Kitabı oku: «Ich wünsche mir ... einen Prinzen»

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96140-008-9

© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Originaltitel: A Royal Christmas Wedding

Erschienen 2014 bei Zondervan, Grand Rapids, Michigan 49530, USA

Copyright © 2014 by Rachel Hauck

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Anja Lerz

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia Kalim; fotolia Evgeniy Kalinovskiy

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

www.brendow-verlag.de


All jenen gewidmet, die es wagen, zu träumen.


Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Kapitel zwanzig

Kapitel einundzwanzig

Kapitel zweiundzwanzig

Kapitel dreiundzwanzig

Kapitel vierundzwanzig

Epilog

Weitere Bücher


Prolog

Königreich Brighton

1834

Es war eine mondlose Nacht, tintenschwarz, kein einziger Stern funkelte am Firmament. Schnee stob durch die kalte, frische Luft.

Die Alten nannten eine solche Finsternis den Stiefel Gottes. Aber für Prinz Michael gab es keine Dunkelheit. Der Glanz der Gaslaternen, die die Palastanlagen säumten, und die hell strahlende Liebe in seinem Herzen leuchteten ihm den Weg.

Lady Charlene war eine Herausforderung. Und er beabsichtigte, sich dieser zu stellen.

Michael rannte außerhalb der Reichweite des Lichts entlang. Sein Ziel war die Pembroke Chapel und ihr berüchtigter Glockenturm.

„Mick, alter Kamerad, was ist denn mit dir los?“, erklang hinter ihm die Stimme seines Freundes Paulson. „Die Musik, das Essen, das gute Bier und all die hübschen Damen sind hinten im Ballsaal. Letztere warten darauf, dass wir mit ihnen tanzen.“

„Halt mich nicht auf, Pauls. Ich habe vor, die Glocke zu läuten.“ Michael mühte sich an dem schweren Eisenriegel der Pforte des Glockenturms ab, bis sie aufsprang.

„Was? Du machst Witze. Und welche nichts ahnende Dame wird das Objekt deiner unerwünschten Zuneigung?“ Paulsons Schritte näherten sich. Er atmete schwer, und seine Laterne spendete etwas Licht.

„Wenn ich es dir sage, wo bleibt dann das Geheimnis?“ Michael begann, im Dunkeln die rutschigen Stufen des Glockenturms hinaufzusteigen. Er ertastete seinen Weg und versuchte, mit der Hand auf dem klapprigen Holzgeländer sein Gleichgewicht zu halten.

Heute Abend wollte er nichts lieber, als um Mitternacht die Glocke der Kapelle zu läuten – ganz der Tradition des Erntefests entsprechend –, um dadurch seine Liebe zu Lady Charlene sowie seine Absicht, sie am Weihnachtsmorgen zu heiraten, zu verkünden.

Einhundertundzweiundachtzig Stufen weiter würde er auf der Turmspitze ankommen.

Paulsons Stimme echote unter ihm. „Wenn du diese Glocke läutest, wird jeder wissen, wer deine Zukünftige ist. Du wirst nicht davonkommen, alter Knabe. Was ist mit deinem Vater? Der wird das eine oder andere zu sagen haben.“

„Der wird die Wahrheit am Weihnachtsmorgen herausfinden. Genau wie alle anderen auch. Wer bin ich, dass ich mit einer guten Tradition Brightons bräche, indem ich den Namen meiner Angebeteten schon vorher preisgebe?“

Oben angekommen, warf sich Michael gegen die Tür der Glockenkammer und zwang die rostigen Scharniere nachzugeben, bis er unter der vierhundert Jahre alten Glocke stand.

Paulson traf einen Augenblick später ein. Die Laterne baumelte in seiner Hand, und das goldene Licht spiegelte sich in seinem breiten Grinsen. „Da ist sie, deine Glocke. Was hält dich auf, mein Guter?“ Er zeigte auf den Glockenstrang. „Oder bist du wieder zu Verstand gekommen, als du dich gegen die Tür geworfen hast?“

„Der Strang …“ Michael ruckte an dem verdrillten Hanfseil, das an einem Haken in der Steinwand befestigt war. „Er rührt sich nicht. Er ist eingefroren.“

„Dem Himmel sei Dank, du bist gerettet.“

„Ich will nicht gerettet werden.“ Michael rieb entschlossen seine Hände, umklammerte das Seil und stemmte sich mit aller Kraft gegen den Zug.

