Kitabı oku: «Die Burnout-Lüge: Ganz normaler Wahnsinn», sayfa 2

Yazı tipi:

Ich bin dann mal weg

Reichlich Polemik bei der Rezension eines harmlosen Reiseberichtes, möchte man sagen. Noch dazu aus der Feder eines Entertainers, dem auch der Autor dieser Zeilen durchaus einiges an Sympathie entgegenbringt. Das heißt, mit Kanonen schießen, und zwar auf Spatzen. Etwas Toleranz täte gut! Hat nicht jeder längst seinen eigenen Jakobsweg? Oder gibt womöglich ein millionenfach verkaufter Buchtitel Hinweise auf die Mentalität und das Grundgefühl der Gegenwart, auf eine Art postmodernen Mainstream, falls es ihn geben sollte? Die Antwort überlasse ich meiner Leserschaft – und erinnere mich eines Bonmots von Woody Allen: Ich wollte immer mal in mich gehen – aber leider war da auch niemand!

Bei aller Selbstironie des amerikanischen Komikers gibt es hier wenig zu lachen und keinen Grund zu Schadenfreude. Denn dieses Zitat deutet auf ein Dilemma, das alle betrifft. Ein direkter Kontakt mit der inneren Lebenswirklichkeit scheint heute mehr denn je geboten, will man sich nicht verlieren im verwirrenden Angebot der Lebensmöglichkeiten, im Wald der Optionen, im Dschungel der Existenzverwirklichung. Der gelegentliche Besuch bei sich selbst, das Horchen auf eine innere Stimme, ist hier gewiss eine gute Investition, wo immer sie stattfinden mag, und sei es auf dem Jakobsweg. Allerdings bietet ein innerer Monolog wenig Inhalt, sucht er nicht früher oder später eine Brücke zur gemeinsamen Realität, die offenbar immer schwerer zu finden ist.

Dem Psychoanalytiker und Fromm-Schüler Rainer Funk zufolge begegnet uns heute als neuartiger Persönlichkeitstyp der sogenannte Ich-Orientierte. Statt sich einer vorgefundenen Realität unterzuordnen oder auf hergebrachte Vorbilder zu rekurrieren, erzeugt dieser Zeitgenosse selbstbestimmt und frei von Vorgaben seine eigene Realität (Funk 2005). Ein europäischer Wanderweg nach Santiago, der, losgelöst von seinem traditionellen Hintergrund, neuerdings das eigene Selbst zum Pilgerziel erhebt, deutet womöglich in diese Richtung: die Orientierung am eigenen Ich als Grundzug der postmodernen Kultur?

Bald Mitleid und bald Ärgernis heischen Zeitgenossen, die sich selbst wichtig nehmen ohne hinreichenden Grund. Bedauerlicherweise bleibt unsere Egozentrik für die nähere und weitere Umgebung nur interessant, solange das Ego auch für andere etwas hergibt. Vor allem Künstler und Kulturschaffende wissen um diesen Engpass, wenn sie aus dem kreativen Potenzial ihrer Persönlichkeit nicht allein neue Wirklichkeiten schöpfen, sondern diese einem Publikum erfolgreich präsentieren und somit verkaufen müssen.

Demgegenüber zeigt ein Blick auf die Inszenierungen der heutigen Medienlandschaft, dass ein exklusiver Selbstbezug bald an gewisse Grenzen stößt. Das Ergebnis heißt dann Langeweile. Allerdings muss man nicht einen millionenfach verkauften Buchtitel als Referenz bemühen, diese These zu erhärten – es genügt ein Blick ins abendliche Fernsehprogramm.

Schein-Riesen der Medienlandschaft

Die Zuschauer öffentlich-rechtlicher Sender werden hier bereits Anfang der 1990er-Jahre von einem neuartigen Format überrascht, das den Auftrag des Fernsehens als Dokumentator gesellschaftlicher Realitäten in bislang ungeahnter Weise erfüllt. In langen Einstellungen wird dem Publikum eine Alltagserfahrung präsentiert, die jeder aus eigenem Erleben kennt, aber bislang kaum für berichtenswert hielt: Ein Mann mittleren Alters im Trainingsdress, modisch frisiert mit damals aktuellem Minipli, von der Kamera in der kleinbürgerlichen Umgebung seines heimischen Schlafzimmers überrascht, spekuliert in unverfälscht rheinischem Dialekt minutenlang über die Herausforderungen eines arbeitsfreien Tages: Erst noch eine Zigarettenpause lang aus dem Fenster schauen oder unverzüglich die Betten aufdecken und den Teppich säubern, das ist hier die Frage.

