Kitabı oku: «Hundert Geschichten», sayfa 10
Ein Kino
Draußen regnete es.
Es war ein verkommenes Kino, dessen Putz in endgültig verlorenen Zeiten einmal sandfarben gewesen war. An der Fassade hingen verblichene Plakate von Stars, die schon vor Jahrzehnten das Zeitliche gesegnet haben mussten, ihre geschminkten Gesichter waren mit Glittersternchen übersät. Als ich eintrat, wurde noch Werbung gezeigt. Es gab keine Schlange, und die Frau an der Kasse riss auch gleich die Karte ab, eine Personaleinsparung, die andeutete (so als sei es nicht ohnehin ganz und gar offensichtlich), dass es mit diesem Kino bergab ging.
Obwohl das Parkett fast leer war, wurde ich von einem Platzanweiser (der sich gegen seine mehr als lächerliche Entbehrlichkeit immun zeigte) begleitet. Er schlurfte vor mir her über Erdnussschalen, Plastiktüten, Tempotaschentücher, Zeitungspapier und Kondome, die auf dem Boden des Saals einen Teppich bildeten. In dem Moment hätte ich gehen sollen, aber ich tat es nicht. Der Platzanweiser spuckte auf den Boden. Ich wählte einen Platz am Mittelgang, weder zu nah an der Leinwand noch zu weit weg. Die Werbung war zu Ende, und die Lichter gingen kurz an. An den ehemals stoffbezogenen Wänden hingen nur noch karmesinrote Fetzen. Es wurde wieder dunkel, und das Surren des Projektors attackierte auf unerhörte Weise den Saal. Niemand protestierte.
Ein heterosexuelles Pärchen stolperte (lärmend wie eine ganze Armee) herein und ließ sich ausgerechnet in der Reihe direkt hinter mir quietschend in die Sitze fallen. Der Löwe riss sein Maul auf, und hinter mir begannen sie zu plaudern. Beim Vorspann waren sie eine Weile ruhig. Dann tuschelte der Mann seiner Freundin etwas ins Ohr, sie brach in Lachen aus, und der Urheber ihres Gelächters ließ sich von ihr anstecken. Ich drehte mich leicht nach hinten (in solchen Fällen kann eine unumwundene Äußerung, dass man sich gestört fühlt, zu einer unmittelbaren Verhaltensänderung führen) und verzog meinen Mund, um so meinem Ärger deutlich Ausdruck zu verleihen.
Abgesehen von dem Gequietsche der Sitze herrschte für eine Weile Ruhe (ich weiß nicht, ob meine Mimik Erfolg hatte oder ob es nur Zufall war), doch bald darauf hörte ich das Knistern von Zellophan. Sicher war es das Einwickelpapier von einem Bonbon, doch das Geräusch bekam (in dem fast gänzlich leeren Saal) eine absolute Wichtigkeit: Es schien, als sei die Tonspur des Filmes verstummt und als komme das Geraschel des endlosen Zellophans mitten aus den Lautsprechern. Das erste Bonbon war noch nicht ausgewickelt, als die Stimme der Frau sagte: »Willst du eines?«, und das »Ja« des Mannes verschmolz bereits mit dem Auftakt zur neuen Symphonie: Nacheinander wickelten sie sieben Bonbons oder Pralinen aus, was immer es auch war. Dann blieb es still.
Im Film sah man die ganze Zeit öde Landschaften: Panorama, Panorama und noch mal Panorama. Eben jetzt erst begann die Handlung: Der Fremde betrat den Saloon, alle sahen ihn schief an. Er verlangte einen Whiskey, der Kellner stellte ihn miesgelaunt vor ihn hin. Ein Bärtiger mit vertrieften Augen stocherte in einem Zahn herum.
Plötzlich nieste die Frau hinter mir. Und das, was als spontanes Ereignis begann, wurde zu einem lang währenden Rezital (ausgeschmückt mit einem viermaligen Klicken am Verschluss der Geldbörse), das mit dem Schneuzen der Frau zu Ende ging, wobei sie eine beeindruckende Serie von nasalen Winden erzeugte, von der mich der Geruch von geröstetem Mais ablenkte.
Wenn es auf der Welt einen Geruch gibt, den ich nicht ausstehen kann, dann ist das der von geröstetem Mais. Weder rechts noch links von mir futterte irgendjemand Maiskörner, und das Pärchen hinter mir war zu sehr mit dem Auswickeln von Bonbons oder Pralinen beschäftigt, als dass es sich auch noch mit Maiskörnern abgegeben hätte. Doch der Gedanke nahm laut seinen Weg durch meinen Mund:
– Wie kann man nur . . .
Aus der Reihe vor mir (die mir bis dahin leer erschienen war) tauchte das Köpfchen eines Männleins auf, das mich mit unsichtbaren Tigeraugen anschaute:
– Jetzt reicht’s aber langsam mit dem Krach!
Ich setzte an, um zu antworten, dass ich nur der Verursacher des letzten Gemurmels sei und daher völlig unschuldig, was die ganzen Geräusche und Gerüche um uns herum betraf, und er brauche mich deshalb nicht so anzufahren; doch schon nach einem halben Wort drehten sich drei Köpfe, um mich zum Schweigen zu bringen.
Ich stand auf und setzte mich auf der anderen Gangseite zwei oder drei Reihen weiter nach vorne. Jetzt verstand ich nicht mehr, was auf der Leinwand vor sich ging: Vier Kerle, die aussahen wie Gewohnheitsspieler (darunter der Fremde von vorhin) spielten Poker. Anscheinend hatte einer ein Full House: drei Asse und zwei Buben, eine Kombination, die den Fremden merklich überraschte, da er zwei Asse hatte, was bedeutete, dass fünf Asse auf dem Tisch lagen, was angesichts der Tatsache, dass sie nur mit einem Blatt spielten, höchst ungewöhnlich war. Offensichtlich spielte also einer der beiden falsch. Da nun beide jegliche Schuld von sich wiesen und behaupteten, der andere sei schuld, wurde die Affäre mit einem kleinen Duell gelöst, aus dem der Fremde siegreich hervorging, zum großen Ärger der Einheimischen, die die Leiche fortschafften und sogleich einen Ersatzspieler suchten, um das Spiel fortsetzen zu können. Eines der beiden doppelten Asse wurde weggelegt und das Spiel ging weiter. Zum nächsten Krach kam es, als zwei andere Spieler (diesmal beobachtete der Fremde geistesabwesend die Auseinandersetzung), überzeugt von dem guten Spiel, das sie auf der Hand hatten, ihren Einsatz immer weiter erhöhten, bis sie, in der Gewissheit zu gewinnen, alles setzten. Als sie die Karten auf den Tisch legten, hatten beide vier Asse.
Wenn es einige Minuten zuvor wegen eines überzähligen Asses ein Duell gegeben hatte, musste man bei vieren auf ein gegenseitiges Abschlachten gefasst sein. Doch es kam anders: Bevor der Streit überhaupt anfing, hatte bereits einer der potenziellen Angeklagten den anderen erschossen, was ihn auf der Stelle zum Unschuldigen machte. Man suchte nach einem weiteren Ersatzspieler und verlangte ein neues Kartenspiel.
Ich überlegte zum zweiten Mal, ob ich gehen sollte. So als sei die Verkommenheit des Kinos noch nicht genug, fehlte dem Film jeglicher Sinn. Die Musik triefte vor Pathos, die Schauspieler wussten nicht, was sie taten. Nun wurde weiter gepokert: Überall tauchten Asse auf. Sie ließen sich noch einige Male ein neues Blatt bringen, ehe sie schließlich wutentbrannt anfingen, kreuz und quer herumzuballern. Es blieb nur ein Spieler übrig: Der Fremde, der sich nun erhob und in Großaufnahme erschien, so als würde ihn die Tatsache, überlebt zu haben, zu Höherem bestimmen, etwas, an das er nicht einmal selbst glaubte. Zwei Reihen vor mir lachte ein Bursche auf und wickelte sein belegtes Baguette aus einem Zeitungspapier. Mit Thunfisch: Ich konnte es riechen.
Anscheinend war, abgesehen vom Saloonbesitzer, das ganze Dorf bei dem Blutbad umgekommen. Der Fremde lehnte am Tresen, trank und wusste nicht so recht, was er tun sollte (ähnlich wie der Regisseur). Die Szene zog sich minutenlang hin: Der Fremde goss sich einen Schluck nach dem anderen hinter die Binde, so als erwarte er von uns eine Idee, wie es weitergehen solle. Wie würde diese Abfolge von Szenen, eine hirnrissiger als die andere, ausgehen? Es interessierte mich immer weniger. Von der rechten Saalwand fiel eine Kugellampe und zersprang in tausend Stücke. Jemand lachte.
In diesem Moment spürte ich, wie jemand meinen Schenkel berührte. Völlig verblüfft, wusste ich nicht, wie reagieren. Es war das erste Mal, dass jemand versuchte, mich im Kino anzufassen. Ich traute mich nicht, meinen Kopf zu drehen, um zu sehen, wer das heimlich grapschende Individuum war. Als ich mich hingesetzt hatte, war der Platz neben mir frei. War der Jemand männlich oder weiblich (das Gewicht einer Hand sagte mir sehr wenig)?, doch wer auch immer, er oder sie hatte sicher einen verkrüppelten Körper und ein Pickelgesicht. Wahrscheinlich war der Jemand ein Mannweib, ein androgyner Außerirdischer. Ich stellte ihn mir grün vor, den Mund voller Stahlzähne . . . Vielleicht war es ja das Beste, nicht auf das Etwas zu achten, dann würde die Hand auf Grund der Nichtbeachtung genauso still und leise wieder verschwinden, wie sie gekommen war. Ich tat, als würde ich mich auf den Film konzentrieren: Auf der Leinwand tanzte der Fremde mit einem Frauenzimmer, das eine viel zu moderne Frisur trug. Doch das löste das Problem mitnichten: Die Hand bewegte sich weiter schenkelaufwärts. Ich holte tief Luft und drehte meinen Kopf: Es war die Frau von der Kasse, die sich mit meinem Schenkel beschäftigte und dadurch zu einer dreifachen Angestellten des Hauses wurde. Oder handelte sie aus Eigeninitiative? Ein paar Reihen hinter mir krachte es: Ein Sessel war zusammengebrochen, und alle brachen in Lachen aus: Das ganze Publikum und besonders das Opfer, das sich vom Boden erhob und den Staub von den Hosen klopfte. Die Kassiererin lachte auch kurz auf und sagte mir dann ganz leise:
– Erschrick nicht. Gefällt dir der Film? Ich habe ihn so oft gesehen, dass ich ihn auswendig kenne. Weißt du, dass wir heute schließen? Ich habe dich noch nie hier gesehen. Wenn hier jemand Neues herkommt, fällt das sofort auf. Wir sind schon lange unter uns und sehen uns so oft, dass wir nicht merken, wie wir älter werden. Siehst du das Pärchen da? Sie kommen jeden Tag, seit vielen, vielen Jahren, und sitzen immer auf demselben Platz. Gefällt dir nun der Film? Er ist nicht besonders interessant, stimmt’s? Von den Filmen, die wir gezeigt haben (und das waren viele!), gefiel mir einer am besten, den wir im Programm hatten, als wir noch ein Uraufführungskino waren. (Vor vielen Jahren war dies ein Uraufführungskino, nicht, dass du denkst!) Das war wirklich ein schöner Film gewesen. Er hörte genau da auf, wo er begonnen hatte, und der Projektor (der Mann, der den Film zeigte: der Filmvorführer, mein’ ich), der damals vielleicht noch jünger war, tat so, als ob der Film nie aufhörte, er lief drei- oder viermal ohne Unterbrechung. Und Gott sei Dank mussten wir spätnachts aufhören, sonst hätte er tagelang so weitergemacht. Der Hauptdarsteller war ein junger Mann, der seinem Schicksal entfliehen wollte. So als ob man dem, was geschrieben steht, entfliehen könnte! Na ja, ich erinnere mich nicht mehr genau an die Geschichte: Ich weiß nur noch, dass es als Kulisse ein Schattenhaus in den Nebeln gab, alt und ganz baufällig. Es kam auch eine junge Frau vor, aber ich weiß nicht mehr, was für eine Rolle sie spielte. Er floh von zu Hause, glaube ich, aber am Schluss kehrte er zurück, denn überall wo er hinkam, brachte er Zerstörung, egal ob in der U-Bahn oder in einem Ferienhaus am Meer, alles versank gleich in Trümmern. Ich erinnere mich nicht mehr so genau, aber die Lektion scheint klar: Niemand kann seinem Schicksal entgehen: Mmmhh. Willst du los? Bleib: Nachher werden wir diese letzte Vorführung feiern. Jetzt bist du eigentlich einer von uns.
Ich stand auf. Es gibt Abende, an denen man besser zu Hause geblieben wäre. Ich ging, ohne mich umzudrehen: Das Pärchen lachte und sah mich an. Ab und zu fehlte ein Sitz, und die Reihen sahen aus wie kariöse Gebisse. In der letzten Reihe liebte sich ein Paar hemmungslos. Aus der Klotür drangen ohrenbetäubende Schreie. Ein maskierter Dieb griff den Platzanweiser mit einem gigantischen Messer an. Während ich in den Falten des schweren granatroten Samtvorhangs den Ausgang suchte, hörte ich einen lauten Knall: Die Leinwand zerriss schräg von oben rechts nach unten links. Alle brachen in Gelächter aus.
Draußen regnete es nicht mehr. Ich ging schnellen Schrittes. Ich hatte vor irgendetwas Angst: einem unbestimmten Schatten, etwas Unheilvollem, was, dessen war ich sicher, bis Sonnenaufgang dauern würde. Beim Anblick der ersten Morgenstrahlen wäre ich gerettet. Auf dem Weg nach Hause trat ich immer nur auf jede zweite Gehwegplatte. Als ich vor der Haustür stand, merkte ich, dass ich die Schlüssel verloren hatte. Ich hatte sie entweder verloren, oder man hatte sie mir geklaut (vielleicht die Frau an der Kasse?). So, das war es also, wovor ich mich gefürchtet hatte. Doch ein Gefühl in meinem Magen sagte mir, dass mir noch Schlimmeres bevorstand. Ich könnte natürlich die Feuerwehr anrufen, die mir die Tür aufbrechen würde. Oder einen Schlosser. Doch das war nicht die Lösung: Früher oder später musste ich mich stellen. Wenn ich nicht hinginge, würden sie kommen. Der Gedanke, sie anzuzeigen, reizte mich zum Lachen: Auf dem Polizeirevier wären sie der Kommissar, die Polizisten, ein offensichtlich verhafteter Dieb, die Frau an der Kasse als Aufseherin . . . Das Miauen einer Katze ließ mich aufschreien.
Ich machte mich auf den Weg zurück zum Kino. Ich dachte: Wenn ich dort ankomme, werden sie alle auf mich warten und mich mit schwefeligem Gelächter und den klimpernden Schlüsseln empfangen. Ich dachte: Wenn ich dort ankomme, wird das Abrissunternehmen mit dem Abriss des Gebäudes begonnen haben, und weit und breit wird keine dieser finsteren Gestalten zu sehen sein; dann werde ich wissen, dass ich für immer einen fürchterlichen Fluch mit mir herumtragen werde. Doch genau vor der Straßenecke, an der das Kino liegt, sah ich die Schlüssel, meine Schlüssel, auf dem Boden, leuchtend wie Diamanten. Als ich sie aufhob, dachte ich: Jetzt brauche ich nicht mehr hinzugehen. Ich dachte auch: Zu Hause werde ich vor lauter Angst nicht schlafen können. Wenn ich mich beeile, werde ich vorher da sein, und je früher ich da bin, desto schneller ist alles vorbei. Was ist los? Habe ich Angst vor Geistern? Ich bog um die Ecke und rannte los.
Das Pflanzenreich
Dem Enkel von Matons vom Enkel von Onkel Ximo
Zu sagen, die Zeiten sind schwer, heißt heutzutage gar nichts mehr, denn wir haben diesen Ausdruck so oft benutzt, dass er schließlich seinen Sinn verloren hat, sollte er jemals einen gehabt haben: Die Zeiten sind in den Redewendungen immer schwer. Vielleicht wäre es genauer zu sagen, dass wir nicht mehr wissen, wo Norden ist; oder noch besser, wenn wir uns fragen, ob es den Norden überhaupt gibt (und folglich auch den Süden, der die Umkehrung desselben ist), alles nichts als herumhuschende Schatten in einem Schulflur. Man sagt, es seien Krisenzeiten, und ich bin gerne bereit zu denken, dass deshalb alles so ist, wie es ist. Denn wenn diese Theorie stimmt, wird der Kompass wieder funktionieren, wenn die Krise vorbei ist. Vor ein paar Jahren schien uns alles klar: Wir stürzten die Idole (nicht alle Idole jedoch: Vielleicht war das der Fehler) und setzten uns auf die leeren Podeste in der Erwartung, dass zwei mal zwei nicht mehr vier ist: Die Fensterstürze waren immer ein Norden, zumindest sie. Nun sind wir erwachsen (wir haben gelernt, dass zwei Schläge mit dem Knüppel und noch mal zwei Schläge mit dem Knüppel vier Schläge sind) und fragen uns, ob wir einige der gestürzten Idole wieder auf das Podest setzen oder selbst dort bleiben sollen, in der Gewissheit, dass in einer kommenden Zeit jemand seine eigenen Kommentare abgeben und neue Statuen errichten wird (möglichst aus Plastik, das brennt besser und verbreitet zudem einen bestialischen Gestank).
Als ich klein war, antwortete ich auf die Frage: »Und du, mein Kind, was willst du werden, wenn du groß bist?« »Unmensch.« Und ich habe meine ganze Kraft in dieses Streben gesteckt. In meiner Generation (vielleicht sollten wir sie eher Degeneration nennen: Wir waren eine begünstigte degenerierte Generation) begann die Akne im Schatten der ersten Rolling Stones und der Kämpfe zwischen Mods und Rockern, und wir projizierten unsere Wut auf alles, was orthodox erschien. Klugerweise verstanden wir, dass Heterodoxie und Skrupellosigkeit Wörter waren, die in keinem Wörterbuch als Synonyme auftauchten.
Ich habe von meiner Berufung zur Skrupellosigkeit berichtet, aber ich habe nicht erzählt, wie sich das zusammengebraut hat. (Ich weiß nicht, ob ich es fertigbringe: Ich kann zwar klar die Wurzeln erkennen, aber dann folgen nur verlorene Evolutionsstufen). Im Enfants Terribles verbrüderten wir uns mit seefahrenden Yankees und Brasilianern, schäbigen Nutten und Nordafrikanern (so werden sie heute genannt), die um Mitternacht mit Sonnenbrillen herumliefen. Von allen lernten wir unseren Zynismus und unser Schmarotzertum; als die ersten Hippies anlandeten, war uns sofort klar, dass wir nie was mit ihnen gemeinsam haben würden: Die andere Backe hinhalten war nicht unser Stil. Wir leugneten unsere Gefühle (und waren sentimental wie kaum einer sonst) und wurden nur durch Ziele motiviert, aus denen wir irgendeinen Gewinn schlagen konnten. Die Zeit hat uns ein wenig Recht gegeben (man bekommt es nie zur Gänze): Von den Hippies hört man heute gar nichts mehr, und die Habgierigen sind die Herren der Welt. In den Siebzigern begann der endgültige Verfall: Die Anhänger der Perversionsethik stellten sich als wenig ethisch und überhaupt nicht pervers heraus; Opportunisten, sonst nichts. Ich hatte die Nase voll von Junkies und Messern, und der neue Schub an Rebellen (Ökos, Vegetarier und Kriegsdienstverweigerer) ließ mir das Herz schwer werden.
Durch die Langeweile überstürzten sich die Ereignisse. In jener Nacht las ich Baudelaire. Ich lag in der Hängematte auf der Terrasse, umgeben von Zwergpalmen und Hortensien, mit Blick auf den gelben Mond über blauer Bucht. Txitxi lief in der Wohnung auf und ab, angeödet, abstinent, traurig, enterotisiert: Sie wollte nicht trinken, sie wollte nicht reden und vor allem wollte sie nicht vögeln. Genauso gelangweilt wie sie, wand ich mich aus der Hängematte, griff Txitxi am Arm und verdrehte ihn, bis sie anfing zu weinen (sie schaute mich dabei mit Augen an, die beichteten, dass auch ihr plötzlich die Langeweile vergangen war), und ich vergewaltigte sie, ohne dass ihre Schreie mein Gewissen belasteten. Wie bei einem Wunder öffnete sich der Himmel; eine Helligkeit trieb mich vor sich her: Plötzlich wurde mir klar, dass ich jahrelang vor mich hinvegetiert hatte. Nun war ich ein Bär nach dem Winterschlaf, der den ihm würdigsten Weg wählte: mich in einen klassischen Lüstling zu verwandeln. Ich würde nur noch die verbotenen Früchte kosten. Nachdem ich alles andere hinter mich gebracht hatte, spezialisierte ich mich auf die Frauen: eine Frage des Alters.
Von da an ging alles wie von selbst. Das Laster ist eine Ebene mit Wanderdünen, die alles verschlingen und denen niemand entfliehen kann. Vom ersten Experiment animiert, wurde ich zunächst Vergewaltiger. Kurz darauf beschloss ich, im Bewusstsein der Bedeutung meiner Aufgabe in einer Gesellschaft wie der unseren, mich theoretisch mit der Funktion auseinanderzusetzen, die ich zu erfüllen hatte, nicht, dass ich statt Täter zu sein versehentlich in die einfachere Rolle des Opfers schlüpfte. Und da es keine fruchtbringende theoretische Reflexion ohne begleitende bewusste Praxis geben kann, war ich (abwechselnd, hintereinander, gleichzeitig) Exhibitionist, Voyeur, Verführer Minderjähriger, Gigolo, Sadist, Sodomit, Masochist. War mir ein Terrain verboten, so war es zu erobern. Keine Verirrung war mir fremd. Wenn ich deshalb sage, die Zeiten seien schwer, dann tue ich das mit einer tiefen Kenntnis der Sache, Resultat, wie ich bereits sagte, einer gleichermaßen theoretischen wie praktischen Reflexion.
Jetzt erzähle ich euch meinen letzten Coup: Mittwoch war ich gegen halb zwei nachts im Whisky Twist. Den Ellenbogen auf den Tresen gestützt, rauchte ich vor mich hin, betrachtete, eingetaucht in die Anonymität der blauen und roten Lichter des Lokals, die Flaschen auf dem Regal vor mir und versuchte, die Etiketten zu lesen. Hinten wurde getanzt. Am Eingang waren zwei in eine Schlägerei verwickelt, und jeder Faustschlag warf einen der beiden gegen die Tür, bis der Gorilla auftauchte und das Happening beendete. Ich bestellte etwas zu trinken, aber ich weiß weder was noch bei wem. Ich erinnere mich nur noch daran (und ich kann mich kaum an mehr erinnern, denn es ist so, als habe alles, was daraufhin passierte, meine Erinnerung an das, was davor war, ausgelöscht), wie ich sie, als ich mich nach rechts drehte, um auf die Tanzfläche zu schauen, zwei oder drei Barhocker weiter sitzen sah.
Sie trank einen orangefarbenen Saft. Sie hatte lange, dunkle Haare, die ihr über die Schulter fielen. Von der Seite erinnerte sie mich an Silvie Vartan, eine dunkle Silvie Vartan. Sie hatte eine kurze Jeansjacke (Levi’s) an, eine jener, die man heute nicht mehr sieht: verwaschen wie Jeans. Nun, ich weiß nicht mehr, ob ich sie, nachdem ich ihr Gesichtchen sah, unschuldig wie ein Lamm, als einen Leckerbissen einstufte, der es wert war, dem Buch meiner Schandtaten hinzugefügt zu werden, oder ob in mir ein Gefühl der Überraschung (ich mit einem Gefühl?) hochstieg, dass ich nach so langer Zeit ein Mädchen in den Klamotten traf, die wir vor einem Jahrzehnt getragen hatten. Sie erinnerte mich an ein Mädchen, das ich mir eines Nachts im Jazz Colon geangelt hatte, als das Jazz Colon noch das Jazz Colon war und sich ein Mädchen angeln hieß, sie zu verführen, sie festzuhalten, sie zu nehmen und eine Dreiviertelstunde später wieder abzulegen. Jenes Mädchen erinnerte mich an die Partys am Sonntagnachmittag, an Twist und Madison, immer auf der Hut, weil die Eltern jederzeit aus dem Kino zurück sein konnten. Sie erinnerte mich an die Shadows, erinnerte mich an Jerry Lee Lewis, erinnerte mich an Michel Polnareff; erinnerte mich an mich selbst, der ich völlig in eine sommersprossige Puppe verknallt war.
Ich fing ein Gespräch mit ihr an, was unnötigerweise meine Absichten verheimlichen sollte. (Unnötigerweise, weil heutzutage die Dinge so schnell vonstatten gehen, dass niemand mehr Umwege macht, denn das Ja oder Nein kommt sofort und bestimmt.) Wir plauderten über Belanglosigkeiten, wir schlenderten durch Born, tranken in der Nähe des Parks Schokolade, liefen die Ramblas hoch. Ich verließ sie an ihrer Haustür, ohne auch nur ein Haar von ihr berührt zu haben, aber ich hatte ihre Telefonnummer in der Tasche. Ich glich eher einem Schutzengel, der seine Noten noch verbessern wollte, als einem Brutalo. Eine Angst beschlich mich, ich könne mich in der Rolle des netten Jungen vielleicht sogar wohlfühlen. Um dem entgegenzuwirken, holte ich mir gleich zu Hause mit Bildern von Tieren (Schweinen, Hunden und Eseln), die blondierte Fräuleins im Mund penetrierten, einen runter: Nun, ich musste meine Integrität bewahren! Mit einer Reißzwecke befestigte ich die Nummer neben dem Telefon. Ich würde sie morgen anrufen. So wie ich als kleiner Junge vor dem Einschlafen betete, so sagte ich mir jetzt ein ums andere Mal, was für ein Fiesling ich sei und sie für mich nicht mehr als ein weiterer Markstein, und malte mir aus, wie ich in ein paar Stunden grausam und gemein zu ihr sein würde.
Es war ein Leichtes, ein Treffen mit ihr zu verabreden. Sogar direkt bei mir zu Hause: So galant war ich am Abend zuvor gewesen! Ich bot ihr Getränke und einen Joint an. Sie wollte nur einen Fruchtsaft, und während im Fernsehen zwei Boxer für die Europameisterschaft im Weltergewicht aufeinander einschlugen, begann ich, sie am Hals zu küssen, ihr in den Kehlkopf zu beißen. Einen Moment lang erschien sie überrascht, und ich fühlte mich lächerlich: Vielleicht hatte sie mich gestern wirklich für einen Milchreisbubi gehalten. Im Mund hielt ich mich eine Ewigkeit auf: Der Weg war genau ausgearbeitet und ganz langsam zu absolvieren, damit sie mir, wenn es drauf ankam, nichts mehr verweigern konnte. Im Fernsehen grüßte einer der Boxer in Siegerpose, der andere lag noch auf dem Boden, k.o. Die Nachrichten begannen. In einer halben Stunde fing Endstation Sehnsucht an, mit Marlon Brando und Vivien Leigh, ein Film, der mir immer gefallen hat. Ich wollte ihn nicht verpassen und beschloss daher, mit dem Mädchen fertig zu werden, bevor der Film anfing. Ich begann, sie auszuziehen, sie wehrte sich kaum. Der Kampf, ihr den Rock runterzuziehen, war schon schwieriger. Das ermutigte mich: endlich Widerstand, wie es sich gehörte, nach langer Zeit. (Diese Jugendlichen heutzutage, die keinen Widerstand mehr leisten, verderben dir den Spaß an den kleinen Dingen des Lebens.) Ich sah mich genötigt, Gewalt anzuwenden. Mit dem Bauch nach oben und ohne Rock, presste sie die Beine zusammen und tischte mir völlig durcheinander eine Lüge nach der anderen auf, entschuldigte sich und schlug mir Entschädigungen vor, die mir aber nicht schweinisch genug waren. Ich zerriss ihr Höschen aus Satin, und als ich dann versuchte, einen Finger hineinzustecken, stellte ich fest, dass es nicht ging: Da war irgend etwas Seltsames. Ich spreizte ihre Schamlippen mit einer titanischen Kraft, denn diese Lippen widersetzten sich, als hätten sie ein Eigenleben. Ich versuchte, noch einmal einen Finger hineinzustecken (vorher hatte ich ihn mit Spucke angefeuchtet, hatte sie geleckt, vielleicht ging es ja besser, wenn alles voller Speichel war), doch ich stellte sofort fest: Es war absolut unmöglich: Das Loch war zu, so wie ich es noch nie erlebt hatte. Vermutlich konnte sie auf äußerst ungewöhnliche Art und Weise ihren Vaginalmuskel beherrschen und versperrte mir damit den Zugang. Ich verlor allmählich die Geduld und drohte ihr damit, einen Bohrer zu holen. Völlig entsetzt, begann sie zu reden, und ich beging den Fehler, ihr zuzuhören. Ich hätte es nicht tun sollen. Indem ich ihr zuhörte, hatte ich verloren: Zum jetzigen Zeitpunkt weiß ich immer noch nicht, ob sie mir etwas vorgemacht hat und ob sie es immer noch tut. Sie hob an:
– Halt, warte. Denk nicht, dass ich nicht will. Auch wenn es dir unmöglich erscheint, gibt es ein reales Hindernis dafür, dass du in mich eindringst. Ich bin und bin nicht daran schuld. Ich müsste sehr weit ausholen, um dir alles zu erklären, aber ich werde direkt zum Kern vorstoßen: Ich war immer eine Person mit starken Überzeugungen. Es ist schwer zu erklären: Nicht nur, dass mich als kleines Mädchen allein die Frage, ob ich Grippe hätte oder nicht, mich die eindrucksvollsten Grippen bekommen ließ. Das kann man noch erklären und ist eher hypochondrisch. Auch nicht, dass es mir eines Tages, als ich mit meinem Bruder Cowboy und Indianer spielte, gelang, mich so von meiner Rolle als Sioux zu überzeugen, dass ich zum Schrecken meiner Familie drei Tage lang nur noch rituelle Zeremonien heulte, was so weit ging, dass ich keine andere Sprache mehr verstand als Sioux (und wenn ich sage, verstand, meine ich genau das, und nicht, ich tat so, als verstehe ich sie nicht). Ähnliche Fälle gab es zuhauf. Ich erspare dir die Ausführungen. Mein Problem geht über Hypochondertum und Somatisierung hinaus. Schau mich nicht mit so einem Gesicht an. Tu mir nicht weh. Ich lüg dich nicht an: Wenn sich etwas in meinem Kopf festsetzt, sitzt es dort über meinen Willen hinaus fest und beherrscht mich völlig. Du wirst sehen, was passiert. Vor einem Jahr begann ich, mich für vegetarische Ernährung zu interessieren, und als mir dann die Tugenden dieser Diät einleuchteten, verselbstständigte sich der Prozess und nahm eine Wendung, die ich nicht vorhergesehen hatte: Ich war ganz und gar davon überzeugt. Damit will ich sagen, ich bin Vegetarierin von Kopf bis Fuß, und mein Körper (der ganze Körper, von oben bis unten) nimmt nur noch Pflanzliches an. Und da ist nichts zu machen, bis ich mich davon überzeuge, dass vegetarisch essen schädlich ist oder dass ich es, obwohl es gesund ist, nicht fanatisch befolgen muss.
Ich fiel darauf herein: Dieser wunderschöne Körper zitterte in meinen Armen, und ich glaubte ihr gerührt. Plötzlich fiel meine ganze Konstruktion in sich zusammen. Ich war nicht mehr der unbestechliche Unmensch: Ich hatte nun einmal nachgegeben und versucht, jemanden zu verstehen. Und wie: Ich tat ihr nicht nur keine Gewalt an, sondern benutzte, um sie zu befriedigen, Gurken, Möhren, Auberginen. Sie sagt, sie liebe mich sehr. Der Gynäkologe meint, es sei Sache der Psychologen. Der Psychologe meint, sie müsse sich überzeugen, dass Fleisch essen nicht nur nicht schädlich ist, sondern auch gesunde Aspekte habe. Denn anscheinend gibt es bei ihr keine Graustufen: entweder schwarz oder weiß; entweder sie ist von etwas ganz überzeugt oder gar nicht. Seit Wochen versuche ich, sie von den Tugenden der Perversität zu überzeugen. Wenn es mir gelingt, habe ich leichtes Spiel: Da Vegetarismus ganz offensichtlich nicht pervers ist, wird sie ihn ablehnen. Es sieht aus, als sei sie bereit, sich überreden zu lassen. Sie versteht langsam meinen Spleen, und er scheint ihr nicht zu missfallen: Sie liest inzwischen den Marquis mit mehr Vergnügen als Handbücher über Zitronen und Zwiebeln. Seit gestern aber verfolgt mich ein Gedanke: Was, wenn sie sich nun, so wie sie ist (alles oder nichts oder schwarz oder weiß), die Tugenden der Perversion so zu eigen macht, dass sie durch und durch pervers wird, sozusagen Skorpion und Pygmalion zugleich, und zu dem Schluss kommt, die höchste Form der Perversität, zu der man gelangen kann, sei es, in einer Weise, die ich nicht vorhersehen kann, den giftigen Stachel gegen mich zu richten?