Kitabı oku: «Ausnahmezustand (E-Book)»
Aymo Brunetti
Ausnahmezustand
Das turbulente Jahrzehnt nach der Großen Finanzkrise
ISBN Print: 978-3-0355-1122-2
ISBN E-Book: 978-3-0355-1255-7
Gestaltung : whitepaper.ch
1. Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© 2018 hep verlag ag, Bern
Vorwort
VORWORT
2011 veröffentlichte ich ein Buch mit dem Titel «Wirtschaftskrise ohne Ende?». Darin werden die Hintergründe des Ereignisses erläutert, das die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich jüngst treffend – und in Anlehnung an die Große Depression der 1930er-Jahre – als die «Große Finanzkrise» bezeichnet hat. Seit dem Höhepunkt dieser epochalen Verwerfung waren damals drei Jahre vergangen, die Eurokrise war aber nach wie vor in vollem Gang. Sie schien das Potenzial zu haben, weitere globale Finanzmarktturbulenzen auszulösen. Wie im Titel des Buches zum Ausdruck kam, hatte man damals den Eindruck, mit einer endlosen Abfolge von gesamtwirtschaftlichen Krisen konfrontiert zu sein.
Inzwischen sind seit dem historischen Kollaps der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers 10 Jahre vergangen, und die jüngste wirtschaftliche Entwicklung zeigt, dass die Wirtschaftskrise anscheinend doch ein Ende gefunden hat. Kratzt man aber etwas an der Oberfläche, erkennt man rasch, wie sehr die Weltwirtschaft in vielerlei Hinsicht nach wie vor durch die Nachwirkungen dieses Ereignisses gezeichnet ist. Wir sind zwar nicht mehr in einer globalen Wirtschaftskrise, befinden uns aber – daher der Titel des Werkes – mehr oder weniger ausgeprägt in einem gesamtwirtschaftlichen Ausnahmezustand. Bis zu einer echten Normalität sind noch einige Klippen zu überwinden.
Das 10-Jahr-«Jubiläum» des Ausbruchs der Großen Finanzkrise soll Anlass sein, das Ereignis noch einmal aus heutiger Sicht Revue passieren zu lassen, vor allem aber darzulegen und einzuordnen, was seither passiert ist und inwieweit wir heute die wichtigsten Schockwirkungen hinter uns gelassen haben. Dabei bemühe ich mich darum, die wichtigsten Zusammenhänge möglichst knapp und auf eine Art und Weise zu erläutern, die für interessierte Laien verständlich ist. Das Buch beruht zum Teil auf einer Artikelserie, die in der Schweizer Wochenzeitschrift «Das Magazin» erschienen ist.
Wie sehr die heutige Situation nach wie vor von den krisenartigen Ereignissen geprägt ist, zeigen die Nachrichten, die uns während der Schlussredaktion dieses Buches Ende Mai 2018 aus Italien erreichten. Die chaotische Regierungsbildung war dort geprägt von Spekulationen über die Zukunft des Landes im Euroraum. Kaum hatten die Diskussionen darüber begonnen, schon waren die Finanzmärkte in heller Aufregung und die Kurseinbrüche etwa bei Bankaktien und die steigenden Zinsaufschläge auf italienischen Staatsanleihen erinnerten stark an die überwunden geglaubte Eurokrise. Dies zeigt deutlich – und das ist auch die Schlussfolgerung zu diesem Thema in diesem Buch –, dass die Grundprobleme der Eurozone bisher nicht gelöst sind, weshalb auch in Zukunft immer wieder mit solchen Fieberschüben zu rechnen sein wird.
Dieses Buchprojekt hat stark von den unzähligen Diskussionen profitiert, die ich in den vergangenen Jahren mit sehr vielen Kolleginnen und Kollegen innerhalb und außerhalb der Universität zu diesen Themen führen konnte. Auch die zahlreichen Rückmeldungen von Studierenden, die in verschiedenen meiner Vorlesungen und Seminare mit diesem Stoff konfrontiert wurden, haben mir sehr geholfen. Namentlich erwähnen möchte ich Thilo Grosser, Preetha Kalambaden und Daniel Steffen, die das gesamte Manuskript durchgelesen und mir wertvolle Hinweise gegeben haben. Von Seiten des hep-Verlages erhielt ich wichtige Unterstützung vom Projektleiter Christian de Simoni sowie von David Burgherr, der für die Datenrecherche verantwortlich zeichnete.