Wer die Einstellung zunächst für ein Amateurvideo halten muss, das unverdient seinen Weg in ein Massenmedium gefunden hat, wird bald eines Besseren belehrt. Es handelt sich um eine Folge der Dokumentarserie Die Fussbroichs (WDR ab 1990), Episoden aus dem Alltag einer Kölner Arbeiterfamilie, deren Staffeln monatelang von sich reden machten und aufgrund hoher Einschaltquoten inzwischen Kultstatus beanspruchen können.

Bald war nicht mehr zu unterscheiden, was hier distanzlos berichteter Alltag einer deutschen Durchschnittsfamilie ist oder aber eine ironisch kolportierte Inszenierung aus dem Milieu der unteren Mittelschicht. Diese Begegnung mit einer banalen Realität, die gleichsam im Verhältnis eins zu eins alles abbildet, was jeder täglich erlebt oder in seinem eigenen begrenzten Umfeld erfahren kann, ist allerdings nur Startsignal einer Vielzahl ähnlicher Formate, die seither über ein geduldiges Publikum hereinbrechen – und zwar keineswegs ausschließlich im Privatfernsehen, das seinen Ruf konkurrenzloser Seichtheit zu verteidigen hat.

Die 1999 in den Niederlanden entwickelte und heute bereits legendäre Serie Big Brother (erst RTL, dann Premiere) wird schnell zum Vorbild für andere Sendekonzepte. Ihre Staffeln beobachten bekanntlich das scheinbar alltägliche Leben und Lieben normaler junger Leute, die im engen Raum eines Wohncontainers ständig unter visueller Kontrolle und dabei im gegenseitigen Wettbewerb stehen.

Hier präsentiert sich die einmalige Chance, aus dem Nichts in kurzer Zeit zum Fernsehstar zu avancieren. Man wird berühmt, indem man sein intimes Leben vor der Republik ausbreitet beziehungsweise vor einem Publikum, das bei jeder Ausstrahlung rund drei Millionen Zuschauer zählt. Besonders hohe Zuschaltquoten verbucht die Sendung, wenn sich ein bekannter Gesangsinterpret oder Sportler in den Container verirrt und die Inszenierung mit einer Aura jener Prominenz vergoldet, die andere über ihre Teilnahme am Wettbewerb erst erreichen wollen.

Die ursprünglich in Großbritannien erfundene Erlebnisshow Ich bin ein Star – holt mich hier raus! wird seit 2004 auf RTL ausgestrahlt und in der fünften Staffel 2011 mit dem Untertitel Prominente im Dschungel zu besten Sendezeiten am Samstagabend zelebriert. Wer auch immer aus gleich welchem Grund zeitweise von sich reden macht, kann hier mithilfe einer saftigen Gage seine Privatinsolvenz hinauszögern, indem er Ekelgefühle niederkämpft und sich unter den konstruierten Bedingungen eines exotischen Dschungelcamps endgültig lächerlich macht.

Der Reiz des Formats besteht im schnellen Aufstieg in die Prominentenriege, wie er etwa im hautengen Kontakt mit Spinnen oder Kröten erreicht werden soll. Die Sendung wird im Durchschnitt von fünf bis acht Millionen Zuschauern verfolgt. Der Psychiater Mario Gmür erläutert dazu in der Frankfurter Allgemeinen, die Sendung künde von einer regrediert-infantilen Verfassung. Das Sadistische werde längst nicht mehr sozial geächtet: Die Zuschauer wollten bei der Geburt und der Hinrichtung von Helden dabei sein. Wer aber für ein Honorar von 50.000 Euro Maden und Mäuse verzehrt – was wird der wohl für die doppelte oder die zehnfache Summe tun?