„Mick, hör auf, denk nach. Was wirst du tun, wenn du die Glocke geläutet hast und dir bewusst wird, dass du die Frau heiraten musst, die du im Überschwang umwirbst? Brightons Traditionen sind bald so heilig wie die Heilige Schrift, will ich meinen. Du wirst es dir nicht mehr anders überlegen und dich auf Feigheit oder Derartiges berufen können.“

„Meine Füße sind hinreichend warm, besten Dank auch. Ich werde meine Angebetete am Weihnachtsmorgen in der Watchman Abbey heiraten. Wie es die Tradition verlangt. Es wird von meiner Seite her keinen Traditionsbruch geben. Und jetzt mach dich einmal nützlich. Hilf mir.“

Mit Paulsons Hilfe befreite Michael den Strang, der an einem Haken an der Wand befestigt war, als die herrlichen Kirchenglocken in Brightons Hauptstadt Cathedral City zu läuten begannen.

Wenn der letzte Ton verklungen war und den Anbruch eines neuen Tages verkündet hatte, das Ende der Ernte und den Beginn der Weihnachtszeit, würde Michael die Glocke der Kapelle läuten, und der Klang der einzelnen Glocke würde aller Welt sagen, dass es am Weihnachtsmorgen eine königliche Hochzeit geben würde.

Wenn denn der tapfere Prinz das Herz seiner schönen Maid gewinnen konnte.

„Du bist irre geworden, Mann.“ Paulson stampfte mit dem Fuß auf. Das Geräusch hallte in der frostigen Luft wider. „Wie viele arme Seelen, übrigens alles Prinzen und Adlige, sind diese Stufen heraufgeeilt? Und haben ihre wahre Liebe verkündet, nur um ohne Braut und, wenn ich das mal so sagen darf, ohne Stolz vor der Watchman Abbey zu warten, während die Presse sich über sie hermachte?“

Michael lehnte sich mit dem kalten Seil in seinen verschwitzten Händen an die Wand und zählte die Glockenschläge der Kathedralen der Stadt.

Vier … fünf …

„Mein Schicksal ist nicht wie das der anderen.“

„Hier ist doch irgendetwas im Gange. Heraus damit.“ Paulson stellte die Laterne auf dem Sims des zur Stadt hin offenen Fensterbogens ab. „Für wen läutet diese Glocke?“

„Charlene.“ Im flackernden Licht der Laterne erwiderte Michael den Blick seines Freundes. „Aber nun bist du zur Geheimhaltung verpflichtet. Kein Wort, zu niemand.“

Paulson trat Michael gegenüber, so nahe, dass er ihn beinahe anrempelte, und riss ihm das feuchte, abgenutzte Seil aus den Händen. „Lady Charlene of Clounnaught?“ Sein Gesichtsausdruck, sein Tonfall, seine Haltung passten sich schlagartig dem Gebäude an – wurden eiskalt, hart wie Stein. „Willst du mich herausfordern?“

Die Luft vibrierte im hallenden Glockengeläut der Kathedralen der Stadt.

Sechs … sieben …

„Dich herausfordern? Was um alles in der Welt …?“ Michael bekam den Strang zu fassen und nutzte all seine Kraft, um ihn Paulsons Händen zu entwinden. Doch ohne Erfolg.

„Charlene und ich sollen einander versprochen werden. Das weißt du doch.“

„Ich weiß nichts Derartiges. Wenn deine Worte wahr sind, warum hat dein Vater dann noch nichts angekündigt? Warum seid ihr euch dann noch nicht versprochen? Ihr seid beide volljährig.“

„Alles zu seiner Zeit. Ich habe zuerst noch wirtschaftliche Angelegenheiten zu klären und meine Position in der Anwaltskanzlei meines Vaters zu bedenken. Aber wenn du diese Glocke läutest, um Lady Charlene zu heiraten, befinden wir uns im Krieg, Mann.“

„Lass die Schlacht beginnen.“ Michael rammte Paulson, bekam das Seil zu fassen, während das Läuten der Stadtglocken ihn und den Turm in der Kälte der Nacht durchdrang.

