachig und keinesfalls Australien (da wollten alle hin, weshalb es für sie keine Option mehr war. Ausserdem schien ihr die Lebensweise zu lethargisch). Sara hatte Pläne für ihr Leben: Jurastudium, Anwältin in einer NGO für Kinderrechte, Familie. Dass sie den richtigen Mann finden würde, stand ausser Frage. Sie hatte dieses Flüchtige, Unverbindliche im Umgang mit Männern, die vergnügt-natürliche Anziehung derer, die wissen, dass sie begehrt werden. Nicht dass sie dauernd wechselnde Liebschaften gehabt hätte – im Grunde war sie konservativ, und das Begehrtwerden erfüllte bereits einen Grossteil ihrer erotischen Fantasie.
Während zweier Jahre hatte sie einen Freund gehabt, von dem sie sich im Herbst getrennt hatte. Er verstand nicht, was an ihm hätte ungenügend sein sollen. Es liege nicht an ihm, hatte sie ihm gesagt und kindisch gekichert, da sie sich fühlte wie eine Schauspielerin in den billigen Serien, die ihre Mutter schaute.
Im März begann sie eine Affäre mit einem zehn Jahre älteren Mann namens Oskar, der kurz vor der Heirat stand. In einer unkontrollierbaren Manie suchte er Sex mit jungen Frauen, Sara traf er in einem Café (ihr war eine Münze zu Boden gefallen, er gab sie zurück). Sie war sofort verliebt, auf den ersten Blick. Doch entgegen seinen Beteuerungen heiratete Oskar im Mai. Die Feier soll bieder gewesen und Oskar stockbesoffen. Sara war untröstlich, löschte seine Nummer und lernte verbissen für die Matura.
Am 4. Juni 1998, einem Donnerstag, hatte sie Prüfungen. Über Mitteleuropa richtete sich ein stabiles Sommerhoch ein, die Böden trockneten, es wurde heiss. Am Abend ging sie mit Rahel in den Stadtpark, ein längliches Gebilde, das sich um einen Teil der Altstadt zog – eigentlich nichts weiter als ein Flickenteppich aus Rasen, Gehölz und Rabatten. Um die Bänke hatten es sich Jugendliche gemütlich gemacht, die den Sommer dieses vielversprechenden Jahres gemeinsam verbringen wollten.
Emilios Geburtstagsparty fand im hinteren Teil statt. Er war in Feierlaune, denn er wurde dreiundzwanzig und glaubte an das Glück von Primzahlen. Bis vor kurzem hatte er mit Rahel das Lehrerseminar besucht (sie hatte nach drei Semestern abgebrochen). Er war verliebt in ihre Art, unprätentiös und doch besonders zu sein. Irgendjemand brachte kalifornischen Rotwein aus dem Sonoma County, mit designten Etiketten, damals eine Rarität. Marihuana war im Umlauf, Rahel verzichtete.
Sara und ihre Freunde sassen etwas abseits auf einer riesigen Wolldecke. Im Laufe der Nacht stiessen weitere Personen dazu, die meisten kannte sie vom Sehen. Ein blonder Schreiner mit breitem Rücken und zurückgebundenem Haar schlich um sie herum, setzte sich neben sie, die Zigarettenpackung wie ein Vietnam-GI zwischen Schulter und T-Shirt gesteckt. Er quatschte auf sie ein und versuchte sie zu küssen. Sara rutschte von ihm weg. Der blonde Schreiner verlangte ihre Nummer.
Sara winkte ab. «Ich muss jetzt gehen», sagte sie und rief nach ihrer Schwester. Wenig später verabschiedeten sie sich von ihren Freunden und zogen kichernd durch die Gassen bis zur Treppe bei der Kirche – wo sich Sara mit dem Hinweis auf den verloren gegangenen Armreif umdrehte und verschwand.
Die erste Befragung fand drei Tage später in einem kahlen Raum statt. Rahel wartete, bis der Polizist Kaffee brachte. Er stellte ihn hin, ein dünnes Wässerchen in einem beigen Plastikbecher.
«Wie in einem Film.» Rahel entschuldigte sich umgehend. «So habe ich es nicht gemeint.»
«Wie sonst?», fragte der Polizist, setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches.