Auf anderen Frequenzen zelebriert man die Einladung zu einem vorgeblich privaten Dinner, dessen Tischgenossen unter dem Vorwand vermeintlicher Bekanntheit vor die Kamera gezerrt werden (Zur Erläuterung: Die Teilnehmer eines so genannten Promi-Dinners sind Prominente, weil sie am Promi-Dinner teilnehmen – Tautologie, die uns sagen will: Eigentlich sind wir alle Promis). In langen Sequenzen wird der Zuschauer Zeuge eines häuslichen Ablaufs vom Erwerb der Zutaten bis zur Zubereitung der Speisenfolge, vom Tafeldecken und Kredenzen des Menus über ein animiertes Tischgespräch (Thema ist das Dinner selbst) bis zur abschließenden Bewertung der gastronomischen Leistung durch die illustren Teilnehmer eines Gastmahls, die ihrerseits demnächst ihre lukullischen Qualitäten offenbaren sollen; womit die nächste Folge einer nicht enden wollenden Gastgeberstory bereits programmiert ist (Das perfekte Dinner seit 2006 auf VOX).

Aber nicht allein Alltagsrituale des Lifestyles unter besser Verdienenden sind den Sendern lieb und teuer, auch die gegenteilige soziale Dimension verdient großformatige Beachtung. Ein wachsender Kreis von Deutschen kehrt seiner gewohnten Umgebung den Rücken auf der Suche nach wirtschaftlich lukrativeren Horizonten. Folglich finden sich abendfüllende Fernsehformate, die hoffnungsvolle deutsche Emigranten auf dem Weg in die neue Heimat (SAT1 ab 2007) begleiten und deren ungewohnte Alltagserfahrung detailverliebt per Kamera dokumentieren. Situationen mithin, die man von zu Hause bestens kennt, die allerdings jetzt unter veränderten Bedingungen einer fremden Auslandsumgebung neu inszeniert werden: Von der Jobfindung oder der Eröffnung des eigenen Restaurants über die Einschulung des Nachwuchses bis hin zur Suche nach einer neuen Bleibe, entsprechender Papier- und Behördenkrieg inbegriffen.

Wer hätte gedacht, dass man es ohne entsprechende Sprachkenntnis in Kanada oder Südspanien anfänglich und womöglich auf Dauer schwerer hat als zuvor in Wanne-Eickel? Mit der Generalbotschaft Alles nicht so einfach! binden entsprechende Serien in der Endlosschleife das Publikum ganzer Fernsehabende. Falls man nicht zum konkurrierenden Nachbarsender umschaltet, der mit dem neu erfundenen Berufsbild eines Finanzcoachs (WDR ab 2007) näher bleibt an der neuen deutschen Realität.

Die finanziell prekäre Situation wachsender Bevölkerungsgruppen, die sich durch Arbeitslosigkeit, Schicksalsschläge oder eigene Unfähigkeit in der Überschuldung finden und ein Leben auf Hartz-IV-Niveau gewärtigen, wird hier zum Anlass einer voyeuristischen Inszenierung. Gezeigt werden kleinere und größere Probleme von Zeitgenossen, deren Haushaltsbudget nicht bis zum Monatsende reicht. Dabei spekulieren die Macher derartiger Pseudo-Dokumentationen und Unterhaltungsshows (Raus aus den Schulden seit 2007 bei RTL) weniger auf die Solidarität einer Zuschauergemeinde, der es durchweg besser geht als den porträtierten Opfern der Wohlstandsgesellschaft. Man baut eher auf den sogenannten Underdog-Effekt: Angesichts brüchiger sozialer Realitäten scheint es zumindest tröstlich, wenn anderen widerfährt, was man für sich selbst nicht als wahrscheinlich erachtet, aber insgeheim doch befürchtet.