Acht … neun … zehn …

Paulson, der Sohn des Earl of Granite, hob seine Hand an Michaels Kehle. „Ich werde dich bezwingen. Fordere mich nicht heraus.“

Unfähig zu atmen, stampfte Michael ihm verzweifelt auf den Fuß. Der gab den Prinzen mit einem Schmerzensschrei frei.

„Fordere du mich nicht heraus. Sie hat mir so gut wie gesagt, dass ich die Glocke läuten soll, weil sie mich heiraten will.“

„Ha! Trotzdem wird ihr Vater das letzte Wort haben.“ Elf … zwölf.

Ein letztes Mal erklangen die Glocken der großen Kathedralen der Stadt; ihr Läuten schallte laut über die Palastanlage.

„Ein Prinz gegen einen Earl? Ich glaube, sie gehört so gut wie sicher mir.“ Michael stieß Paulson die Hand vor die Brust. „Tritt beiseite, während ich die Glocke läute.“

Er umklammerte das dicke Seil und zog daran, indem er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das der Sechshundert-Pfund-Glocke stemmte und sie dadurch in Bewegung setzte. „Für Lady Charlene, für Lady Charlene.“

Paulson schaute durch die Fensterbögen. „Die Palasttüren öffnen sich. Ich kann das Leuchten aus dem Ballsaal sehen.“

Michael konzentrierte sich darauf, die Glocke zu läuten, zog am Glockenstrang, ließ ihn durch die Hände gleiten, zog wieder, und das Seil flog immer höher.

Der einzelne Glockenton klang heller und lauter.

„Menschen verlassen den Ballsaal.“ Paulson schnappte sich sein Licht und strebte zur Treppe. „Überall auf dem Gelände tauchen Laternen auf. Sie kommen hierher, Mann.“

Endlich war die Glocke in vollem Schwung. Michael ließ das Seil los und folgte dem schwankenden Laternenlicht.

„Aus dem Weg, Paulson, ich muss zuerst unten ankommen.“

„Nun gut, dann betrachte ich das als Herausforderung.“ Paulson wandte sich um und schubste Michael, sodass der gegen die Steinmauer fiel. Seine Füße glitten auf den Stufen aus, und er rang darum, das Geländer zu fassen zu bekommen und sein Gleichgewicht wiederzufinden.

„Bleib stehen!“ Michael fand seine Balance und tastete sich die tückische Treppe hinunter, an deren Ende das Licht verblasste. „Ich weiß, was du vorhast, und es wird nicht funktionieren, das sage ich dir gleich. Ich habe diese Glocke geläutet.“

Seit hundert Jahren läuteten Prinzen und Adlige mit vor Liebe überströmendem Herzen die Glocke. Diese Nacht gehörte ihm. Seiner Erklärung. Für Lady Charlene. Das würde er sich nicht von seinem sogenannten besten Freund rauben lassen.

Michaels Herz raste, während er die Treppe hinabeilte, sich bei jedem schlüpfrigen Schritt fangen musste, doch als er um eine Biegung kam, traf ihn ein harter Schlag auf dem Kopf. Mit schmerzverzerrtem Gesicht taumelte Michael gegen die Wand und versuchte mit aller Macht, sich aufrecht zu halten. „Paulson …“

„Muss ich mich wiederholen? Wir befinden uns im Krieg, Mick.“ Paulson beugte sich zu ihm vor. „Ich werde der Erste sein, der durch die Tür der Kapelle tritt …“

„Aus dem Weg!“ Ausatmend donnerte Michael seine Faust gegen Paulsons Unterkiefer. Der größere Mann krümmte sich und empfing den Schlag mit einem leisen Ächzen.

Doch es reichte. Michael schoss um ihn herum, fand aber keinen Halt auf dem glatten Stein. Er rutschte aus, fiel, ruderte mit den Armen …

Das Geländer … wenn er doch nur das Geländer erreichen könnte …

Seine Finger streiften das alte, ausgetrocknete Holz. Im Ausstrecken bekam Michael den Handlauf endlich zu fassen. Seine Hände fuhren über das Holz, Splitter bohrten sich in seine Haut. Als er zum Halten kam, holte er tief Luft und richtete sich auf.

„Paulson, wollen wir einen Pakt schließen?“ Michael suchte die tiefen Schatten hinter sich nach seinem Freund ab, während er erneut begann, die Treppe hinabzusteigen.

Doch der Stein betrog ihn ein weiteres Mal. Sein Stiefel glitt aus. Dann brachte ihn ein leichter Schubs von hinten noch mehr ins Taumeln, und er krachte seitlich in das kümmerliche Geländer. Unter seinem Gewicht knackte das Holz.

Das Geräusch berstenden Holzes füllte seine Ohren. Seine Brust dröhnte, als er kopfüber in das tiefe, schwarze Nichts des Glockenturms der Pembroke Chapel stürzte.


Kapitel eins

St. Simons Island, Georgia

November, Gegenwart

Wenn sie ihre Augen schloss, konnte sie so tun, als hätte sich im Rib Shack nichts verändert, seit Daddy gestorben war.

Nicht das Klirren und Klackern des Geschirrs, das Summen der Spülmaschine, das Brutzeln der Fritteuse, Bristol, die Kommandos durch die Durchreiche brüllte, und Catfish, der „Nobody Knows the Trouble I’ve Seen“ sang, während Mama, die Königin des Shacks, ihn ermahnte, aufzuhören, sonst würde er eine ganz andere Art „trouble“ zu spüren bekommen.

Catfish neigte einfach den Kopf und sang ein bisschen lauter.

Avery lachte über den Schlagabtausch und war sich dennoch der Leere sehr bewusst, die sich in ihrer Brust breitgemacht hatte, seitdem ihr Held diese Erde viel zu früh verlassen hatte.

Daddy war gerade sechzig gewesen, als sein Herz sagte, es hätte genug. Ohne ihn war nichts mehr wie vorher. Das Shack nicht, Zuhause nicht, Mama nicht und auch nicht das Leben. Für Avery waren es mehr als nur Worte, wenn sie sagte, sie vermisse ihn.

Sie vermisste ihn, wie er an der Fritteuse stand und Mama sagte, sie solle ihn in Ruhe lassen. Vermisste ihn an der Anrichte, wo er seine berühmte Grillsoße machte. Vermisste seine weisen Antworten auf ihre ängstlichen Fragen.

Schlimmer als die Tatsache, dass nichts mehr dasselbe war, war, dass alles sich verändert hatte. Selbst sie hatte sich verändert. Sie war sich ihrer selbst, ihrer Zukunft, nicht einmal mehr ihrer Gedanken sicher.

Mama hatte sich am allermeisten verändert. Das Feuer hatte ihre Seele verlassen. Tag um Tag versickerte ihr mutiges Selbstbewusstsein mehr. Sie bewegte sich langsamer, redete langsamer, kümmerte sich weniger.

„Avery?“ Mama blieb bei ihr stehen, die mehlbepuderten Hände auf den beschürzten Hüften. „Du hast noch gar nicht erzählt, wie dein Arzttermin war.“

„Gut.“ Ohne groß darüber nachzudenken, berührte Avery ihre Schulter. „Der Arzt sagt, es verheilt alles gut.“

„Aber deine Zeit als Spielerin ist vorbei?“ Mama warf einen Blick auf die neue Kellnerin. „LuEllen, stell das Geschirr einfach in die Spülmaschine. Ich lass die gleich durchlaufen. Geh du zurück in den Gastraum.“

„Ich kann die Spülmaschine beladen, Mama.“ Avery wollte um den Vorbereitungstisch herumgehen, doch Mama hielt sie sanft am Arm fest.

„Beantworte meine Frage.“

Sie erwiderte Mamas Blick, und Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ja, meine Zeit als Spielerin ist vorbei. Jedenfalls die als aktive, professionelle Spielerin.“

„Also keine Chance, was Beachvolleyball angeht?“

Alleine dass sie Mama die Worte sagen hörte, die sie sich selbst weigerte, laut auszusprechen, brachte noch mehr Tränen hervor. Kopfschüttelnd duckte sich Avery an Mama vorbei.

Als Spielerin des Jahres der Big Ten Conference hatte ihr die Zukunft zu Füßen gelegen. Als starke Außenangreiferin mit 1,80 m Größe hatte eine Profikarriere auf sie gewartet.

Sie hatte einen Agenten gehabt. Ein Weilchen. Und das Interesse der Olympiasiegerin Ella Watson.

Aber die Rotatorenmanschette, die sie sich während ihrer Zeit als Jugendspielerin verletzt hatte, verfolgte sie noch in ihrem Abschlussjahr bei den Collegemeisterschaften. Es folgten eine Operation und die strenge Erklärung des Arztes: „Sie sind fertig.“

„Wie geht es dir damit?“ Mama hatte überhaupt keine Skrupel, sich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen, baute selbst aber hohe Backsteinmauern auf, wenn man es wagte, sich bei ihr nach persönlichen Dingen zu erkundigen.

„Ich weiß es nicht.“ Avery stellte sich an die Spülmaschine und begann sie zu bestücken. Dabei schluckte sie einen ganzen Klumpen Emotionen hinunter, der aber wahrscheinlich mehr mit Daddy als mit dem Ende ihrer Volleyballkarriere zu tun hatte. „Gruselig irgendwie, nehme ich an. Volleyball war dreizehn Jahre lang mein Leben. Was jetzt?“

Zwei Sommer in Folge war sie mit einer Auswahl von Collegeathleten durch Europa getourt, mit Zwischenstopps im Königreich Brighton, wo sie ihre Schwester, Ihre Königliche Hoheit Prinzessin Susanna von Brighton, verheiratet mit König Nathaniel II., besucht hatte. Das war bei ihren staunenden Teamkolleginnen ganz gut angekommen.

„Du siehst zu, dass du mit deinem Leben weitermachst, so sieht’s aus.“ Mama zog ein Geschirrtuch durch die Hände. Ein nervöser Tick, den sie sich nach Daddys Tod angewöhnt hatte. „Ich könnte dich öfter hier gebrauchen, jetzt, wo Daddy weg ist.“ Sie sagte das so nüchtern. So endgültig. Wo Daddy weg ist.

„Das Shack, Mama? Ehrlich?“ Sie würde einen jungen, tragischen Tod sterben, wenn sie für den Rest ihres Daseins an das Rib Shack gefesselt wäre.

Das Restaurant der Familie war zweifellos ihr zweites Zuhause. Sie war in den Schatten der Anrichte und der Fritteuse aufgewachsen und hatte dabei viel Freude gehabt. Ihre Kindheitserinnerungen waren ihr großer Schatz.

Aber sie hatte Träume. Wollte das Leben mit beiden Händen ergreifen. Wollte einen Unterschied machen auf der Welt. Volleyball war ihr vorgezeichneter Weg gewesen. Aber jetzt, wo diese Tür verschlossen war, fielen ihre Zukunftshoffnungen in sich zusammen.

Und dann war noch nicht mal Daddy da, um ihr den Weg zu zeigen.

Avery lächelte LuEllen an, die ein weiteres Tablett mit Geschirr für die Spülmaschine brachte, und wandte sich dann an Mama. „Sie scheint sich ganz gut zu machen.“

Mama sah über ihre Schulter. „LuEllen? Ja, sie ist eine tüchtige Mitarbeiterin. Avery, Liebes, sei vorsichtig mit den Tellern. Die sind ganz schön robust, aber trotzdem aus Ton.“

Ja, aus Ton. Wie Mama. Wie Avery.

„Ich habe über das Trainieren nachgedacht.“ Avery stellte den letzten Teller in die Maschine und knipste sie an.

Mama seufzte. „Na, gut wärst du schon. Daddy hat immer gesagt, du könntest alles tun, was du dir in den Kopf setzt. Aber ich würde dich hier doch ziemlich vermissen.“

„Ja, aber ich habe eben nie vorgehabt, mein ganzes Leben hier zu verbringen.“ Avery schaute zu Mama hinüber. Die stand am Vorbereitungstisch und machte Kekse. Auf ihren Schultern lastete ein Mantel aus Traurigkeit. Der hatte sich an dem Tag auf sie gelegt, als sie mit Avery und Susanna Daddys Asche über dem Atlantik verstreut hatte.

„Tja, nun, Liebes, das Leben hat es nun einmal so an sich, dass sich der Wind gelegentlich dreht.“

„Ich sage dir was“, sagte Avery und schob Mama beiseite. „Warum gehst du nicht nach Hause? Du bist seit dem Morgengrauen hier. Nimm den restlichen Nachmittag frei. Ruh dich aus. Ich glaube, seit Saisonbeginn hast du noch keinen einzigen freien Tag gehabt.“

„Ich würde lieber arbeiten.“ Mama rührte sich nicht. Avery verstand sie. Ihr ging es genauso. Die Arbeit lenkte sie ab, hielt sie vom Selbstmitleid ab. Hielt sie fern von einem Zuhause, dem Daddys Licht fehlte.

„Du könntest allerdings nach Hause gehen“, sagte Mama. „Schone deine Schulter. Schau mal nach, ob die neuen Jalousien fertig sind, für die ich Bill Springer bezahlt habe. Es gibt keine Ausrede für schlampige Arbeit, sage ich immer.“

Aber Avery wollte auch noch nicht nach Hause gehen. Dort war es dunkel und einsam, ein leeres Überbleibsel dessen, was es einst gewesen war – ein Heim voller Leben und Lachen, Daddys und Mamas freundlichen Kabbeleien, Susannas Kommen und Gehen. Bis sie einen König geheiratet hatte.

„Ich glaube, ich würde auch lieber arbeiten.“

Mama nahm einen langsamen, tiefen Atemzug. „Du warst mir in den letzten Monaten ein Fels in der Brandung, Aves. Hast dein Leben hintenangestellt, um mir zu helfen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich musste mich daran gewöhnen, dass Susanna weg war, erst auf dem College, dann viertausend Meilen weiter in Brigthon, als Prinzessin und alles. Dann habe ich dich aufs College geschickt, auch noch auf ein Yankeecollege zu allem Überfluss, wo du ein Volleyballstar geworden bist. Jetzt muss ich mich daran gewöhnen, dass …“ Ihre Stimme brach, ein leiser Schluchzer entwich ihren zusammengepressten Lippen.

„Ich vermisse ihn auch.“ Avery legte die Arme um Mama, die mit geballten Fäusten steif über den Vorbereitungstisch gebeugt blieb.

„Es ist nur …“ Mama schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich kann mich nur einfach nicht daran gewöhnen.“ Sie hob ihren Kopf und wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen. „Aber, ach, was war dein Daddy nicht stolz auf dich.“ Mama wandte sich wieder dem Keksteig zu. „Der wäre bald aus den Bändern seiner Schürze geplatzt, wenn er von dir erzählte. Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich ihn mit Boss, Duke und den Jungs in der Altherrenecke drüben gefunden habe, wo er erzählt hat, dass du wieder Spielerin der Woche warst oder Spielerin des Jahres oder was es nun gleich war …“ Ihre Stimme verlor sich. „Aber ich nehme an, das habe ich dir alles schon einmal erzählt.“

„Ich höre das gerne noch einmal.“ Avery versuchte, Mamas Gesicht zu sehen, aber die hielt eine Schulter hochgezogen, sodass man es schlecht erkennen konnte. Also schlenderte sie zur Spüle, um einen sauberen, feuchten Lappen zu holen und die Arbeitsfläche abzuwischen. Die Geschichten über Daddy füllten die Löcher in ihrem Herzen. Sie wusste ja, dass er stolz auf sie gewesen war, aber seine Gedanken hatte er doch meist für sich behalten.

Komisch irgendwie, dass das Letzte, was er ihr je gesagt hatte, etwas über die Liebe war, über Prinz Colin. Sie seufzte. Es hatte keinen Sinn, diese sehr endgültige Sackgasse entlangzugehen.

„Wir werden es gut haben, Avery, uns wird es gut gehen.“ Mamas Erklärung klang etwas wackelig. „Der gute Herr vergisst die Seinen nicht, nicht wahr?“

„Nein, das tut Er nicht.“ Das war jedenfalls Averys Überzeugung, wenn auch nicht ihre Erfahrung. Obwohl, konnte sie wirklich eine Zeit ausmachen, in der Gott sie vergessen hätte?

„Glo?“

Mama sah Catfish an, Chefkoch und Flaschenwäscher, wie sie ihn gerne nannte. Er war lang und schlank mit einem dünnen, zotteligen Schnurrbart. Wie ein Catfish eben, ein Wels.

„Telefon. Es ist Susanna.“

„Du liebe Güte, ich habe es nicht einmal klingeln gehört.“ Mama schnappte sich Averys feuchten Lappen und wischte sich die Hände ab, während sie im Büro verschwand, wo sie mit schriller Stimme überschwänglich ihre älteste Tochter begrüßte. „Susanna, was in aller Welt … Wie geht es dir?“

„Catfish“, sagte Avery, „ich komme gleich wieder. Ich mach mal fünf Minuten Pause.“

Er winkte ihr zur Antwort, den Kopf schon wieder über der Fritteuse. Draußen auf der hinteren Terrasse setzte sich Avery an einen der Picknicktische, fischte ihr Telefon aus der Hosentasche und schaute nach ihren E-Mails.

Mama hatte sie noch nichts davon gesagt, aber sie hatte sich für ein paar Trainerposten in der Nähe beworben. Valdosta State, Jacksonville State und Appalachian State.

Wenn sie schon nicht selbst spielen konnte, wollte sie andere trainieren.

Dann hatte ihr heute Morgen ein Freund eine Ausschreibung für eine Trainerstelle der Herrenmannschaft an der UCLA geschickt. Warum nicht? Männer trainierten schließlich schon seit Ewigkeiten Frauenmannschaften. Also hatte sie sich beworben. Kalifornien, hier komme ich. Der goldene Staat war weit weg von zu Hause, aber sie brauchte Veränderung, musste ihre Trauerkleidung ablegen, musste Leben und Abenteuer atmen.

Durch Palmettopalmen und Pinien hindurch starrte Avery auf den Pfad zum Strand hinunter, wo der Atlantik seine Wellen auf den Sand warf. Sie hatte hier schon eine Million Mal gesessen, aber heute fühlte sie sich wie ein Gast, eine Fremde in ihrem eigenen Leben.

Das erinnerte sie alles so sehr an die Zeit vor vier Jahren, als sie am gleichen Tisch gesessen und schmerzerfüllt versucht hatte, ihr gebrochenes Herz wieder zusammenzusetzen.

Sie hatte bereits ein Stipendium für die Ohio State angenommen, also gab es einen Weg, dem sie folgen konnte, sie hatte etwas zu tun. Aber nichts fühlte sich richtig an. Sie weinte sich in den Schlaf. Weinte sich wieder wach.

Die kühle, salzige Brise strich über die Terrasse, und Avery atmete ein, während die Erinnerungen mit den dazugehörigen Gefühlen an die Oberfläche stiegen.

Sie war genau hier gewesen, nur wenige Wochen vor ihrem 18. Geburtstag, ihrem Abschlussball und dem Schulabschluss überhaupt. Nur wenige Monate hatten sie von der Universität getrennt. Wenn sie denn überhaupt hingehen würde.

Denn im vorherigen Winter und Frühling hatte sie sich verliebt. Nein, nicht verliebt, sie hatte die Liebe gefunden. Tiefe, das Herz raubende Liebe. Träume, die sie vorher nie geträumt hatte, waren plötzlich wahr geworden.

Aber an jenem Abend … Avery zitterte und rieb sich den Arm. An jenem Abend war ihr eine frische Brise über die Wange gestrichen, während sie wartend an einer großen Cola light genippt hatte. Auf seinen Anruf wartend. Den Anruf dessen, der ihr Herz mit nur einem Blick erobert hatte.

Als das Telefon in ihrer Hand endlich gesummt hatte, war es kein Anruf, sondern eine Textnachricht gewesen.

Colin: Ich kann nicht kommen.

Avery: Warum? Ist alles in Ordnung?

Colin: Ich kann einfach nicht. Verpflichtungen und so.

Avery: Ich komme zu dir. Ich muss nicht zum Abschlussball. Ich wäre lieber mit dir zusammen.

Colin: Nein. Geh du mal. Du gehörst dahin. Ich bin mit Lernen und Prüfungen beschäftigt und bereite mich auf den Militärdienst vor.

„Aves“, die Fliegengittertür klapperte im Hintergrund zu Mamas Stimme. „Pack deine Taschen. Wir fliegen über Weihnachten nach Brighton.“ Mama setzte sich auf den Picknicktisch neben Avery und strich sich das wilde, krause Haar aus dem Gesicht.

„Was?“ Avery steckte überrascht ihr Handy weg. Der fröhliche Ton in Mamas Stimme gefiel ihr. „Das Rib Shack über die Feiertage sich selbst überlassen?“

Mama verließ das Restaurant nie, am wenigsten in der Weihnachtszeit. Na gut, ein einziges Mal. Als Susanna vom College zu Hause gewesen war und Daddy sie mit Tickets nach Vermont überrascht hatte. Mama hatte noch nie im Leben Schnee gesehen. Also hatte Daddy Susanna und Avery die Verantwortung übergeben und Mama ins romantische Stow verschleppt, wo sie eine unfassbar gute Zeit verbracht hatten.

„Deine Schwester ist wieder schwanger.“ Mama klopfte ihr aufs Knie.

„Wirklich?“ Susanna versuchte jetzt seit drei Jahren, einen Erben für den Thron von Brighton hervorzubringen. Avery konnte sich den Druck gar nicht vorstellen.

„Beinahe dreizehn Wochen. Sie ist sehr hoffnungsvoll. Glaubt, dass sie dieses nicht verlieren wird.“ Susanna hatte in drei Jahren fünf Babys verloren und ihnen allen damit jedes Mal das Herz gebrochen. „Würde dein Daddy diese Nachricht nicht bis in den Himmel rufen?“ Mama schlug ihr noch einmal aufs Knie. „Also, was meinst du? Ab ins Königreich Brighton zu Weihnachten?“ Sie sagte alles in einem Atemzug. Als müsste sie es sagen, bevor sie es sich anders überlegte.

„Dir ist schon klar, dass Susanna das Baby nicht nächsten Monat bekommen wird, oder?“

„Jetzt komm du mir nicht so naseweis, Avery Mae. Das ist die erste gute Nachricht seit einem halben Jahr. Also, warum nicht über Weihnachten nach Brighton fahren? Es fuchst mich, dass Daddy immer hinwollte und ich mich geweigert habe, weil das Shack uns über die Feiertage brauchte.“ Mama hob ihr linkes Bein und zog die Hose hoch. Ihre Beinschmerzen waren eine Folge der langen Zeit, die sie auf ihnen verbracht hatte. Jahrzehnte. „Seit dreißig Jahren schufte ich in diesem Schuppen vor mich hin, und wie werde ich belohnt? Mit Krampfadern und schlimmen Füßen.“

„Du hast wirklich vor, zu fahren? Willst Catfish und Bristol das Ruder überlassen, während du und ich nach Brighton rüberfliegen?“ Avery hatte ihre Zweifel. „Das glaube ich dir nicht.“

Mama schlug die Hände zusammen und hüpfte vom Picknicktisch. „Glaube mir, mein Kind, wir fliegen nach Brighton. Ich werde Weihnachten in einem Palast verbringen und für das Baby im Bauch meiner Tochter beten. Stell dir nur vor, mein Enkelkind ist ein Prinz oder eine Prinzessin. Das ist schon was, oder? Außerdem ist mir der Gedanke gekommen, dass wir von allen Weihnachtsfesten vor allem dieses als Familie gemeinsam verbringen sollten. Gib hätte es so gewollt.“

Avery stand auf und machte sich auf den Weg zurück in die Küche. „Du wirst dir die ganze Zeit über wegen des Shacks Sorgen machen.“

„Nein, da hab ich mich schon dagegen entschieden. Ich werde mir keine Sorgen machen.“ Mama folgte Avery durch die Küchentür, räumte nebenbei beim Gehen auf, stellte ein benutztes Backblech in die Spülmaschine, alles eine automatische Bewegung, weil das Shack so sehr Teil ihrer Natur war. „Wir werden nach Thanksgiving fahren, weil meine sture Schwester darauf besteht, dass die ganze Familie zum Abendessen hierherkommt. Aber wir werden gerade rechtzeitig zu dem Budenzauber in Cathedral City ankommen, den sie dort jeden Herbst haben.“ Mama schnippte mit den Fingern und drehte sich zu Avery. „Wie nennen die das noch mal?“