INHALT
Vorwort
Einleitung
Teil I Was wir heute über die GroSSe Finanzkrise wissen
1 Der versteckte Bankensturm vom Sommer 2007
2 Das Lehman-Erdbeben und die Systemkrise vom Herbst 2008
3 Wie eine zweite große Depression vermieden werden konnte
Teil II Was seit der Krise geschah
4 Wirtschaftsentwicklung: Wie weit die Erholung gediehen ist
5 Finanzstabilität: Im Banne von «Too big to fail»
6 Geldpolitik: Ein Ozean an Liquidität
7 Staatsfinanzen: Ein Himalaya an Schulden
8 Euro: Ein lebensbedrohlicher Stresstest
9 Zinsen: Extreme Tiefzinsen als neue Normalität?
TEIL III WO WIR HEUTE STEHEN
10 Wie stabil ist das Finanzsystem heute?
11 Gesamtwirtschaft: Ausnahmezustand oder wieder Normalität?
12 Der Euro bleibt ein Schönwetterkonstrukt
Schlusswort: Eine Krise auch der Ökonomie?
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Glossar
Einleitung
EINLEITUNG
«12 der 13 wichtigsten amerikanischen Finanzinstitute waren ernsthaft bedroht, die nächste Woche nicht zu überleben.» Diese Aussage stammt nicht von einem zuspitzenden Journalisten oder einem dramatisierenden Sachbuchautor, sondern vom ehemaligen Chef der US-Notenbank Ben Bernanke. Es fällt schwer, sich einen weniger aufgeregten Menschen vorzustellen als diesen Wirtschaftswissenschafter von Weltruf. Wenn ein solch kühler Analytiker der offiziellen Untersuchungskommission der amerikanischen Regierung zur Finanzkrise eine derartige Aussage zu Protokoll gibt, zeigt das die Dramatik der Ereignisse im Herbst 2008. Und Bernanke beließ es nicht dabei. Er bestand zudem darauf, dass seiner Einschätzung nach dieser finanzielle Crash schlimmer gewesen war als derjenige, der die Große Depression der 1930er-Jahre ausgelöst hatte. Als Ökonom kann man keinen dramatischeren Vergleich ziehen. Die Große Depression war die weitestreichende globale Wirtschaftskrise der letzten 100 Jahre. Nicht wenige sehen in den politischen Nachwirkungen dieser wirtschaftlichen Katastrophe einen wesentlichen Auslöser für den – 10 Jahre nach dem Beginn der Depression ausgebrochenen – Zweiten Weltkrieg.
Es ist also kaum übertrieben, die Große Finanzkrise als ein wirtschaftliches Jahrhundertereignis zu bezeichnen. Und es überrascht deshalb nicht, dass sie auch 10 Jahre nach ihrem Höhepunkt nach wie vor sehr präsent ist, wenn auch zum Glück anders als nach der Großen Depression der 1930er-Jahre. In den allermeisten Ländern ist es nämlich nicht zu einer wirtschaftlichen Katastrophe gekommen. Zwar löste das Erdbeben auf den Finanzmärkten teils ausgeprägte Rezessionen aus, aber diese waren meist deutlich kürzer und weniger tief als 80 Jahre zuvor. Und dennoch: die heutige wirtschaftliche Situation ist stark von den Nachwirkungen der Finanzkrise und vor allem den letztlich erfolgreichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Krisenbekämpfung gezeichnet. Vergleichen wir das mit der Situation in den Jahrzehnten vor 2008, leben wir in verschiedener Hinsicht nach wie vor in einem wirtschaftlichen Ausnahmezustand. Den Hintergründen und Facetten dieser speziellen Situation nachzugehen ist das Ziel des vorliegenden Buches.
Das Buch hat drei Teile, die chronologisch geordnet sind.
→ TEIL I bildet die Grundlage und schildert die Essenz der dramatischen Ereignisse vor 10 Jahren. Auf Basis eines ganz einfachen Konzeptes werden die Hintergründe, der Verlauf und die letztlich erfolgreiche Bekämpfung der Großen Finanzkrise erläutert. Ziel ist es, dem eiligen Leser – ohne dass er dafür Vorwissen benötigen würde – auf möglichst knappem Raum verständlich zu machen, was geschah und vor allem welche Mechanismen für die Jahrhundertkrise verantwortlich waren.
→ TEIL II erläutert auf dieser Basis, welche Auswirkungen die Krise im Verlaufe der letzten 10 Jahre auf die makroökonomische Entwicklung gehabt hat. Wir beginnen mit den Effekten auf die Gesamtwirtschaft, betrachten dann das natürlich besonders betroffene Bankensystem und analysieren danach der Reihe nach die zum Teil sehr weitgehenden Veränderungen in der Geldpolitik, der Verschuldungssituation, der Eurozone und der Zinsentwicklung.
→ TEIL III betrachtet die heutige Situation und analysiert, wie gut wir in verschiedener Hinsicht auf zukünftige Entwicklungen vorbereitet sind. Wir starten mit einer Einschätzung, wieweit es gelungen ist, das globale Finanzsystem auf eine stabilere Grundlage zu stellen. Dann analysieren wir, ob in gesamtwirtschaftlicher Hinsicht und in Hinsicht auf die makroökonomische Wirtschaftspolitik (Geldpolitik und Staatsverschuldung) inzwischen Normalität eingekehrt ist. Und schließlich erläutern wir die Hintergründe der nach wie vor speziellen Situation in der Eurozone und analysieren, wie weit notwendige institutionelle Anpassungen inzwischen gediehen sind.
Teil I Was wir heute über die GroSSe Finanzkrise wissen
TEIL I
Was wir heute über die Große Finanzkrise wissen
1Der versteckte Bankensturm vom Sommer 2007
2Das Lehman-Erdbeben und die Systemkrise vom Herbst 2008
3Wie eine zweite große Depression vermieden werden konnte
Bücher über die Finanzkrise füllen inzwischen halbe Bibliotheken. Deshalb ist es kaum sinnvoll, dieses Ereignis noch einmal in allen Details darzustellen. Ziel dieses ersten Teils ist es vielmehr, mit etwas zeitlichem Abstand die wirklich zentralen Mechanismen zu erläutern, die für das Verständnis der Krise und ihrer erfolgreichen Bekämpfung notwendig sind. Diese Erkenntnisse sind nicht nur aus wirtschaftshistorischer Sicht – für das Verständnis dieser einen Krise – relevant, sondern sie zeigen auch die Mechanismen auf, die letztlich hinter jeder derartigen krisenhaften Entwicklung stehen. Zudem bilden sie die notwendigen Grundlagen zur Beurteilung der längerfristigen Folgen der Krise, die den Fokus dieses Buches darstellen.
Wir beginnen in Kapitel 1 mit den Hintergründen und dem Ausbruch der Krise. Dabei betonen wir die oft zu wenig erkannte Tatsache, dass auch diese Bankenkrise letztlich durch einen Bankensturm ausgelöst wurde. Wie immer lag auch hier der Ursprung der Krise bei kurzfristigen Schulden von Finanzinstituten. In Kapitel 2 erläutern wir auf dieser Basis Schritt für Schritt die zentralen Elemente des verheerenden Flächenbrandes, der im September 2008 mit dem Kollaps der US-Investmentbank Lehman Brothers den globalen Finanzsektor erfasste. Kapitel 3 schließlich fasst die wichtigsten Bausteine der sehr weitgehenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Brandbekämpfung zusammen.
1 Der versteckte Bankensturm vom Sommer 2007
1 DER VERSTECKTE BANKENSTURM VOM SOMMER 2007
Der Kollaps der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im Herbst 2008 war das bei weitem bekannteste Ereignis der globalen Finanzkrise. Deutlich weniger bekannt ist, dass die Krise schon rund ein Jahr früher begann. Am 9. August 2007 ereignete sich ein massiver Bankensturm, wie es ihn seit der Großen Depression der 1930er-Jahre nicht mehr gegeben hatte. In der Öffentlichkeit blieb dieses Ereignis zunächst weitgehend unbemerkt, da nicht Kleinsparer ihre Banken stürmten. Vielmehr waren es große Unternehmen und Finanzinstitute, die den Banken das Vertrauen entzogen; und das spielte sich nicht vor den Bankschaltern ab, sondern auf den «unsichtbaren» elektronischen Finanzmärkten. Die Auswirkungen dieses Bankensturms waren aber ebenso verheerend. Mit massiven Interventionen der Notenbanken konnte die Situation noch für etwas mehr als ein Jahr unter Kontrolle gehalten werden, sie verschlimmerte sich aber zusehends, bis mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers die Finanzmarktturbulenzen endgültig zur wirtschaftlichen Jahrhundertkrise wurde. Will man die Krise wirklich begreifen, so muss man die Ursachen dieses Bankensturms und seine Auswirkungen verstehen.
EIN BANKENSTURM MADE IN HOLLYWOOD
Es ist eine eindrückliche Szene in dem berühmten Hollywoodfilm «It’s a wonderful life». George Bailey, der von James Stewart gespielte Chef einer kleinen Bank, möchte gerade in die Flitterwochen aufbrechen, als er eine Menschenansammlung vor dem Gebäude seiner Bank sieht. Er eilt zum Bankschalter, wo ihm die Menge aufgeregt mitteilt, dass alle ihre Einlagen abheben wollen; Grund ist ein (unwahres) Gerücht, dass die Bank in Schwierigkeiten sei. Bailey hebt zu einer verzweifelten Rede an, um zu erklären, dass mit der Bank alles in Ordnung sei, dass es aber dennoch unmöglich sei, alle Einleger auszuzahlen: «Das Geld ist nicht hier. Es ist in Joes Haus, in Mrs. Maclans Haus und in Hunderten von anderen Häusern angelegt.» Es gelingt ihm schließlich, die Einleger zu überzeugen, im Moment nur einen Teil des Geldes abzuheben, das er mit seinem gesamten Bargeld, das eigentlich für die Flitterwochen vorgesehen war, auszahlt; damit rettet er seine Bank vor dem Untergang.
Die Szene ist vor allem auch deshalb so eindrücklich, weil George Baileys Bank weit davon entfernt ist, wegen unseriösen Geschäftsgebarens überschuldet zu sein, das heißt, vor dem Konkurs zu stehen. Konkurs ist ein Unternehmen dann, wenn die Verluste so groß sind, dass es mehr Schulden hat als Dinge, die ihm gehören. Eine solche Insolvenz kann jedem Unternehmen und natürlich auch Finanzinstituten passieren, und wir werden sehen, dass Bankenkonkurse im Verlaufe der Finanzkrise eine wichtige Rolle spielten. Auch solvente Banken sind aber immer einem zusätzlichen, existenzbedrohenden Risiko ausgesetzt, das bei anderen Unternehmen keine vergleichbare Rolle spielt, dem Risiko nämlich, in unglaublichem Tempo Liquidität zu verlieren, weil alle Kunden plötzlich ihr Geld zurückhaben wollen. Derartige sogenannte Bankenstürme sind es, die Krisen im Finanzsektor so bedrohlich machen. So gut wie jede Finanzkrise hat ihren Ursprung in Bankenstürmen.
WIE ENTSTEHT EIN BANKENSTURM?
Für das Verständnis aller wichtigen Mechanismen der Finanzkrise ist es hilfreich, wenn man sich eines einfachen Konzepts bedient, nämlich der stilisierten Bilanz einer Bank. Eine Bilanz stellt dar, was einem Unternehmen gehört und wie es finanziert ist. In Abbildung 1 sehen wir die Darstellung der Bilanz einer ganz einfachen Geschäftsbank, die ausschließlich im Kreditgeschäft tätig ist. Auf der linken Seite des T-Diagramms steht, was der Bank gehört (Verwendung der Mittel), und auf der rechten Seite, wie es finanziert ist (Herkunft der Mittel). Da alles, was die Bank besitzt, finanziert sein muss, steht auf beiden Seiten der Bilanz die gleiche Summe (beide Seiten sind gleich lang).
Eine traditionelle Geschäftsbank finanziert sich zur Hauptsache mit den Mitteln, die wir auf unseren Bankkonten haben. Diese Kundeneinlagen bilden deshalb den Löwenanteil der Mittelherkunft auf der rechten Seite (in der Abbildung gelb). Der relativ kleine Rest der Finanzierung stammt aus Mitteln, die den Besitzern der Bank gehören, genannt Eigenkapital (in der Abbildung rot). Würde die Bank die gesamten Mittel in bar halten, so stünde auf der linken Seite der Bilanz (Verwendung der Mittel) nur Geld. Dann wäre es aber keine Bank, sondern ein besserer Safe. Zu einer Geschäftsbank wird das Unternehmen dadurch, dass es Einlagen als Basis für die Kreditvergabe (in der Abbildung blau) verwendet; im Falle von George Baileys Bank sind das etwa Hypothekarkredite an Hausbesitzer. Die Bank verdient bei diesem Geschäft, weil sie Einlegern einen tieferen Zins bezahlt, als sie von den Kreditnehmern erhält. Entscheidend ist jetzt, dass wir Einleger unser Geld jederzeit zurückfordern, die Kredite (die z. B. für den Kauf eines Hauses oder einer Maschine verwendet wurden) aber nicht jederzeit sofort zu Geld gemacht werden können. Diese ungleichen Fristen auf den beiden Seiten der Bilanz sind deshalb möglich, weil in der Regel an einem typischen Tag nur ein kleiner Teil des eingelegten Geldes abgehoben wird. Deshalb genügt es, wenn die Bank nur einen kleinen Teil der Mittel als Bargeld hält (in der Abbildung grün).
An dieser Darstellung sehen wir die Quelle von Bankenstürmen – und damit George Baileys Problem – recht eindeutig: Die gelbe Fläche der Einlagen ist wesentlich grösser als die grüne Fläche des Bargelds; wenn alle Einleger ihr Geld gleichzeitig zurückwollen, ist nicht genügend Bargeld da, um sie auszuzahlen. Abbildung 2 zeigt schematisch die Effekte eines Bankensturms; schon wenn ein relativ kleiner Teil der Einleger ihr Geld zurückfordern, verliert die Bank alles Bargeld und wird damit illiquide:
Die Bank könnte zwar versuchen, ihre Kredite zurückzufordern, das heißt, von den Kreditnehmern Bargeld zu erhalten, doch dauert das zu lange, da diese Gelder ja längerfristig in Häuser oder anderes investiert sind. Erlebt die Bank einen Sturm der Einleger, wird die grüne Fläche immer kleiner, bis sehr rasch der Moment kommt, in dem die Bank ihre Schalter schließen muss, weil sie kein Bargeld mehr zur Verfügung hat. Einleger, die ein Recht darauf haben, jederzeit ausgezahlt zu werden, erhalten dann kein Geld; das bedeutet das Ende der Bank. Deshalb war es so entscheidend, dass George Bailey die Einleger überreden konnte, nur einen Teil des Geldes abzuheben, nämlich höchstens so viel, wie ihm in bar zur Verfügung stand. Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass seine Bank nicht überschuldet war. Sie hatte eigentlich mehr als genug in ihrem Besitz (also die gesamte linke Seite der Bilanz), um alle Schuldner (die gelbe Fläche rechts in der Bilanz) auszuzahlen. Das Genick brechen kann ihr, dass ein Großteil dieser Mittel langfristig in Form von Krediten gebunden ist, sie diese aber den Einlegern bei Bedarf jederzeit ausbezahlen muss.
STÜRME AUF DAS BANKENSYSTEM UND EINE LÖSUNG DES PROBLEMS
Einzelne Banken sind also stets einem potenziell tödlichen Liquiditätsrisiko (dem Risiko, kein Bargeld mehr zu haben) ausgesetzt. Finanzkrisen aber sind gesamtwirtschaftliche Ereignisse, von denen ein Großteil der Banken betroffen ist. Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass Unsicherheiten über die Situation einzelner Banken sich rasch zu generellen Unsicherheiten über das Bankensystem als Ganzes auswuchsen. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn sich vor einer Bank Schlangen von Einlegern bilden, die ihr Geld zurückwollen, werden sich auch Einleger anderer Banken fragen, ob die Einlagen bei ihrer Bank noch sicher sind. Da es für sie einfach ist, die Einlagen abzuheben, werden sie leicht von Panik angesteckt, und je mehr Banken gestürmt werden, desto stärker verbreitet sich eine allgemeine Unsicherheit. So waren Bankenstürme, die die Finanzsysteme ganzer Länder lahmlegten, in den Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg relativ oft zu beobachten.
Nach dem größten aller Bankenstürme in der Großen Depression der 1930er-Jahre wurde aber ein Weg gefunden, der das Problem weitgehend löste, nämlich die Versicherung der Einlagen gegen Ausfälle, Einlagensicherung genannt. Garantiert der Staat seinen Bürgern, dass auch bei einem Bankensturm die Einlagen ausgezahlt werden – statt von der Bank nun eben von der Einlagensicherung – dann haben die Einleger keinen Grund mehr, bei Unsicherheiten über die Situation ihrer Bank das Geld abzuheben. Als Reaktion auf die Große Depression wurden weltweit derartige Sicherungssysteme eingeführt, und diese Innovation war so erfolgreich, dass es jahrzehntelang kaum mehr Bankenstürme gab. Das Phänomen wurde zunehmend betrachtet wie eine ausgerottete Krankheit – historisch interessant, doch für die aktuelle Situation nicht mehr relevant. Die Finanzkrise hat uns dann aber gründlich eines Besseren belehrt!
DER UNSICHTBARE BANKENSTURM IM AUGUST 2007
Am 9. August 2007 ereignete sich an den globalen Finanzmärkten ein Erdbeben, das bis heute nachwirkt. Finanzinstitute beklagten ein plötzliches Austrocknen der Liquidität, also große Schwierigkeiten, an Bargeld zu kommen. Letztlich hatte das große Ähnlichkeit mit den Problemen, die wir für George Baileys Bank beschrieben haben. Allerdings sah man nirgends lange Schlangen vor den Bankschaltern oder Panik bei den Einlegern, wie sie für klassische Bankenstürme typisch sind. Was war geschehen?
Douglas Diamond von der Universität Chicago gehört zu den einflussreichsten Analytikern von Finanzkrisen. Er hat kürzlich treffend angemerkt, dass Finanzkrisen überall und immer durch Probleme mit kurzfristigen Schulden von Banken ausgelöst werden. Und das war – wie wir im Folgenden sehen werden – auch 2007 der Fall; will man die Ursachen einer Finanzkrise finden, so muss man also bei den kurzfristigen Bankschulden suchen. Für den Fall eines traditionellen Bankensturms haben wir das bereits festgestellt: Hier bestehen diese kurzfristigen Schulden aus den Einlagen der Kunden. Ökonomisch gesehen ist Ihr Bankkonto nämlich ein Kredit, den Sie Ihrer Bank gewähren; die Bank verschuldet sich also bei Ihnen. Für die Bank ist diese Schuld extrem kurzfristig, weil Sie den Kredit oder Teile davon jederzeit kündigen können, indem Sie Geld abheben nämlich. Wie wir gesehen haben, hat die Einlagensicherung seit ihrer Einführung sehr erfolgreich verhindert, dass diese Kredite panikartig aufgelöst werden und damit Bankenstürme entstehen. Es müssen also andere kurzfristige Schulden sein, die die Panik vom August 2007 bewirkten. Tatsächlich – und dieser Punkt war noch lange nach Ausbruch der Finanzkrise sehr vielen unklar – waren es Schulden der Banken bei Unternehmen und bei anderen Finanzinstituten. Das wollen wir uns nun genauer ansehen.
Wie Privatpersonen kommen auch Unternehmen oft in die Situation, Geld zu besitzen, das sie im Moment nicht verwenden wollen, auf das sie aber gerne jederzeit Zugriff hätten. Die offensichtliche Lösung wäre nun, dass das Unternehmen einfach ein Konto bei einer Bank eröffnet und darauf einen Zins erhält. Allerdings geht es vor allem bei größeren Unternehmen oft um Summen in mehrstelliger Millionenhöhe. Ein klassisches Einlegerkonto bei einer lokalen Bank, wie Sie oder ich es haben, wäre dafür ungeeignet, weil die Einlagensicherung Millionenbeträge bei weitem nicht abdeckt. In den letzten Jahrzehnten haben die Finanzmärkte Lösungen für dieses Problem gefunden. Sie erlauben es den Unternehmen, das Geld so anzulegen, dass es jederzeit verfügbar ist, relativ sicher ist und gleichzeitig einen Zins abwirft – genauso wie bei einem normalen Bankkonto. Diese Finanzierungsart von Banken kann man als «Geldmarktschulden» bezeichnen; der Geldmarkt ist der globale Markt für kurzfristige Kredite zwischen Unternehmen.
Vor der Finanzkrise war dies eine billige Finanzierungsquelle, und so verschuldeten sich zahlreiche Banken stark auf dem Geldmarkt. Sie erhielten also kurzfristige Kredite von den Unternehmen, oft für einen Tag, die sie aber problemlos jeden Tag erneuern konnten. Die Unternehmen ihrerseits erhielten von den Banken für die Laufzeit des Kredites erstklassige Wertpapiere als Sicherheit, so dass das Ganze für sie so sicher schien wie für uns Privatpersonen ein durch die Einlagensicherung abgedecktes Bankkonto. Für die Bank wiederum war diese Finanzierungsquelle so sicher und zuverlässig wie Kundeneinlagen.
Zurück zum 9. August 2007. Der große Schock an diesem Tage bestand darin, dass zahlreiche Unternehmen plötzlich nicht mehr bereit waren, diese kurzfristigen Geldmarktkredite zu den üblichen Konditionen zu erneuern. Gleichzeitig fanden sich auch keine anderen Unternehmen, die eingesprungen wären. Und dieser Rückzug der Liquidität, das Nichterneuern der kurzfristigen Kredite, war nichts anderes als ein Bankensturm.
Um das und den weiteren Verlauf der Finanzkrise besser zu verstehen, wollen wir unsere stilisierte Bilanz etwas ausweiten und in Abbildung 3 die wichtigsten Tätigkeiten einer typischen größeren Bank abbilden.
Das Grundprinzip ist unverändert, die Bank hat aber zusätzliche Finanzierungsquellen und betreibt ein zusätzliches Geschäft. Was die Herkunft der Mittel betrifft, verschuldet sich die Bank nicht nur über Kundeneinlagen, sondern zusätzlich auch auf den Finanzmärkten. Einerseits hat sie längerfristige Schulden, die auf den sogenannten Kapitalmärkten gehandelt werden (in der Abbildung violett) und andererseits die eben beschriebene kurzfristige Verschuldung auf den Geldmärkten (in der Abbildung orange). Wenn wir die Verwendungsseite ansehen, so besteht das zusätzliche Geschäft aus dem sogenannten Handelsgeschäft, oft auch als Eigenhandel bezeichnet. Die Bank verwendet die Mittel, um Wertpapiere wie Aktien oder Obligationen zu kaufen (in der Abbildung grau). Wie bei der Kreditvergabe verdient die Bank dabei an der Zinsdifferenz, weil sie für die zusätzlichen Schulden einen Zins bezahlt, der tiefer liegt als die Rendite auf den Wertpapieren.
Die reduzierte Bereitschaft der Unternehmen, am 9. August 2007 die Geldmarktschulden zu erneuern, führte – wie in Abbildung 4 dargestellt – zu einer Verkleinerung des orangen Kastens, und damit verloren die Banken Bargeld (der grüne Kasten verkleinerte sich).
Das ist genau der Mechanismus eines klassischen Bankensturms, mit dem einzigen Unterschied, dass dort die Kunden ihre Einlagen abziehen (der gelbe Kasten verkleinert sich, wie in Abbildung 2 gezeigt).
WAS HATTE DAS MIT SUBPRIME ZU TUN?
Die bisherige Beschreibung macht klar, dass im Sommer 2007 ein globaler Bankensturm auf die kurzfristigen Geldmarktschulden der Banken begann, der am Ursprung der verheerenden Finanzkrise stand. Wir haben aber noch nicht erklärt, warum die Unternehmen das Vertrauen in die Banken so stark verloren, dass sie diese Schulden nicht – wie Jahrelang problemlos üblich – erneuerten. Und hier kommt das Phänomen ins Spiel, das der Krise ursprünglich ihren Namen gab. Bevor sie nach dem Kollaps von Lehman Brothers im Herbst 2008 zur globalen Finanz- und Wirtschaftskrise wurde, bezeichnete man das Ereignis nämlich als die Subprime-Krise. Letztlich geht es dabei um die Wertpapiere (also um den grauen Kasten in Abbildung 4), welche die Banken vor der Krise kauften und mit Geldmarktschulden finanzierten.
In einem Satz ausgedrückt, den wir in der Folge genauer erläutern werden: Die Qualität dieser Wertpapiere verschlechterte sich vor der Krise zunehmend, bis die Verlustrisiken der Banken so groß wurden, dass die Unternehmen nicht mehr riskieren wollten, ihre Geldmarktkredite an die Banken zu erneuern. Wir müssen also verstehen, warum diese Wertpapiere immer zweifelhafter wurden.
Das Problem baute sich in den Jahren vor der Krise schrittweise auf. Es hatte seinen Ursprung darin, dass Kapitalanlagen in den USA zu Beginn des neuen Jahrtausends aus verschiedenen Gründen einen Boom erlebten. Jahr für Jahr floss sehr viel Geld in die USA und suchte nach attraktiven Anlagemöglichkeiten. Als der dortige Markt für sichere Staatsanleihen zunehmend überkauft war und die Renditen entsprechend tief lagen, wandten sich die internationalen Investoren einer neuen, profitableren Anlagekategorie zu, den Immobilien. Allerdings bestand hier zunächst das Problem, dass Wohnhäuser Einzelanfertigungen sind, die sich für Anlagen von internationalen Investoren deutlich weniger eignen als standardisierte Wertpapiere. Findige Investmentbanken lösten dieses Problem rasch. Sie kauften große Mengen von Hypothekarkrediten lokaler Banken auf und bündelten diese zu standardisierten Wertpapieren (sogenannte Asset Backed Securities, kurz ABS), die sie weltweit an Großinvestoren verkaufen konnten. Der Zins auf diesen Papieren wurde aus den regelmäßigen Zinszahlungen der Tausenden von einzelnen Hausbesitzern gespeist, ohne dass sich die globalen Investoren dabei mit den einzelnen Hauskrediten befassen mussten. Die Investmentbanken unterteilten diese Wertpapiere in unterschiedlich riskante Tranchen, wobei ein Großteil der Tranchen von den Ratingagenturen den höchsten Wert AAA erhielt. Diese Papiere wurden also als gleich sicher vor Ausfällen betrachtet wie US-Staatsanleihen, zahlten allerdings einen deutlich höheren Zins. Kein Wunder, dass diese Wertpapiere reißenden Absatz fanden. Sie waren so erfolgreich, dass die Investmentbanken bald keine Banken mehr fanden, die ihnen genügend Hypothekarkredite verkaufen konnten, die sie in Wertpapiere bündeln konnten. Auch für dieses Problem fanden die Investmentbanken eine Lösung – und legten damit den Grundstein für die Große Finanzkrise.
Warum nicht – so die Grundidee – Kredite an Hauskäufer vergeben, die eigentlich gar nicht kreditwürdig («subprime») waren, und zwar mit dem Argument, dass der Bank ja immer das Haus als Sicherheit blieb? Konnte der Kreditnehmer seine Zahlungen nicht leisten, dann übernahm die Bank das Haus. Und da ja Häuserpreise in den USA seit Jahrzehnten immer nur angestiegen waren – so das damalige Argument – sei dieses Geschäft wenig riskant. Also wurden ab 2004 immer mehr derartige Subprime-Kredite vergeben, bis sie 2006 beinahe die Hälfte aller Neuhypotheken ausmachten. Auch diese Kredite wurden von den Investmentbanken aufgekauft, gebündelt und in handelbare Wertpapiere verwandelt. Und diese Wertpapiere waren ebenso in Tranchen unterteilt, wobei wiederum ein großer Teil mit AAA bewertet und damit als völlig risikolos beurteilt wurde. Diese hochrentablen Wertpapiere kauften nun Investoren weltweit, darunter auch sehr viele Banken, die – wie oben beschrieben – Eigenhandel betrieben und diesen über Geldmarktkredite finanzierten. Ein guter Teil der in der Abbildung grau gefärbten Wertpapiere bestand also unmittelbar vor der Krise aus Papieren, die Subprime-Kredite enthielten.
Das Problem an diesen Konstrukten wurde klar, als 2006 – zum ersten Mal seit Jahrzehnten – landesweit die amerikanischen Häuserpreise zu fallen begannen. Das führte rasch dazu, dass Subprime-Kreditnehmer ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten. Eine steigende Anzahl von ihnen musste die Häuser an die Bank zurückgeben, und das löste eine Verkaufswelle aus, die zu weiter fallenden Häuserpreisen und zusätzlichen Ausfällen bei Subprime-Krediten führte. Was aber wesentlich stärker fiel als die Häuserpreise, waren die Preise der durch die Häuser gesicherten Wertpapiere. Der Hauptgrund für deren Preiseinbruch lag darin, dass diese gebündelten Wertpapiere so kompliziert waren – sie enthielten Tausende von einzelnen Hypothekarkrediten –, dass auf die Schnelle niemand wirklich beurteilen konnte, wie groß die Ausfälle wegen des Subprime-Problems sein würden. Verstehe ich ein Produkt nicht und jemand erzählt mir, dass es ein verstecktes Problem damit gibt, dann ist meine natürliche Reaktion, es so rasch wie möglich loszuwerden. Das taten auch die Investoren 2007 und damit brachen die Preise dieser Wertpapiere ein. Der Bankensturm folgte, als die Unternehmen auf dem Geldmarkt sich zu fragen begannen, ob die Banken diese Verluste auf ihren Wertpapierbeständen würden überstehen können – weshalb die Banken plötzlich den Zugang zu Geldmarktkrediten verloren.