Gott sei Dank braucht man ja nicht selber einen Trödel-King, wie er auf dem benachbarten Kanal (WDR ab 2007) ins heimische Wohnzimmer dringt. Wenn man ihn ruft, durchforstet dieser robust tätowierte Herr mit Lederweste in Begleitung eines Sendeteams die Keller und Garagen seiner Mitmenschen auf der Suche nach vermeintlichem Sperrmüll, den man bei souveräner Kenntnis entsprechender Absatzmärkte im Trödlerumfeld noch zu Geld machen kann. Anlass genug zu wöchentlichen und gleich mehrstündigen Expeditionen durch die Rumpelkammern der Nation, die bei aller Banalität reichlich Gelegenheit bieten zu persönlicher Ansprache des Zuschauers: Hand aufs Herz, horten wir nicht alle irgendwo auf dem Dachboden neben Omas Truhe auch des verstorbenen Onkels Briefmarkensammlung, die womöglich ungeahnte Werte birgt – wer weiß das schon so genau wie unser medialer Trödelberater?

Reality oder Illusion?

Unser kleiner Streifzug durch einschlägig bekannte Sendeformate eines Reality-Programms, wie es etwa seit dem Jahre 2005 in zahlreichen Varianten flächendeckend verbreitet ist, er ließe sich beliebig fortsetzen. Wir wollen uns freilich nicht länger langweilen, begegnen wir doch dabei wenig Neuem, sehen uns vielmehr zurückgeworfen auf den Umkreis einer sattsam bekannten und täglich erlebten durchschnittlichen Erfahrung, die unseren Horizont nicht erweitern kann. Eher schon bestätigt die mediale Inszenierung das täglich Gewohnte in seiner Durchschnittlichkeit. Weil es aber im Fernsehen kommt und ein Millionenpublikum erreicht, kann es ganz banal nicht sein: Abend für Abend wird der gewöhnliche Alltag auf dem Bildschirm zum Event.

Freilich, ein elektronisches Medium, das einerseits unterhalten will, seinen ebenfalls erhobenen Informationsanspruch aber fortwährend disqualifiziert, indem es längst Bekanntes zelebriert, macht sich damit seine Existenzberechtigung als Informationsquelle selbst streitig. Doch liegt hier ein entscheidender Vorteil: Eine verdoppelte Realität, die sich sozusagen gleichzeitig auf dem Bildschirm und vor dem Bildschirm abspielt, bestätigt uns in unserer Durchschnittlichkeit, die jetzt paradigmatisch wird.

Früher oder später werden sich alle Zuschauer in gleich welcher privaten Pose symbolisch auf der Mattscheibe abgebildet sehen: Beim Versuch, ein gebrauchtes Auto zu erwerben oder zu verkaufen, bei der Wohnungsanmietung, bei einer Kleiderprobe in der Boutique, in der Tiefkühlabteilung des Lebensmittel-Discounters etc. Wer da noch an sich und seiner Lebenssituation zweifeln mag, dem ist nicht zu helfen.

In den Erfolgsserien zurückliegender Jahrzehnte konnten die Zuschauer, ähnlich dem Genre Ärzteroman, ihr eigenes Leben in einem veredelten Ambiente wiederfinden und ihre Träume medial verwirklicht sehen. Wenn Professor Brinkmann seinerzeit in einem luxuriös umgebauten Schwarzwälder Bauernhaus vor der idyllischen Kulisse des Glottertals vom Herzinfarkt bedroht ist, während sein ebenfalls als Erfolgsmediziner eingeführter Sohn nicht helfen kann, weil er soeben nach einem dämlichen Streit mit dem Vater heimlich in Begleitung einer attraktiven Blondine mit einem Porsche voller Golfschläger nach Freiburg aufgebrochen ist (Mobiltelefone gibt es noch nicht), so konnten wir hier unseren emotionalen Schaltkreis direkt aktivieren.

Zwar sind wir im Regelfall nicht Professor der Schwarzwaldklinik (ZDF ab 1985), nennen kein entsprechendes Landhaus unser eigen und der betreffenden Blondine wären wir vermutlich zu alt oder zu jung, aber die Dramatik einer familiären Notlage, die das Vater-Sohn-Verhältnis betrifft, lässt uns nicht kalt. In einer traumhaften landschaftlichen Kulisse und erträumten sozialen Umgebung können wir unseren Gefühlen Raum geben, indem wir uns mit den dargestellten Figuren identifizieren und nebenbei symbolisch einen höheren sozialen Status erlangen: Chefarztgefühle sind attraktiver als jene eines Pförtners oder Sachbearbeiters, weil sie in der Regel von einer Chefarztvergütung alimentiert werden.