Rahel zögerte, sie war verwirrt.
«Von mir aus können wir beginnen – es ist nur –, es fühlt sich unwirklich an, hier zu sein.»
«Das höre ich oft», beruhigte sie der noch junge Ermittler mit näselnder Stimme, sein linkes Augenlid zuckte. Er stellte präzise Fragen, sie antwortete so ausführlich sie vermochte. «Jedes Detail ist hilfreich», wiederholte der Ermittler mehrmals.
Sie verstrickte sich in Widersprüche, war sich bei einfachen Begebenheiten unsicher, ob sie tatsächlich so stattgefunden hatten.
«Ich mache mich noch selbst verdächtig», murmelte sie resigniert, als es ihr nicht gelang, die Ereignisse zeitlich zu ordnen.
«Die Erinnerung», erklärte er trocken, «ist eine Konstruktion – oder um es weniger gewählt auszudrücken: ein Sauhund.»
Erleichtertes Lachen an beiden Seiten des Tischs. Auf seine Nachfrage beschrieb sie noch einmal den blonden Schreiner. Seine Tätowierung am Oberarm, oben an der Schulter. Ein Ornament, kein Bild, etwa so breit wie eine Hand.
Dominik Schmidlin, der Schreiner, wurde festgenommen. Er log, da er kein Alibi vorzuweisen hatte. Später behauptete er, er habe im Park geschlafen, unter einem Busch. Schwierige Familienverhältnisse, Vater und Bruder polizeibekannt. Die Staatsanwaltschaft ordnete Untersuchungshaft an.
Sein Bild erschien in der Zeitung: «Hat er Sara getötet?»
Nachgewiesen werden konnte ihm nichts. Doch Sara blieb verschollen, und Dominik Schmidlin weiterhin tatverdächtig. Er setzte sich zur Wehr, erklärte jedem, dass er damit nichts zu tun habe. Niemand schien ihm zu glauben; je mehr er sich verteidigte, desto verdächtiger machte er sich. Ein Teufelskreis, aus dem er keinen Ausweg fand.
Ende September raste er auf der Hauptstrasse zwischen Sursee und Beromünster in einen Baum und verstarb im brennenden Auto.
Es hiess, der Unfall sei als Schuldeingeständnis zu werten. Beweise gab es keine.
6. Sara
Dominik Schmidlin blieb nicht der Einzige, der am Verschwinden Saras zugrunde ging. Auch die Ehe der Zeittlingers zerbrach an der Hoffnung, dass die Tochter eines Tages wieder vor der Tür stehen würde. An den Berichten über Marc Dutroux, dem Monster aus Belgien, und Natascha Kampusch, die ein Jahrzehnt in einem Keller gefangen gehalten worden war. Mitten in einem Wohnquartier.
Rahels Mutter bekam Temesta (ein Beruhigungsmittel) verschrieben, trank Likör und wurde von beidem abhängig. Der Vater zog zu einer Frau mit zwei Töchtern. Auch sein Leben sei begrenzt, schrie er beim Auszug. Das Warten treibe ihn in den Wahnsinn.
Im folgenden Winter wurde Mutter mit einer akuten Psychose in die Klinik eingewiesen. Rahel rief ihren Vater an und wollte ihm mitteilen, dass er sich nie mehr zu melden brauche. Es sei besser, keinen Vater zu haben als einen abwesenden.
Als sie den freundlichen Klang seiner Stimme hörte, begann sie zu schluchzen und hängte auf.
Neun Jahre nach Saras Verschwinden durchsuchte ein Wanderer namens Jost Gabathuler eine Hütte auf dem Obergrenchenberg. Er hatte sich Zutritt verschafft, um sich vor einem aufziehenden Wintersturm in Sicherheit zu bringen. Es war kalt, der Biswind jagte über die Höhen. Gabathuler suchte nach Wolldecken, damit er die Nacht überstand. Auf dem Boden eines mit Blumen bemalten Wandschranks fand er eine Plastiktüte, darin Saras Kleider. Als er bemerkte, dass es Frauenkleider waren, legte er die Tüte beiseite. Seiner Frau schrieb er eine SMS, es gehe ihm gut, er übernachte in einer gemütlichen Hütte.
Der Wind rüttelte an den Holzlatten, pfiff durch jede Ritze, Gabathuler fror und fürchtete sich vor einer Lungenentzündung. Mit dem ersten Morgenlicht stand er auf, räumte seine Sachen zusammen und verstaute sie im Rucksack. Er stand bereits in der Tür, als er innehielt, sich umdrehte und den Wandschrank anstarrte, in dem er die Plastiktüte verstaut hatte. Er öffnete den Schrank und holte die Plastiktüte hervor. Kleider einer mittelgrossen Frau, schlank, Schuhe, Unterwäsche. In der Hosentasche ein Haarband, eine Armbanduhr sowie ein leeres Portemonnaie. Im Schuh ein zusammengefaltetes Stück Papier, er öffnete es, eine Zahlenreihe war darauf gekritzelt. Er faltete das Papier wieder zusammen und steckte es zurück in den Schuh. Ein bedrohliches Gefühl, das er nicht einzuordnen vermochte, beschlich ihn. Er hatte das Bedürfnis, seine Frau anzurufen, aber der Akku seines Handys war leer.
Draussen schneite es, er ging aufs Geratewohl los, bis er auf eine Wanderwegtafel stiess. Er stapfte weiter durch den verwehten Schnee bis zu einem Ausflugsrestaurant, dessen Wirt er kannte. Dieser rief die Polizei und versorgte ihn mit Kaffee und Frühstück.
Jost Gabathuler hatte Hunger, aber keinen Appetit. Das Brot liess er stehen, ebenso den Käse.
Saras Überreste wurden am 4. Dezember 2008 unweit der Hütte gefunden. In einer unzugänglichen Nische der Kalkfelsen, geschützt von Tannen, zugedeckt mit einer dicken Schicht aus Steinen, Erde und Ästen. Anhand der Zahnstellung und eines DNA-Abgleichs wurde sie identifiziert. Der Fall Sara Zeittlinger wurde erneut aufgerollt. Als Experte für ungelöste Fälle übernahm Otto Schulze die Leitung – der Mann von Dorothea Schulze, geb. von Landenberg.
7. Ein guter Tag
Die Amsel im Garten besang die Morgendämmerung. Rahel erwachte, suchte Mareks Körper – er ist ja weg, dachte sie –, drehte sich zur Seite und schlief weiter. Kurz darauf wurde sie von Lenas Schritten geweckt. Weshalb ihre Tochter mit den Fersen dermassen auf den Boden stampfte, blieb ihr ein ärgerliches Rätsel. Andererseits war das Getrampel auch beruhigend: Lena war hier, sie stapfte herum, der morgendliche Hunger trieb sie in die Küche, sie musste auf die Toilette, zog sich an. Alles war gut.
«Mama», rief Lena, «soll ich Kaffee kochen?»
«Ich bin unterwegs», rief Rahel etwas zu aufgeweckt. Sie zog sich hastig an und eilte in die Küche.
«So, da wären wir.»
Lena lachte.
«Die Vögel haben mich geweckt. Ich bin nur für einen klitzekleinen Augenblick wieder eingenickt.»
«Aber Hauptsache, ich bin pünktlich in der Schule.»
«Kluges Kind.»
Rahel fuhr ihr über die Stirn und durch die Haare.
«Wir haben es gut», sagte Lena und umarmte ihre Mutter.
«Ja, wir haben es gut», versicherte Rahel und schmiegte sich an sie.
«Vergiss deinen Kaffee nicht», mahnte Lena, bevor sie aus dem Haus rannte.
Mach dir keine Sorgen, dachte Rahel, und schaute, wie ihre Tochter mit der schweren Schulmappe den Kirchsteig hocheilte. Sie rauchte eine Zigarette, suchte die Amsel (ausgeflogen, dafür entdeckte sie einen Igel im Gehölz), danach ging sie zurück ins Haus. Nach einer ausgiebigen Morgendusche (mit anschliessender Gesichtsmaske) zog sie einen leichten, grünen Rock an. Ihr war nach Grün zumute, der Farbe junger Ahornblätter.
Im Atelier hielt sie sich die Handballen vor die Augen, atmete aus und wartete, bis sie innerlich ruhig wurde. Sie stellte sich den schleichenden Löwen auf dem Felsen vor, öffnete die Augen und richtete sich für die Arbeit ein: Papier, Pinsel, Tusche – alles sorgfältig auf dem Tisch angeordnet.
Gegen zwölf Uhr überprüfte sie ihr Werk aus verschiedenen Perspektiven und kam zur Überzeugung, dass der Löwe geschmeidig und gefährlich lauerte. Etwas Kraftvolles hatte Dorothea gewünscht, ein Kunstwerk, keine biedere Einladung zu einem fünfundvierzigsten Hochzeitstag.
Rahel nahm ihr Handy und schrieb Dorothea, dass die Einladung fertig sei.
«Das freut mich», antwortete Dorothea per SMS. «Darf ich vorbeikommen und das Werk begutachten?»
«Gerne. Um zwei Uhr?»
«Ausgezeichnet. Ich bringe frische Erdbeeren mit Schlagrahm.»
Sie reinigte die Malutensilien und räumte den Arbeitsplatz auf. Danach gönnte sie sich einen Kaffee und setzte sich auf der Veranda in den Schatten. Auf dem Display ihres Handys erschienen drei neue Nachrichten. Eine Sprachmitteilung von Marek: «Ich liebe dich. Mit dem Festival bin ich bald am Ende, und mit den Nerven auch.»
Die Werbemail eines Kulturveranstalters – «Die Zirkuswoche steht vor der Tür! Nicht verpassen!» – schien ihr unbeholfen betitelt, doch das Programm sah vielversprechend aus.
Die dritte Nachricht war von Margot, der umtriebigen Fraktionspräsidentin, die um eine Auskunft bezüglich der Kommissionssitzung bat.
Rahel legte das Gerät auf die Fensterbank und zündete sich eine Zigarette an.
Eins nach dem andern, dachte sie und fragte sich, weshalb sie sich bloss für die Politik hatte überreden lassen. Es war ein Fehler gewesen, sich auf die Wahlliste der Grünen setzen zu lassen. Selbst auf den letzten Listenplatz, mit so gut wie keiner Wahlchance, wie Margot versichert hatte.
Rahel wurde trotzdem ins Stadtparlament gewählt (obschon sie politisch nichts geleistet hatte, ausser am Parteistand den Passanten das Programm aufzusagen). Doch Rahel war keine gewöhnliche Kandidatin. Sie war die Schwester von Sara Zeittlinger, deren Schicksal jede und jeden in der Stadt beschäftigt und mitgenommen hatte. Sie war die Überlebende, die daran erinnerte, dass der Mörder nicht gefasst wurde, dass es durchaus einer von hier sein könnte.
Dorothea Schulzes Kopfbedeckung war dezenter als die gestrige: ein schlichter Strohhut mit Stoffband. Sie setzten sich an den Gartentisch, Dorothea schlug die Beine übereinander und zündete sich genüsslich eine Zigarette an. «Wenigstens bei dir darf ich noch Mensch sein. Es ist schrecklich, wie sich die Welt entwickelt. Alle nüchtern, aber dumm wie Stroh.»
«Erst die Erdbeeren oder die Zeichnungen?», fragte Rahel.
«Weisst du, meine Gute, den Löwen habe ich gestern gesehen. Ich bin sicher, dass er heute noch schöner schleicht.»
«Den Schriftzug hast du noch nicht gesehen.»
«Kalligraphie beherrscht niemand wie du. Es wird wunderbar werden. Ich weiss es.»
«Also die Erdbeeren?»
Auch auf die Früchte verspürte Dorothea wenig Lust.
«Lieber noch ein Zigarettchen. Wenn du etwas Wasser bringen könntest?»
Rahel brachte einen Krug Wasser und zwei Gläser. Sie schlug ebenfalls die Beine übereinander und zündete sich keine Zigarette an.
«Netter Rock, hübsches Grün, steht dir gut.»
8. Otto
Rahel bedankte sich für das Kompliment und fragte nach dem wirklichen Grund des Besuchs. Und im Übrigen gefalle ihr, dass sie, Dorothea, keinerlei Begabung als Schauspielerin und auch kein Talent zur Lüge habe.
«Findest du?», entgegnete Dorothea, zog an der Zigarette, blies einen Rauchkringel aus, dem sie bei der Auflösung in der warmen Luft zusah. Mir derselben Ruhe betrachtete sie Rahels Gesicht.
«Sprich es aus.» Rahel kannte diese besorgten Blicke nur zu gut.
«Otto spricht von früher. Es zieht ihn wieder hinein, er spürt diesen Sog, der von der Unerklärlichkeit des Falls ausgeht. Er sagt, Saras Kleider hätten nicht länger als ein paar Monate in dieser Hütte gelegen. Der Täter habe eine Spur gelegt, um Interesse zu wecken. Er wolle beachtet werden – Otto ist überzeugt, dass er den Verlauf genauestens verfolgt und dass er aus der Gegend sei. Es müsse eine Verbindung geben, die nicht weiterverfolgt wurde.»
Rahel wartete, ob ihre Freundin weitersprechen würde, erhob sich und strich den Rock glatt.
«Das sind keine neuen Gedanken», antwortete sie leise und nahm den halbvollen Krug, um ihn mit frischem Wasser aufzufüllen.
Dorothea erhob sich ebenfalls, rückte die Bluse zurecht und folgte ihr in die Küche.
«Ich glaube, liebe Rahel, es ist Zeit für ein Dessert.»
«Das sehe ich auch so.»
Dorothea kippte die Erdbeeren in ein Abtropfsieb und reinigte sie unter dem Wasserhahn. Sie plauderte über eine Reise nach Mexiko, die sie gerne buchen würde. Jedoch sei das mit Otto nicht mehr so einfach, er sei ortsgebunden und ängstlicher als früher, was sie verstehe, aber trotzdem schade fände. Und eben: Dieser Fall beschäftige ihn, er habe vor der Pension Teile der Akten kopiert, die er jetzt regelmässig studiere. Er würde es gerne noch einmal versuchen.
Rahel schnitt die Beeren in vier Teile und legte sie in eine Glasschüssel. Sie sammelte die Stiele ein, einen nach dem anderen, als sei sie in die Arbeit vertieft und höre gar nicht hin.
«Nach zwanzig Jahren?», fragte sie schliesslich.
«Ich möchte ihm diese Chance geben. Bevor sein Geist sich von dieser Welt verabschiedet», erwiderte Dorothea. «Damit er seinen Frieden findet.»
Rahel trocknete die Hände ab und wischte eine Strähne hinters Ohr. «Damit Otto seinen Frieden findet. Darum geht es dir?»
«Ich dachte an einen freiberuflichen Ermittler.»
«Wenn es dir so viel bedeutet: Mach es. Ich stehe nicht im Weg.» Sie widmete sich wieder den Erdbeeren und fügte beiläufig an, dass der Täter sowieso nie gefunden werde und es für sie auch nicht mehr wichtig sei. «Die Zukunft zählt, Lena, Marek. Der Teil meines Lebens, der verschont geblieben ist, der kleine Rest. Ich will nichts mehr hören von Verdächtigen, Spuren und neuen Hinweisen. Keine Worte mehr, die Hoffnung entfachen, nur um mich anschliessend noch einsamer zurückzulassen. Sogar wenn er von hier wäre, niemand wird ihn finden, niemand wird je wissen, was Sara erlebt hat, bevor sie starb.»
Wütend schlug sie den Rahm über die Erdbeeren, den Löffel schmiss sie in die Spüle.
«Entschuldige.» Dorotheas Hände suchten Halt an einer Stuhllehne. «Wenn es so ist, dann lassen wir es.»
«Nein. Wir lassen es nicht», fiel ihr Rahel ins Wort. «Nein. Auf keinen Fall. Ich will wissen, wer es war. Er darf nicht davonkommen. Er muss ein Gesicht bekommen. Damit dieser Wahnsinn einmal ein Ende hat – nicht nur für uns.»
Dorothea nahm sie in den Arm.
«Essen wir die verdammten Erdbeeren.» Rahels Stimme zitterte. «Die müssen weg.»
«Die können warten», antwortete Dorothea und hielt die weinende Rahel wie die Tochter, die sie nie hatte.
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