Kitabı oku: «Die Burnout-Lüge: Ganz normaler Wahnsinn»
© 2012 EHP - Verlag Andreas Kohlhage, Bergisch Gladbach www.ehp.biz
Inhalt
Einleitung: Burnout – meine postmoderne Existenz
Unsere tägliche Prominenz
Der Kerkeling-Effekt – Holzweg nach Santiago – Ich bin dann mal weg – Schein-Riesen der Medienlandschaft – Reality oder Illusion? – Deutschland sucht den Superstar – Unsere tägliche Prominenz
Der Trend zum Event
Was ist echt? – My second life – Guggenheimisierung der Kultur – Trend zum Event – Kultur des Glotzens – Event und Prominenz – Kaisers neue Kleider – Die Burnout-Gesellschaft
Geborgte Leidenschaft
Vagabunden der Postmoderne – Renaissance der Leidenschaft – Tango forever – Das Fremde und das Eigene – Erotik und Exotik – Leiden und Leidenschaft – Nur nicht aus Liebe weinen!
Coolness
Diktatur des Frohsinns – Liebe ist nur ein Wort – Kein Gefühl – Emotional farbenblind – Wo kaufe ich mir ein Gefühl? – Anleitung zum Burnout
Normaler Wahnsinn
Neurosen ändern ihr Gesicht – Die narzisstische Dynamik – Ein postmoderner Menschentyp? – Das geborgte Selbst – Pathologie der Normalität – Ganz normales Burnout
Ausgebrannt
Im Biotop des Marktes – Die Stunde der Spekulanten – Der spekulative Charakter – Narzisstische Epidemie? – Die marktorientierte Persönlichkeit – Ein erschöpftes Selbst – Die Burnout-Lüge – Störungen haben Vorrang
Nachtrag: Erinnerung an die Zukunft
Literatur
Zum Autor
Burnout: Meine postmoderne Existenz
Einer postmodernen Epidemie widmet das Nachrichtenmagazin Der Spiegel einen Aufmacher. Millionen Deutsche leiden demnach unter Burnout. Laut Spiegel sind die Deutschen ein Volk der Erschöpften: Nahezu jeder dritte Zeitgenosse entwickelt innerhalb eines Jahres eine psychische Störung, über vier Millionen Bundesbürger leiden unter behandlungsbedürftigen Depressionen.
Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts haben sich Krankschreibungen wegen psychischer Belastung fast verdoppelt; die Deutschen schlucken heute zweimal so viele Antidepressiva wie Ende der 1990er-Jahre. Und die Patienten werden immer jünger, heißt es in der zitierten Spiegel-Titelstory, die mit zahlreichen Fallbeispielen aufwartet.
In den folgenden Monaten wird das sogenannte Burnout-Syndrom zu einem Dauerbrenner des Feuilletons und liefert Stoff für zahlreiche Titel der großen Magazine und Wochenbeilagen. Burnout avanciert offiziell zu einem Wort des Jahres: Zwar ist das Wort und insbesondere die Krankheit schon seit längerem verbreitet, doch ist Burnout zunehmend als Ausdruck der Probleme unserer heutigen schnelllebigen Zeit zu verstehen und verbreitet sich als Begriff derzeit geradezu inflationär, lautet die diesbezügliche Begründung der Gesellschaft für deutsche Sprache vom Dezember 2011.
Es ist zu befürchten: Zur inflationären Verbreitung des Wortes wird auch meine vorliegende Publikation beitragen, in bescheidenem Umfang. Ob ein schillerndes Phänomen dadurch klarer wird, steht auf einem anderen Blatt. Denn eine Unzahl von Presseartikeln und Buchpublikationen der letzten Jahre zeigt, dass dieses Syndrom offenbar ebenso verbreitet wie schwer zu fassen ist.
Gab es Burnout nicht immer schon – z.B. in Gestalt der sogenannten Midlife-Crisis früherer Zeiten – und tritt es nicht lediglich jüngst verstärkt ins allgemeine Bewusstsein? Oder handelt es sich um eine innerhalb kurzer Zeit sprunghaft verbreitete Pandemie, die von drastisch verschlechterten Arbeitsbedingungen und prekären Beschäftigungsverhältnissen begünstigt wird? Vielleicht ist es auch lediglich eine Inszenierung der Massenmedien, die zur Steigerung ihres Absatzes ein Phänomen herbeischreiben, das sich dann vermeintlich in der Realität spiegelt. Wie auch immer: Burnout wurde längst zu einem Verwundetenabzeichen der Leistungsgesellschaft.
Ob und wie weit ein Burnout-Syndrom überhaupt existiert, hängt allerdings in erster Linie ab von Diagnosen und Konzepten, von Definitionen und Konstrukten der Fachleute verschiedener Disziplinen. Beileibe nicht jede Stressbelastung und daraus resultierende Krise führt automatisch in den persönlichen Kollaps. Eine Fixierung auf den beruflichen Aspekt, wie sie seit Beginn der Erforschung des Syndroms stets im Fokus steht, ist ohnehin irreführend. Hier liegt die eigentliche Lüge, wenn Burnout gleichsam als betriebsbedingter Ausfall des Individuums vorgeführt wird, ohne dem gesellschaftlichen Umfeld einer postmodernen Kultur Rechnung zu tragen.
Denn letztlich geht es immer um das Scheitern eines Lebensplans, um die Enttäuschung eines Selbstkonzeptes der Betroffenen, ähnlich der so genannten Midlife-Crisis früherer Jahre. Ein existenzielles Burnout ist nahezu unvermeidlich, wenn man in einem begrenzten Lebensvollzug nicht findet, was man eigentlich sucht, und mit der Zeit neben Glauben, Hoffnung und Liebe auch den Sinn im Dasein verliert.
Wer heute an Burnout erkrankt, hat deshalb mit Sicherheit vor langer Zeit auf ein falsches Pferd gesetzt, hat Grenzen und Begrenzungen seines Selbst nicht erkannt und die Verwirklichung seiner Existenz an irrtümliche Bedingungen geknüpft, die sich eines Tages gegen ihn wenden.
Angesichts ihrer derzeitigen Verbreitung hat die Symptomatik des Burnouts alle Chancen, zum Schlüsselbegriff zu werden; allerdings weniger für das individuelle Scheitern im Beruf. Eher schon wird Burnout zu einer Metapher für den Zustand unserer Kultur im 3. Jahrtausend und zum Paradigma, das eine Grundbefindlichkeit des postmodernen Menschen charakterisieren kann.
Wer aber ist der Mensch? Zugestanden, im 3. Jahrtausend kommt diese Frage reichlich spät. Und ist zudem nicht sonderlich originell. Denn sie begleitet uns seit geraumer Zeit, genauer gesagt seit Beginn des Denkens. Verschiedenste Antworten wurden im Lauf der Jahrhunderte akzeptiert und verworfen.
Dennoch ist jeder von uns genötigt, diese Menschheitsfrage wohl oder übel an sich selbst zu richten und mehr noch, sie durch seine eigene Lebenspraxis zu klären, bewusst oder gedankenlos. Sein oder Nicht-Sein, Sinn und Unsinn beweisen wir ständig im täglichen Lebensvollzug. Unter diesem Aspekt bleibt sie sich immer gleich, die Frage nach dem Menschen, der ich selbst bin – und kommt bei aller Beantwortung an kein Ende.
Was sich allerdings stetig wandelt, sind unsere Lebensbedingungen, die Umstände unserer Existenz. Ändert sich damit auch der Mensch, womöglich in seiner Substanz, vielleicht innerhalb kurzer Zeit? Dieses Thema soll mich auf den folgenden Seiten beschäftigen. Meine Leserinnen und Leser lade ich ein, mich auf diesem Weg einige Stunden zu begleiten.
Welcher Menschentyp entfaltet sich im sozialen und kulturellen Biotop der Gegenwart? Was sind die Hoffnungen unserer späten Moderne, wo liegen unsere Leiden und Leidenschaften?
Von drei Seiten her droht das Leiden: Vom eigenen Körper her, der, zu Verfall und Auflösung bestimmt, sogar Schmerz und Angst als Warnungssignale nicht entbehren kann, von der Außenwelt, die mit übermächtigen, unerbittlichen, zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann, und endlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen.
Der Autor dieser Gedanken, Sigmund Freud, vergisst hier eine weitere Quelle des Unbehagens in der Kultur, zumindest ist sie ihm einer Erwähnung nicht wert. Jene Behandlung nämlich, die dem Individuum zuteil wird durch sich selbst. Was Leid und Missbehagen betrifft, muss das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und damit unsere Beziehung zur eigenen Emotion im Mittelpunkt der Erörterung stehen, heute vielleicht mehr als ehedem.
In diesem Zusammenhang die schlechte Nachricht zuerst: Zehn Prozent aller deutschen Erwachsenen haben laut wissenschaftlichem Befund keinen Zugang zu Gefühlen. Jetzt die gute: Dies kann sich ändern, wenn man in den Inszenierungen, Produkten und Symbolen der Konsumlandschaft einen käuflichen Ersatz für die eigene Gefühlswelt erkennt und damit jene Coolness, die uns der eigenen Gefühlswelt entfremdet – und somit einem emotionalen Burnout Vorschub leistet.
Erfahrungen mit Klienten im Coaching meiner Beratungspraxis sowie Gespräche mit Freunden und Kollegen brachten für mich die Frage: Gibt es ein Grundgefühl der Gegenwart, eine Mentalität des 3. Jahrtausends, einen Gesellschaftscharakter der Postmoderne? Anders gesagt: Wo liegt der emotionale Mainstream unseres heutigen Lebens?
Suchen wir Vagabunden der späten Moderne einen Rückzug auf uns selbst aus Furcht vor sozialer Kälte – oder bringen wir diese als Coolness selbst hervor? Die folgenden Seiten suchen Antworten auf diese Fragen und wollen dabei nicht im Allgemeinen bleiben. Zudem soll die Erörterung lesbar sein, streckenweise unterhaltsam vielleicht. Konkrete Beobachtungen aus dem Panorama der Gegenwartskultur werden im Lauf der Diskussion herangezogen. Gewiss: Manches gleicht einer Karikatur, anderes erinnert an Satire, an absurdes Theater – das Drehbuch schreibt aber immer die Realität.
Im Folgenden präsentiere ich Erfahrungen und Beobachtungen aus unserer täglichen Begegnung mit Massenmedien und Kulturbetrieb, mit Konsum- und Finanzwirtschaft. Bei manchen Aspekten werde ich länger verweilen, einige Beispiele sind zuweilen detailliert geschildert. Eine Plausibilität zahlreicher Beispiele, wenn sie auch meiner Leserschaft einleuchten, legitimiert hoffentlich den folgenden Versuch einer psychodynamischen Interpretation kultureller Kälte, die ich als ein Symptom des postmodernen Burnouts verstehe. Den Gedankengang des folgenden Essays kann ich in wenigen Worten oberflächlich skizzieren:
Coolness wurde zu einer postmodernen Überlebensstrategie und begegnet uns allenthalben: in den Giganten des Kulturbetriebs ebenso wie in den Inszenierungen der Erlebniswirtschaft, vor dem Fernseher wie im Internet. Der Wahnsinn einer flächendeckenden Medien- und Eventkultur leistet dem postmodernen Burnout Vorschub und tarnt sich dabei mit scheinbarer Normalität (Kapitel Unsere tägliche Prominenz und Der Trend zum Event).
Geborgte Leidenschaft ist ein Mainstream, der Leiden um jeden Preis vermeiden will, und deshalb Teile des eigenen Selbst ausgelagert hat. Ein erschöpftes Selbst ist zu eigener Betroffenheit immer seltener fähig und bedient sich stattdessen geborgter Leidenschaften, die außerhalb der eigenen Person stattfinden. Der Rückzug auf sich selbst führt dabei zu narzisstischer Kälte, die als Coolness in Erscheinung tritt und ein kulturelles Burnout vorbereitet.
Ein Menschentyp, der eigene Emotionen ersetzen muss, macht allerdings beim gekauften Selbst nicht halt. Die Inszenierungen eines spekulativen Marketingcharakters bedrohen Wirtschaft und Gesellschaft – sie provozieren das Burnout einer sozialen Eiszeit.
Wenn bisher und im Folgenden des Öfteren von Postmoderne die Rede ist, so wird dieser Begriff anfangs des 3. Kapitels näher erläutert. Nicht zufällig steht er in enger Beziehung zu anderen Schlüsselwörtern dieses Essays, wie etwa Coolness und Leidenschaft, Narzissmus und Burnout. Kurz gesagt: Nach meiner Einschätzung ist das gegenwärtige coole Zeitalter ein Burnout der Moderne. Eine narzisstische Dekompensierung führt dabei zahlreiche Menschen drastisch an ihre Grenzen. Dies zu verdeutlichen ist Anliegen der folgenden Seiten.
Allerdings: Manche geben sich etwas zu leicht damit zufrieden, über den nur allzu bekannten Orientierungsverlust des modernen Menschen, die daraus folgende Schwächung der sozialen Bindungen, die Privatisierung der Existenz und den Niedergang des öffentlichen Lebens zu klagen (Ehrenberg 2008: 18).
Diese Gefahr besteht, und ich will ihr so weit wie möglich nicht erliegen. Nostalgie einer besseren Zeit oder Sehnsucht nach klaren Verhältnissen sind nicht das Motiv meiner Darstellung. Nicht ein Blick zurück steht im Mittelpunkt der Diskussion. Meine Frage auf den folgenden Seiten gilt der künftigen Dimension unserer Gesellschaft zwischen sozialer Polarisierung und einem kulturellen Burnout, das immer deutlicher zutage tritt.
Unsere tägliche Prominenz
Der Kerkeling-Effekt – Holzweg nach Santiago – Ich bin dann mal weg – Schein-Riesen der Medienlandschaft – Reality oder Illusion? – Deutschland sucht den Superstar – Unsere tägliche Prominenz
Der Kerkeling-Effekt
Die Wanderimpressionen des deutschen Entertainers Hape Kerkeling auf dem spanischen Jakobsweg machen als Bestseller von sich reden. Sein Titel Ich bin dann mal weg! hält sich hundert Wochen lang auf Platz eins der Sachbuchlisten. Mit diversen Printausgaben und Hörbüchern erzielte der Comedian seit dem Jahr 2006 eine Gesamtauflage von mehr als vier Millionen Exemplaren. Damit ist dieser Erlebnisbericht das meist verkaufte deutschsprachige Sachbuch überhaupt, sozusagen das Buchereignis der letzten Jahre.
Über Kerkelings Reiseziel und den Weg durch Spaniens Nordwesten nach Santiago de Compostela wird man hier jedoch nicht unbedingt klüger. Allerdings ist das Buch flüssig geschrieben und stellt geringe Ansprüche an die Konzentration des Publikums, somit die ideale Bettlektüre. Den mehrfach preisgekrönten Verfasser hat man im Fernsehen mit teils köstlichen Persiflagen erlebt, als sympathischer Entertainer sind seine Popularitätswerte bei Unterhaltungssendungen garantiert, deshalb empfiehlt sich sein Pilgerbuch auch als Geschenk im Freundeskreis: Donnerwetter, Jakobsweg, hätte man gar nicht erwartet vom Hape!
Aus einem anfänglichen Geheimtipp wird somit ein millionenfacher Bestseller und allein die Tatsache dieser flächendeckenden Präsenz sorgt bereits für Gesprächsstoff. Ein Band, dessen Verbreitung mit dem Telefonbuch und der Bibel konkurrieren kann, muss nahezu unverzichtbar sein. Das Phänomen des Buchautors Kerkeling verdient deshalb einige Beachtung.
Weniger allerdings der Inhalt einer Publikation, die mit dem Symbolwert der Pilgerstraße spielt, ohne ihre historische oder spirituelle Dimension ernst zu nehmen. Nicht etwa der vermeintlich in Santiago de Compostela begrabene Patron des katholischen Spanien wird hier zum Motiv eines beschwerlichen Fußweges, sondern ein Fernsehstar auf der Suche nach sich selbst – der allerdings seinen Urlaub auch anderswo verbringen könnte. Entsprechend erfährt der Leser so gut wie nichts über Spanien und seine historische oder aktuelle Szenerie. Nach überstandener, bald kurz- und bald langweiliger Lektüre weiß er hingegen so manches über einen postmodernen Pilger, der in erster Linie Geschmack findet an der Wirkung seiner eigenen Person.
Kerkeling outet sich als sogenannte Couch-Potato und erwartet von sich keine sportlichen Höchstleistungen. Auf dem Pilgerweg will er die Folgen eines Hörsturzes überwinden, der ihn zeitweise aus der Bahn geworfen hat. Einzelne Etappen der rund 750 Kilometer langen Wegstrecke legt er aber lieber mit dem Automobil zurück. Pilgerunterkünfte für das gemeine Volk sind seine Sache nicht, er bevorzugt bessere Hotels; schließlich will er sich verständlicherweise für die körperliche Anstrengung des Tages abends nicht bestrafen.
Städte, Dörfer und Landschaften des vielseitigen spanischen Nordens spielen bei ihm keine Rolle, noch weniger Kirchen und Klöster, wie sie Kulturtouristen eifrig frequentieren: Auf dieser Bühne will er nicht auftreten. Stattdessen widmet er seine Aufmerksamkeit den Menschen und Weggenossen, die ihm während des Marsches begegnen und ihn streckenweise begleiten. Und natürlich seinen Impressionen, der Reaktion des eigenen Körpers auf die ungewohnten Beschwerden des Wanderns und zahlreichen Fragen an sich selbst. Hat man ihn wohl hier oder dort als Prominenten erkannt?
Sein erheblicher Bekanntheitsgrad ist ihm Lust und Last, denn schließlich will er dem Gegenüber als Mensch begegnen, als Pilger unter seinesgleichen. Fühlte sich die Kanadierin gestern von ihm angemacht oder hat sie ihn heute als Schwulen ausgemacht, was den Umgang erleichtern könnte? Den deutschen Spießern von der letzten Mittagsrast will er jedenfalls nicht wieder begegnen. So gehen die Tage hin und füllen sich die Buchseiten.
Mit wenigen Episoden der Schilderung, die ausdrücklich ernst und besinnlich werden, ist der Leser nicht eben überfordert. Auf einem Pilgerweg sollte man ja auch an Gott denken, was immer das sein mag. Im heimatlichen Religionsunterricht hat er davon einiges gehört, aber liegt Gott nicht eher in uns selbst? Und was er wohl von mir denken mag, wenn er mich hier wandern sieht?
In einigen Buchzeilen zeigt sich Kerkeling tatsächlich innerlich berührt, wenn er etwa am Beispiel einer Krebserkrankung auf den Tod zu sprechen kommt. Dass sich die Christenheit über Gott und die Welt und die letzten Dinge seit zweitausend Jahren den Kopf zerbrochen hat und dabei zu Ergebnissen kam, ist ihm aber ziemlich schnuppe. Denn nichts Genaues weiß man lieber nicht, sonst wäre Glauben ja Wissen und damit überflüssig. Außerdem hat das womöglich unerwünschte Nebenwirkungen. Also vertraut man besser auf den inneren Kompass der eigenen Ahnung, die uns sagt: Irgendwie ist da was, und dahin bin ich unterwegs.
Ist das alles, was einer auf 350 Seiten über sich zu sagen hat? Denn über anderes als die eigene Person spricht er ja selten in diesem Reisebericht.
Holzweg nach Santiago
Kerkelings flüssig erzählte Erlebnisschilderung gerät zu einer Mischung von Ausgleichssport, Zufallsbekanntschaften und einer tieferen Bedeutung, die sich bald im Banalen verliert. Ein wochenlanger Fußmarsch bietet dazu reichlich Anlass, wenn mürrische Gastwirte, skurrile Weggenossen und lädierte Fußsohlen farbig geschildert werden: Jakobsweg light, Pilgerschaft als zeitgemäße Kulisse einer Selbstbespiegelung, die aufgrund der Prominenz des Autors mit millionenfacher Beachtung rechnen darf.
Wenn sich etwa Lieschen Müller beim Wandern eine Blase läuft, so handelt es sich um eine Banalität, die man eher schamhaft nur im engsten Freundeskreis erzählt. Geschieht ebendies jedoch einem sogenannten Prominenten, wird ein vorübergehender Muskelkrampf schnell zum Kulturereignis.
Doch wird der Leser auf Kerkelings Weg durchaus mitgenommen, denn was ihm widerfährt, könnte jedem von uns ebenfalls geschehen. Nicht das Außergewöhnliche oder Einzigartige scheint hier mitteilenswert, sondern das, was jedem passiert und was im Grunde jeder schon weiß oder ahnt. In diesem Sinn läuft Hape Kerkeling als pilgernder Marathon-Man auf internationalem Asphalt stellvertretend für Deutschland.
Anders steht es etwa um den Bergsteiger und Autor Reinhold Messner, der in seinen Büchern über extreme Erfahrungen berichtet und uns darüber staunen lässt, wozu ein Mensch, aus welchen Motiven auch immer, fähig ist. Von ihm sind wir aber meilenweit entfernt und wir werden ihn niemals einholen, schon gar nicht auf einem Achttausender. Wenn jedoch Kerkeling, der sympathische Prominente von nebenan, nur das erlebt, was auch ich so ähnlich erleben kann, dann bin ich selbst dadurch ebenfalls ein Stück weit prominent.
Deshalb macht es nichts aus, wenn Kerkeling am Ende nichts Besonderes zu sagen hat, denn ich hätte auch nicht mehr zu berichten aus diesem Wanderurlaub auf den Spuren mittelalterlicher Pilger, und dieses Wenige wird gleichsam geadelt von Kerkeling. Durch die Lektüre des Buches erfahren auch wir durchschnittliche Leser den Ritterschlag einer gewissen Prominenz. Hier überschneidet sich das Interesse des Autors mit dem seines Publikums, was vielleicht erklären mag, warum ein Buch mit wenig Inhalt viel gelesen wird oder zumindest weit verbreitet ist.
Daneben beruhen dieser Effekt und sein Erfolg auf dem kurzen Gedächtnis eines Medienbetriebs, der sich der authentischen Bedeutung des Pilgerwegs nicht erinnern kann, weil der historische Zusammenhang dem europäischen Kulturbewusstsein abhandenkam. Ihrer Hintergründe entkleidet steht die jüngst erst wiederentdeckte Pilgerstraße recht plötzlich im grellen Scheinwerferlicht einer postmodernen Sinnsuche, deren Bedarf an Wertorientierung immer verzweifelter wird. Der Camino als Symbol einer längst vergessenen Spiritualität signalisiert zumindest die Ahnung einer einstmals vertikal verankerten Gesinnung, die über die eigene Person hinaus weist.
Gewiss waren die mittelalterlichen Pilger aus mancherlei Gründen unterwegs zum Ende der damaligen Welt; in zeitgenössischen Berichten sind diese Anlässe gut dokumentiert. Die lange Wanderung nach Santiago verspricht seit dem Hochmittelalter vor allem die Vergebung von Sündenstrafen, daneben spielen allerlei Ziele eine Rolle: Handel und Wandel, Tourismus, soziale und erotische Erfahrungen fernab heimatlicher Zwänge. Die Suche nach sich selbst zählt allerdings durchaus nicht unter diese oftmals recht weltlichen Motive. Der Sinn des Lebens steht seinerzeit außer Frage, und der spirituelle Kompass weist nicht auf die eigene Person, sondern in die Vertikale.
Demgegenüber geht man heute wie selbstverständlich davon aus, dass sich der Wanderer am Pilgerweg irgendwie auf der Suche befindet. Unterwegs-Sein heißt demnach, ein Ziel suchen, im Zweifelsfall einen Sinn, zumindest aber einen Weg zu sich selbst. Oder eben: Der Weg ist sein eigenes Ziel. Dieses Konzept des Pilgerns als Sinnfindung steht in klarem Gegensatz zur traditionellen Bedeutung eines Pfades, dessen Sinn man nicht erfragen musste, weil sein Ziel jedem bekannt war.
Wer nicht weiß, wohin er will, darf sich nicht wundern, wenn er woanders ankommt, sagt Mark Twain. Soll der Weg ein Ziel haben, muss man um seinen Sinn bereits wissen, sonst bricht man auf, weiß nicht wohin und landet entsprechend wieder bei sich selbst. Zudem: Wege zu sich kann man und muss man immer und überall suchen und findet sie womöglich im heimischen Stadtpark oder auf der Couch des Analytikers besser als im sommerlichen Geschiebe eines Wanderpfads, der inzwischen von Abertausenden belaufen wird. Nicht zu reden von der Weisheit des spanischen Dichters Antonio Machado: Wanderer, deine Spuren sind der Weg, sonst nichts. Es gibt keinen Weg. Weg entsteht im Gehen … und schaust du zurück, dann siehst du einen Pfad – den du nie mehr betreten kannst!
Das postmoderne Konzept des Wanderns auf dem Jakobsweg ist somit das ziemliche Gegenteil seiner ursprünglichen Dimension. Weil er aber Jahrhunderte lang gründlich vergessen wurde, wird der Pilgerweg heute – ganz unbelastet von historischer Erinnerung – neu erfunden. Er führt dann nicht über Santiago in die Transzendenz oder, wie tausend Jahre zuvor, mit einem christlichen Apostel in den Kampf gegen muslimische Spanier, sondern endet in der horizontalen Dimension des eigenen Hörsturzes, den es auf einem Umweg über das Mittelalter zu kurieren gilt.
Das Unverwechselbare des Jakobswegs, seine historische Szenerie und zeitliche Landschaft, die ihn von den Wegen nach Rom oder Altötting unterscheidet, kommt dabei zu kurz. Seine politische Dimension, die Gratwanderung christlicher und muslimischer Bevölkerung in Spanien und darüber hinaus, ist den allermeisten Besuchern heute kaum einen Gedanken wert. Zu Unrecht, denn die historische Wanderung der Iberischen Halbinsel – Terror und Toleranz in einer Jahrhunderte währenden Konfrontation mit dem Islam – wäre vielleicht hilfreich in Zeiten eines religiös bemäntelten Fundamentalismus auf muslimischer Seite. Nachdem die Christenheit zwischenzeitlich ihre totalitären Impulse, geläutert durch die Moderne, weitgehend unterdrücken musste.
Andererseits ist der Patron des christlichen Spanien überall am Wege als Matamoros dargestellt, als Maurentöter, und schon deshalb kein guter Gesprächspartner für den Islam. Jakobus empfiehlt sich unter diesem Aspekt nicht unbedingt als Kandidat für den Friedensnobelpreis und präsentiert sich alles andere als politisch korrekt. Der Pilgerweg als Kriegspfad gegen Muslime! Da ist man schon froh, wenn postmoderne Pilger wie Hape Kerkeling diesen ideologischen Aspekt einfach ausblenden.
Sonst wäre nämlich der Weg nach Santiago längst, seiner historischen Bedeutung entsprechend, zum heutigen Symbol eines Heiligen Krieges gegen den Islam avanciert; statt Hape Kerkeling wäre George W. Bush nach Santiago gepilgert; Attentate nicht der baskischen ETA, sondern der muslimischen Al Kaida wären dort an der Tagesordnung, der Fremdenverkehr am Jakobsweg bräche zusammen – und Kerkeling hätte den Weg zu sich selbst in der Eifel suchen müssen. Oder im Schwarzwald.