Ähnlich steht es, wenn man seine immer schon ersehnte Traumfrau nicht zufällig an einer Trambahnhaltestelle in Ostwestfalen kennenlernt, sondern auf einem Boot nach Capri, das soeben vom Traumschiff (ZDF ab 1981) abgelegt hat. Zwar ist der erste Fall nicht minder unwahrscheinlich als der zweite, aber wenn schon geträumt wird, können wir der attraktivsten Variante den Vorzug geben und uns mit strahlendem Sonnenschein, schicken Uniformen und luxuriösen Buffets einer Kreuzfahrt identifizieren. Warum eigentlich nicht – zumal bekannte Reedereien an der Ausstrahlung solcher Serien höchstes Interesse zeigen?

Im Gegensatz zu traditionellen Fernsehprojekten, die Traumwelten vor aufwendig konstruierter Kulisse präsentieren – sich damit dem Zuschauer als Projektionsfläche seiner Wünsche anbieten, aber klugerweise Bezüge zu dessen Realität offen lassen – dokumentiert das Reality-TV allerdings mit einfachsten Mitteln einen Alltagsvollzug, der sich selbst genügt. Mit seinem schmalen Ausstattungsbudget und seinen durchschnittlichen Protagonisten, die man an jeder Straßenecke sucht und findet, nimmt es uns jede Möglichkeit zum Träumen und wirft uns zurück auf die eigene Realität.

Bleibt die Glotterklinik auch für immer außer Reichweite und kann man sich nach Capri jedenfalls heute Abend nicht mehr einschiffen, so bleiben uns immer noch reichliche Fantasien, die über unsere eigene kleine Existenz hinausweisen. Die mittlerweile flächendeckend verbreitete Doku-Soap jedoch will uns weismachen, dass jenseits des medial symbolisierten eigenen Bauchnabels nichts mehr vorhanden sei: Darin liegt ihr narzisstischer Beitrag.

Wie kommt man aber von der täglich selbst erlebten Banalität zu einer erträumten Prominenz, die zur Steigerung des Selbstwertes beitragen kann? Den traditionellen Umweg über eine Identifikation mit exotischen Kulissen und teuren Accessoires kann man sich schenken, präsentiert man sich nur in richtiger Begleitung und im angesagten Medium.

Deutschland sucht den Superstar

Die nach einem patentierten britischen Vorbild erstmals 2002 von RTL ausgestrahlte Castingshow Deutschland sucht den Superstar (bekannt unter dem Kürzel DSDS) verbucht die bislang größte Zuschauerreichweite dieses Formates und zeitweise ein lebhaftes Publikumsecho. DSDS kombiniert das Konzept herkömmlicher Talentwettbewerbe mit interaktiven Elementen; so wird beispielsweise das Fernsehpublikum nach Qualifikationsrunden in die Abstimmung miteinbezogen. Neben dem Gesang jugendlicher Star-Aspiranten, die sich von ihrer Teilnahme den Aufstieg ins Show-Geschäft versprechen, sind auch Kategorien wie Outfit, Auftreten und andere Präferenzen für die Bewertung ausschlaggebend. Die Finalshow der ersten deutschen Staffel am 8. März 2003 erreichte eine durchschnittliche Einschaltquote von 12,8 Millionen Zuschauern (bei Spitzenwerten von bis zu 15 Millionen), 2012 ging die Show bereits in ihre 9. Staffel.

Besonderen Zuspruch und auch Widerspruch erfahren die jeder Staffel vorgeschalteten Casting-Termine, in deren Verlauf sich der Chef-Juror Dieter Bohlen derart abfällig über die künstlerische Leistung einzelner Kandidaten ereifert, dass einige der jungen Leute nervliche Zusammenbrüche erleiden. Ein kontroverses Medienecho im deutschen Blätterwald lässt nicht auf sich warten. Norbert Schneider, Direktor der NRW-Landesanstalt für Medien, übt im Februar 2007 harsche Kritik an einem demütigenden Umgangston, der sich einer Gossensprache bediene: Die Casting-Show rücke damit in die Nähe einer Verletzung der Menschenwürde. Demgegenüber lässt der Sender RTL verlauten, die jugendlichen Teilnehmer seien allenfalls Opfer ihres eigenen Ehrgeizes.

Dass hier ausgerechnet Dieter Bohlen in die Schusslinie gerät, gemeinsam mit seiner ehemaligen Lebensgefährtin Verona Pooth Spezialist in Sachen einer lediglich für ihre Berühmtheit bekannten Prominenz, ist kein Zufall. Seine verbalen Entgleisungen im Rahmen von DSDS lassen ahnen, was junge Menschen in der vagen Hoffnung auf eine künftige Starkarriere zu investieren bereit sind, um aus der Anonymität ihrer Existenz auszubrechen. Beobachter der Medienszene sprechen vom sogenannten Aschenputtelprinzip. Neben dem Bedürfnis nach Anerkennung, Ruhm und Geld sind die Teilnehmer nicht zuletzt auf der Suche nach einer sozial akkreditierten Identität, die sich am erfolgreichsten durch mediale Beachtung und Bestätigung erreichen lässt.

Angesichts einer komplizierten gesellschaftlichen Realität, die mangelnde Ausbildungsplätze mit hohen Kosten, langen Laufzeiten und der Perspektive auf eine ungewisse berufliche Zukunft offeriert, spekuliert man gerne darauf, durch die Entdeckung eines vermeintlichen künstlerischen Potenzials über Nacht berühmt zu werden. Schließlich gibt es Vorbilder in Gestalt vereinzelter Erfolgsstorys, die diesen Weg symbolisieren können: neben Dieter Bohlen selbst etwa der junge Mark Medlock, der über DSDS vom verschuldeten Jungarbeitslosen zum singenden Medienstar wurde, sie schüren unrealistische Hoffnungen, die mit aller Energie verfolgt werden.

Der Ich-Bezug von Adoleszenten und ihre irrtümliche Selbsteinschätzung, sich als unentdeckten Star zu wähnen, werden von der medialen Inszenierung zementiert. Im programmierten Fall einer Ablehnung bereits im Vorcasting, das in öffentliche Demütigung ausufern kann, bricht das Kartenhaus einer auf jugendlichen Narzissmus gebauten Staridentität abrupt zusammen.

Umfragen zufolge sieht jedoch ein nicht geringer Teil des adoleszenten Publikums in Dieter Bohlen, ungeachtet der Fragwürdigkeit seiner Rolle, eine ideale Vaterfigur, wie man sie für das eigene Leben wünscht. Die in seiner Person auftretende widersprüchliche Mischung aus kumpelhafter Distanzlosigkeit und harter Ablehnung wird offenbar von Jugendlichen auf ihrer nicht selten vergeblichen Suche nach herausfordernden Vorbildern als attraktiv empfunden.

Dennoch: Ein alter Herr steht auf der Bühne und regt sich auf über das Fernsehen. Mit dieser Art von Programm will er nichts gemein haben! Als Marcel Reich-Ranicki die Annahme des Deutschen Fernsehpreises 2008 verweigert und es weit von sich weist, in einer Reihe mit Sendungen wie dem bei dieser Gelegenheit ebenfalls ausgezeichneten DSDS zu firmieren, entfacht er einen Sturm im Wasserglas.

Weithin wohlwollend beachtet ist bei dieser Gelegenheit die selbstdarstellerisch glänzende Medienschelte des Literaturpapstes, aber ebenso ergebnislos sein als Sondersendung platzierter Schlagabtausch mit dem Entertainer Thomas Gottschalk. Mit ihrer erstaunlich naiven Argumentation über Niveau und Geschmack der Zuschauer beweisen beide Fernsehstars lediglich, dass sie in ein und demselben Boot des Massenevents ihren Platz längst gefunden haben und zu verteidigen wissen. Kollektive Hintergründe einer programmierten Langeweile kommen in ihrem Show-Dialog über die Qualität des deutschen Fernsehens nicht zur Sprache.

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
171 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783897975583
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip