Kitabı oku: «Auf der anderen Seite der Schwelle», sayfa 3
„Hat jemand Berufung eingelegt“, ließ der Wachtmeister sich hören.
Nach einem Moment erneuter Verblüffung meldete Sebastian sich: „ Ja, ich“, sagte er und hob dazu die Hand, also ich meine wir“, fügte er berichtigend hinzu und deutete auf Totila. Unser Rechtsanwalt hat Revision beantragt.“
Der Wachtmeister nickte und notierte die Namen der beiden in einem Block den er bei sich trug. „Na machen Sie schon „, ließ er sich vernehmen, „packen Sie ihre Sachen!“
„Hätten wir uns gar nicht erst einrichten müssen“, brummte Sebastian, indem er wie alle anderen seine eben noch zusammengelegte Decke wieder auseinander breitete, um dort seine Utensilien aus dem Regal hinein zu werfen.
„Kommen Sie schon“, sagte der Wachtmeister ungeduldig und warf, als alle mit ihren Bündeln auf dem Gang standen, die Türe zu. „Gehen Sie!“ Die Vier setzten sich hintereinander in Bewegung, vorneweg der Stationskalfaktor und zum Schluss der Wachtmeister. Schließlich hielt der Kalfaktor vor einer Zellentür.
Der Wachtmeister trat vor und schloss auf. Die Zelle war, wie Sebastian mit vorgestrecktem Hals erkennen konnte, noch unbelegt. Als dann Totila und er hinter den beiden anderen mit hinein gehen wollten, hielt der Wachtmeister sie zurück. „Sie nicht“, sagte er, schloss die Türe und blätterte kurz in seinem Block.
„Gehen Sie!“, und weiter ging’s an noch ein paar Türen vorbei, alle mit runden grünen Scheiben beklebt, bis fast ans Ende des Gangs. „Halt!“, vernahmen sie wieder die Stimme des Wachtmeisters hinter ihrem Rücken. Die Tür vor der sie standen, wies auch eine dieser runden grünen Scheiben auf, aber mit einem großen schwarzen R darin. Den beiden war klar, dass es sich dabei um eine Revisionszelle handelte, deren Insassen noch keine Glatzen geschoren bekommen hatten.
„Hab ich doch gut gemacht“, brummte Sebastian in Totilas Ohr.
Der nickte nur unauffällig.
Der Wachtmeister öffnete wie immer laut krachend Schloss und Riegel, stieß die Tür auf und wies mit dem Schlüssel in die Zelle. „Alle beide“, sagte er dazu ohne die Meldung der Zellenbelegung abzuwarten, und schon krachte auch hinter ihnen die schwere Türe wieder ins Schloss.
Beide standen dann mit ihren Bündeln in den Armen zwei älteren Schicksalsgenossen gegenüber und alle vier beäugten sich gegenseitig. Es stimmt also, die haben noch Haare auf dem Kopf, stellte Sebastian erleichtert fest. Und Totila fielen die Worte ihres Anwalts ein: Bloß keine Revision! Das kann nur schlimmer werden …` Jetzt sind wir Scheinrevisioner, sagte er sich. Und laut erklärte er: „Zum Glück diesmal keine Zelle für Lebenslängliche. Da waren wir nämlich auch schon.“ Und beide legten ihre Bündel erst mal auf dem Fußboden ab „Na, nun sind wir ja wieder komplett“, begrüßte sie der, der die Meldung versucht hatte.
„Lebenslängliche sind wir hier nicht, aber was habt ihr Kinder denn mitgebracht?“
Sebastian überhörte die leichte Herablassung. „Zehn Jahre“, antwortete er, überzeugt nicht eben von einem Pappenstiel zu reden.“
„Das geht ja schon“, sagte der Ältere mit den kurzen graumelierten Haaren, dem schmalem straffen Gesicht und einer leichten Hakennase.
Sebastian ahnte sogleich, dass hier der Höhe einer Strafe eine ganz eigene Bedeutung beigemessen wurde und dass es sich bei den beiden auch um Politische handeln musste.
„Du meine Güte“, reagierte der andere der beiden, „zehn Jahre“, sagte er, „da ist eure Jugend ja so ziemlich futsch.“ Er erschien äußerlich und in der ganzen Erscheinung als das genaue Gegenstück des großen Hageren mit dem schmalen Gesicht. Ihn zeichnete eine fortgeschrittene Stirnglatze aus, ein rundliches Gesicht und eine mehr füllige Gestalt.
„Was heißt denn: Ist die Jugend dahin …“, fragte Sebastian. „Es gibt Verhältnisse und Umstände, ihr kennt die ja auch“, wandte er sich an die beiden Älteren, „die hauptsächlich in der Abwehr von Zumutungen und in Anfällen von Verzweiflung bestehen. Das gibt es“, sagte er und fügte hinzu: „ So was endet dann eben manchmal auch in solchen Verliesen hier“, dabei wies er mit der offenen Hand in den Raum.
„Es scheint wenigstens so, als ob hier jemand erwachsen werden will“, sagte der mit dem schmalen Gesicht, als er sich Sebastians Auslassungen lächelnd angehört hatte.
Der fragte nun dagegen: „Was habt ihr denn mitgebracht?“
„Zwölf und Fünfzehn Jahre“, bekam er zur Antwort.
„Da habt ihr aber auch ganz schön was zu buckeln.“
„Wie’s kommt so kommt’s eben“, antwortete der mit dem schmalen Gesicht.
„Aber nun schnappt euch mal die Bündel da und räumt euren Krempel ein. Die beiden unteren Betten sind vergeben. Ihr müsst dann mit oben vorlieb nehmen.“
Eine dieser Zellen ähnelte der anderen und so wussten die beiden mit dem Einräumen ihrer Sachen inzwischen Bescheid.
„Seid ihr schon länger hier?“, fragte Totila.
„Wie sollten wir denn?“, antwortete der Schmalgesichtige, „wenn wir noch in einer Revisionszelle sitzen.“
„Na, Revision“, warf Totila ein, „, die könnt ihr ja auch nach zwei oder drei Jahren eingelegt haben.“
„Seht an was für’n cleveres Kerlchen!“ Der mit den graumelierten Haaren lachte.
„Hat sich vergaloppiert und sofort einen Ausweg gefunden. Was ist lange?“, sagte er dann. Wir sind rund drei Monate hier. Ist das viel oder wenig …? Aber was ist das schon gegen fünfzehn oder auch zehn Jahre? Sagt mal, wie alt seid ihr eigentlich?“
„Achtzehn“, sagte Sebastian, „und Totila hier“, dabei wandte er sich kurz dem Freund zu, „ist neunzehn und hat sieben Jahre. Wir beide sind ein Fall und von einem Freund verraten worden.“
„Wie, was für ein Freund?“
„Also genauer, ein alter Freund von mir, leider …“, sagte Sebastian und zuckte dazu mit den Schultern.
„Ja, ja, alte Freunde. Das ist so eine Sache, kommt aber öfter vor“, erklärte der mit der Stirnglatze. „Was hat der denn verraten?“
„Wir haben für Gehlen gearbeitet.“
„Und der Verräter auch?“
„Ja klar, der auch.“
„Also ich muss schon sagen“, mischte der Graumelierte sich ein, „Gehlen …das hätte ich euch gar nicht zugetraut.“
„Andere auch nicht“, sagte Sebastian.
„Na schön, und jetzt hockt ihr hier oben auf Station vier. Und du“, wandte er sich an Sebastian, „bist höchstwahrscheinlich der jüngste Gefangene im ganzen Bau.“
„Mag sein“, sagte der, „aber das ist nur vorübergehend so. Und Station vier hier oben ist doch besser als weiter unten. Dort kann man nicht aus dem Fenster sehen.“
„Na ja wie man’s nimmt“, sagte der Graumelierte. „Doch nun wollen wir uns erst mal bekannt machen. Also ich bin Klaus uud der Kollege hier oder besser Schicksalsgenosse“, und er klappste dem mit der Halbglatze, der dort gegen einen Bettpfosten lehnte, auf die Schulter: „ Das ist Günter. Tja“, fuhr er fort, „der vierte Stock hier? Keiner unter fünf Jahren …“
„Haben wir schon gehört“, warf Totila ein, „und deswegen auch die Lebenslänglichen hier oben?“
„Richtig. Und bis auf drei Mörder, einen Totschläger und zwei die wegen eines Raubüberfalls sitzen, gibts hier oben nur Politische. Und unter den Lebenslänglichen, soweit ich gehört habe, kein einziger Mörder.“
„Alles Politische?“, fragte Totila verwundert.
Klaus, der mit den graumelierten Haaren, fuhr mit der Hand durch die Luft: „Alles!“, bekräftigte er, „ich hab’s vom Kalfaktor, außer zwei oder drei Buntspechten, aber die zählen meiner Meinung nach mindestens zu den Halbpolitischen, schon wegen der sehr hohen Strafen für’n paar Kilo Blei oder Kupfer.“
Totila lachte und schüttelte den Kopf. „Buntspechte?“, sagte er. „Eine kuriose Bezeichnung.“
„Kurios?“, fragte Klaus, „kurios sind erst die Strafen! So zwischen zehn und fünfzehn Jahren.“
Sebastian pfiff kurz durch die Zähne. „„Donnerwetter! Warum denn das?“
„Buntmetalldiebe schaden dem sozialistischen Wirtschaftsaufbau der DDR und nutzen damit dem kapitalistischen Klassenfeind im Westen, an den das Buntmetall verkauft wurde.“
„Aha. Natürlich. Aber wo haben die das Buntmetall her?“
„Bleirohre, Kupferkabel, Messinggeräte … aus den Ostberliner Ruinen“, zählte Günter, der mit der Halbglatze, auf. „Das liegt dort noch tonnenweise unter Trümmern. Das wissen die Parteibonzen auch, nur kommt man da nicht so ohne weiteres ran.“
Sebastian, der sich inzwischen auf einem Hocker niedergelassen hatte, nickte dazu. „Klar“, sagte er, „das mit den Trümmern in Berlin und den darunter verschütteten Bleirohren und so … das kann man sich vorstellen, doch darauf gekommen wäre ich nie. Woher wisst ihr das alles?“
„Zum einen bin ich Ostberliner und zum anderen hat mir das einer erzählt.
Buntspechte sind ja in aller Regel von der Stasi in die Mangel genommen worden.“
„Das nur zu den Buntspechten“, mischte Klaus sich wieder ein. „Hier spielt sich zur Zeit eine noch viel schlimmere Geschichte ab …“ „Ich möchte gar nicht immer daran denken“, winkte Günter mit verzogenem Gesicht kopfschüttelnd ab.
„Möchte nicht immer daran denken“, äffte Klaus den Zellengenossen nach.
„Was meinst du denn woran der denken muss!“
„Hör auf damit“, und Günter hob abwehrend die Hand.
Sebastian und Totila hörten sich etwas unschlüssig dieses kurze Geplänkel an.
„Es geht um den Todeskandidaten hier auf Station“, wandte Klaus sich schließlich an die beiden Neuen. „Der Dicke da“, sagte er, stand dabei im Raum und wies mit einer Kopfbewegung auf Günter, der inzwischen auf einem Hocker saß, „der wird immer weinerlich, wenn mal die Rede darauf kommt und möchte am liebsten in seinen Strohsack kriechen. Es handelt sich hier um einen Fluglehrer, der schon im Krieg die Me109 geflogen hatte und dann hier bei Cottbus als Fluglehrer Volksarmeepiloten auf der sowjetischen Mik15 schulte und dabei mit einem westlichen Nachrichtendienst in Verbindung stand, soviel wir vom Kalfaktor wissen, der den täglich zur Rauchpause in die Spülzelle begleitet. Bekannt ist daher auch, dass er verheiratet ist und zwei Kinder hat. Wie er aufgeflogen ist, weiß allerdings keiner.“
Wahrscheinlich redet der nicht darüber“, fügte Klaus hinzu und hob leicht die Schultern. „Es heißt jedenfalls er hat Pläne dieser Mik15 dem Westen zukommen lassen.“
„Ein Todeskandidat …? Menschenskinder, damit hab’ ich hier nicht gerechnet.
Das ist ja ’n verdammter Mist!“, schimpfte Sebastian merklich geschockt.
Auch Totila blieb vom Schock nicht verschont. „Es gibt also wirklich Todesurteile?“, fragte er.
„Wieso wundert dich das?“, fragte Sebastian etwas erstaunt den Freund. „Ich hab’s nur hier nicht erwartet“, fügte er hinzu.
„Na ja, draußen hört man so was unter der Hand, aber nie offiziell im Radio oder liest davon in Zeitungen.“
„Ich weiß nicht“, sagte Sebastian, „wir hatten zu Hause immer RIAS eingestellt.
Und wer liest schon DDR- Zeitungen? Todesstrafen in der DDR, das ist doch nichts Neues. Der Artikel 6 reicht ja schon von einem Jahr bis Todesstrafe.
Totila nickte dazu. „Wie lange ist denn der Fluglehrer schon hier“, fragte er dann
„Wissen wir nicht“, antwortete Klaus. „jedenfalls länger als wir“, dazu wies er mit der Hand auf Günter und sich. „Wir sind ja zusammen hergekommen.“
In eine längere Pause hinein, in der alle vor sich hin schwiegen, erklang die nachdenkliche Stimme des Schmalgesichtigen:“Hinrichtungen werden in Dresden vollzogen“, erklärte er. „ Eine Hitlerguillotine steht dort ja noch“, und er schüttelte sich. „Man kriegt richtig ’ne Gänsehaut …“ Niemand äußerte sich dazu. Jedem ging diese Situation durch den Kopf und alle starrten vor sich hin.
Der kann ja auch nur verraten worden sein, überlegte Sebastian.
Vielleicht war der leichtsinnig und hat sich so selbst verraten“, äußerte Totila sich, als hätte er Sebastians Überlegungen erraten.
Der ging wieder die wenigen Schritte von der Tür zum Fenster hin und zurück.
„Ist durchaus möglich“, bestätigte er seinem Freund. „Man muss ja auch davon ausgehen, dass in den westlichen Nachrichtendiensten überall ‚Kundschafter des Friedens‘ sitzen.“
„Nur mit dem Unterschied, dass diese Kundschafter keine Todesstrafe zu erwarten haben“, wandte Günter ein, „ganz gleich wo sie sitzen.“
„Das ist der gravierende Unterschied“, bestätigte Klaus.
„Aber dafür haben wir doch den humanen Strafvollzug“, hielt Sebastian grinsend dagegen. „Den haben die beim Klassenfeind nicht!“
Schließlich drang vom Eingangsbereich unten das hohle Scheppern von Kesseln herauf, die über einen Steinboden gezogen wurden. In kurzen Abständen erklang dann auch bald das Krachen von Schlössern.
„Mittagessen!“, rief Günter, sprang vom Hocker hoch und hielt das Ohr an den Türspalt.
„Das wäre das erstemal, dass wir überhaupt was zu essen kriegen“, ließ Totila sich vernehmen und musterte dazu seinen Blechnapf im Regal.
Auch Freund Sebastian tat automatisch ein Gleiches. „Menschenskinder“, wunderte er sich dann, „wir sind doch erst seit gestern hier und mir ist’s als wären’s mindestens acht Tage.“
„Na ganz so verschwenderisch verhält sich mein Zeitempfinden nicht“, erklärte Totila, „aber dass wir erst seit gestern hier sein sollen, kann auch ich nicht begreifen.“
„Wartet’s mal ab“, gab Klaus, der Graumelierte, zu bedenken, „das ändert sich bald. In spätestens vier Wochen hat sich das gegeben. Es sind halt die neuen Eindrücke, die durchaus nicht alltäglich und sehr nachhaltig sind.“
Günter, der sich weiterhin an der Türe aufhielt, steckte, als das Schlösserkrachen lauter wurde, die Nase in den Türspalt. „Wieder mal Weißkohlsuppe“, sagte er, „das riecht man schon durch den ganzen Bau.“
„Das gibt’s hier nur“, klärte Klaus die beiden Neuen auf. „ Entweder zerkochte Bruchnudeln mit brauner Mehlsoße oder Weißkohlsuppe: ein paar Weißkohlblätter in trübem Wasser mit einigen Mehlklümpchen, alles ohne Salz.“
Sebastian winkte nur müde ab. „Das kennt man doch schon aus der Spreestraße.“
Schließlich und endlich war auch Station vier mit der Essensausgabe dran. Das Krachen der Schlösser und Riegel kam näher und wurde lauter. Alle vier in der Zelle standen mit ihren Blechschüsseln bereit, als auch ihre Tür aufflog: Zwei Kalfaktoren schleppten einen zerschrammten Militärthermoskessel vor die Tür.
Ein dritter schöpfte daraus mit einer Kelle in die hingehaltenen Aluminiumschüsseln. Dann warf auch schon der Wachtmeister die Türe wieder ins Schloss.
„Der erste Schlangenfraß im Zuchthaus Cottbus“, sagte Totila, rührte in der Schüssel und begann dann zu essen.
Alle löffelten die Suppe bis auf den letzten Rest aus ihren Näpfen.
„Ich denke, so könnte Abwaschwasser schmecken“, erklärte Sebastian und legte den Löffel auf den Tisch neben seinen leeren Napf.
„Meckert nicht“, mahnte Klaus als der Ältere, „das bringt gar nichts. Ihr werdet so was noch jahrelang essen müssen.“
„Das ist schon richtig“, stimmte Sebastian zu. „Bei der Stasi hatte ich mir schon am ersten Tag vorgenommen alles bis auf das letzte Krümel zu essen, ganz gleich was die mir vorsetzen würden. Das ist ja jetzt nicht anders. Wer will hier schon krank werden?“, fragte er und sah sich in der Zelle um.
Nachdem schließlich alle ihre Näpfe mit Wasser aus der Kanne gereinigt und dieses dann in den Eimer geschüttet hatten, saßen sie entweder auf ihren Hockern, starrten vor sich hin oder liefen in Gedanken versunken die wenigen Schritte zwischen den Betten von der Tür zum Fenster und wieder zurück, hielten manchmal am Fenster an, blickten durch die Gitter hinaus und nahmen dann die Wanderung wieder auf. Jeder der vier langjährig Verurteilten hatte ja die Vielschichtigkeit seiner ganz eigenen Welt draußen lassen müssen. Dort in den vollgestellten Zellenschächten schrumpfte dann in der Regel die Persönlichkeit jedes einzelnen auf das Minimum ihres Selbsterhalts. Aber davon wussten die beiden Freunde, trotz ihrer Feuertaufe in den Stasi- Katakomben, noch nichts. Sie waren über diese Schwelle in eine Welt getreten, über die sie nur vom Hörensagen gewusst hatten und über die in der Welt, aus der sie kamen, ängstlich geschwiegen wurde: Hinter ihnen geht einer, hinter ihnen steht einer, dreh’n Sie sich nicht um …! Und die verängstigten Schweiger gehorchten und sahen sich nicht um …
Der Tag war zu Ende gegangen. Sebastian blickte wieder wie so oft durch die Gitter nach draußen. Ganz unten vom Hof stieg allmählich Dunkelheit wie grauer Dunst auf, der vom Scheinwerferlicht aus dem Wachturm zerschnitten wurde. Licht, das die weißen Zuchthausmauern bis an die Zellendecke zurückwarfen, um dort als Schattenriss die Gitterstäbe abzubilden. Gitter wohin man auch sieht, sagte Sebastian sich, selbst noch als Schatten an der Wand.
Die anderen in der Zelle schliefen bereits tief atmend auf ihren Strohsäcken, auch sein Freund Totila. Zählung und Einschluss fanden im Sommer um acht Uhr statt. An klaren Tagen schien um diese Zeit noch die Sonne und Amseln sangen. Doch tief hängende graue Wolken, aus denen seit Wochen fast ohne Unterbrechung Regen fiel, bedrückten das Land, verwandelten Felder in Morast und ließen sonst harmlose Bäche ganze Weideflächen überfluten. Grünfutter konnte nicht eingebracht werden, das Vieh musste vielfach in den Ställen bleiben und Heu wurde knapp. So entnahmen sie’s den klein geschnittenen Zeitungspapierqadraten, die den Gefangenen als Toilettenpapier zugeteilt wurden.
Sebastian lag schließlich auch auf seinem Strohsack. Draußen stieg feucht nächtlicher Dunst auf. Er rollte sich zusammen und versuchte einzuschlafen.
Das schrille Geräusch von Eisen auf Eisen riss bereits um sechs Uhr die Gefangenen wieder aus dem Schlaf. Am Tage auf dem Bett zu sitzen, geschweige denn zu liegen, war laut Zuchthausordnung streng verboten.
Kapitel 3
Als am nächsten Morgen Sebastian als Neuer dran war nach der Zählung und vor der Frühstücksausgabe den randvollen Kübel vor die Tür auf den Gang zu stellen, stand er daher plötzlich dem Wilhelm Hankel aus Hohenleipisch gegenüber, mit dem er sich in der Spreestraße für einige Tage eine Zelle hatte teilen müssen. Beide sahen sich verblüfft an.
Hankel, ein kleiner Fuhrunternehmer Mitte vierzig, mit Frau und fünfzehnjähriger Tochter, der im wesentlichen Stückgut im Auftrag einiger weniger Kleinunternehmer mit Pferd und Wagen zum Bahnhof und zurück transportierte, sowie nebenbei Umzüge abwickelte oder sein geschmücktes Gespann für Vatertagsausflüge, aber auch zum 1.Mai-Umzug, vermietete.
„Was machst du denn hier?“, fragte Sebastian immer noch erstaunt. „Ich hätte gewettet du bist längst zu Hause.“
Hankel grinste nur. „Zwölf Jahre“, sagte er, „enteignet, alles weg und die Familie aus dem Haus gejagt. Bin jetzt ’n armer Mann …“ Dann kam aber auch schon der Wachtmeister und reden auf dem Gang war strengstens untersagt. „Bis nachher“, sagte Hankel noch, ehe er sich in seine Zelle verzog.
Auch Sebastian trat eilig in die seine zurück.
„Nee“, sagte er dann kopfschüttelnd, „unglaublich! Das ist ja ’n Ding. Ich dachte zuerst wirklich ich seh’ nicht richtig.“ Und wieder sah er zu Boden und schüttelte den Kopf. „Der Hankel, Wilhelm Hankel hier neben uns“, und er wies rechter Hand auf die Zellenwand. „Ein kleiner Fuhrunternehmer aus Hohenleipisch mit einem Pferd. Das ist einer, den ich aus der Spreestraße kenne.
Zwölf Jahre! Und ich glaubte den längst zu Hause.“ Dann lief Sebastian ein paar Mal die wenigen Schritte zwischen den Betten auf und ab und ließ sich schließlich auf einen Hocker am Tisch fallen. „Also ich weiß“, sagte er dann, „ich weiß, wir sind ganz bewusst gegen diesen Staat hier vorgegangen … dass wir verraten wurden ist wieder eine andere Sache. Aber dieser Wilhelm Hankel, der hat ja nie auch nur daran gedacht sich in irgendeiner Form aufzulehnen.
Und jetzt zwölf Jahre und die Familie aus dem Haus gejagt. Das verstehe wer will …“
Klaus, der Graumelierte, lachte kurz. „Du sagst von dir, du hättest bewusst gehandelt, dann müsstest du aber deinen Gegner auch kennen. Die Verblüffung über das Geschehen hinsichtlich dieses Hankel sagt jedoch, dass du das nicht verstehst. Ich meine dieses sozialistisch-kommunistische System. Dein Zellengenosse aus der Spreestraße, der kleine selbständige Fuhrunternehmer, war in der angestrebten Gesellschaftsordnung ein gerade noch geduldetes Ungeziefer, um hier mal deren eigenen Wortschatz zu verwenden, also ein in der Wolle gefärbter Kleinbürger. Wenn man die los werden kann, dann nimmt man halt jede sich bietende Gelegenheit wahr.“
„Du hast sicherlich Recht“, sagte Sebastian, „Nicht die angebliche Straftat bestimmt dieses verrückte Urteil, sondern Wilhelm Hankel selbst ist es, eine bürgerliche Existenz, ein Kleinunternehmer, ein Klassenfeind.“
„Ja, ganz richtig.“ Der Graumelierte nickte zustimmend. „Das ist aber nicht immer leicht zu erkennen“, fügte er hinzu, „eine Menge Ausnahmen verwirren das Bild, denn man braucht vielerorts diese selbständigen Existenzen ja noch.“
„Aber zwölf Jahre für Wilhelm Hankel? Ich hätte jede Wette abgeschlossen“, erklärte Sebastian, „dass der sehr bald wieder draußen sein würde. Damit hatte ich ihn zu trösten versucht. Höchstens ein paar Monate, hatte ich ihm gesagt, damit die Untersuchungshaft gerechtfertigt wird.“
„Es ist schon erstaunlich“, reagierte Günter, der Rundgesichtige mit der Halbglatze, „dass man immer wieder sprachlos ist, über das, was die so anrichten.“
„Die schneiden sich doch dauernd ins eigene Fleisch“, warf Totila ein.
„Ich denke nicht“, erklärte Klaus, „, dass dein Hankel Fleisch von ihrem Fleische ist, indem der nämlich persönlich verantwortete Arbeit leistete, damit für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie selbst aufkam, also selbständig war. Dann passt so einer eben nicht ins kollektivistische Konzept und ist unerwünscht. Aber wie ich schon sagte“, wandte er sich an Sebastian, „man braucht solche Menschen eben noch, wenn auch nur für eine Übergangszeit wie es in der Partei unter der Hand heißt. Dein Hankel war offensichtlich bereits verzichtbar.“
„Ja schön und gut“, mischte wieder Günter sich ein, „aber inzwischen sind wir schon neugierig, wer denn nun dieser Wilhelm Hankel aus der Nebenzelle ist, den du hier dauernd erwähnst. Was war denn dem so Schlimmes geschehen, wenn er doch nichts getan hat …“
„Geschehen ist richtig“, sagte Sebastian. „Ihm war was geschehen und nicht nur ihm. Ich hatte nach seinen ersten Erzählungen damals, also weshalb er dort in der Spreestraße saß, auch nicht verstehen können, wieso ihn eine Kneipenzeckerei, von Keilerei konnte keine Rede sein, mit drei Rotarmisten, in die Cottbusser Stasizentrale bringen konnte. Ich begriff erst gar nicht was die von ihm gewollt hatten, was sie ihm vorwarfen.“
„Na dann erzähl’s doch mal, vielleicht begreifen wir’s“, forderte der Graumelierte.
Sebastian stand wieder am Fenster und blickte von dort in die Zelle zurück.
„Ich wollte doch nur klar machen“, sagte er, „dass das Ganze schwer zu verstehen ist.“
„Dann fang’ schon an“, sagte wieder Klaus, der auf einem Hocker saß und seinen Ellenbogen auf der Tischkante abstützte, „wir sind ja nicht dumm, vielleicht versteh’n wir’s sogar.“
„Von Dummheit hat niemand was gesagt“, konterte Sebastian grinsend. „Es geschah auch nicht in Berlin“, sagte er dann, „sondern in Hohenleipisch, einem Landstädtchen. Hier in der Gegend kennt das vielleicht noch mancher, aber sonst? Also ein Sonnabendabend im Spätherbst.Eine Kneipe in der Nähe einer sowjetischen Kaserne mit Munitionslager, das es auch bei Hitler schon gab.
Hankel und andere, vor allem jüngere Stammgäste, bevölkerten die Gaststube und einige wie eben auch Hankel, saßen beim Wochenendskat, als drei Rotarmisten, von der Bevölkerung Muschiks genannt, das Lokal betraten. Im Prinzip nichts besonderes, der Wirt und auch die Gäste kannten das. Die Russen waren von Kameraden aus der Kaserne geschickt worden, um heimlich Schnaps zu besorgen. Die Muschiks durften die Kaserne ja nie verlassen und schon gar nicht um Schnaps zu kaufen. Das wusste ja jeder, natürlich auch der Wirt. Der aber drückte stets ein Auge zu. Keiner hatte was dagegen. Aber diesmal hatten die Muschiks offensichtlich schon in der Kaserne einiges über den Durst getrunken. Und so bestellten sie auch gleich an der Theke „Schto Gramm“, die sie unverzüglich in sich hineinschütteten und das nicht nur einmal. Dem Wirt schwante wohl schon Ungemach. Doch normalerweise, hatte Hankel erzählt, spielte sich das nie so ab wie an diesem Abend. Und so weigerte der Wirt sich schließlich den Russen weiterhin Schnaps auszuschenken. Das ärgerte die wie zu erwarten und sie wurden aggressiv, beschimpften den Wirt.“
„Und wie das so ist“, sagte Sebastian, „jetzt fühlten die Deutschen sich beleidigt.
Ihr Wirt sollte ein Faschist sein? Das ginge denn wohl doch zu weit. Einer der deutschen Gäste“, erzählte Sebastian die Geschichte des Wilhelm Hankel weiter, „ein junger Bursche, sei vor zur Theke gegangen und habe auf die Russen eingeredet und begonnen sie langsam auf den Ausgang hin abzudrängen. Plötzlich habe einer der Iwans ein Messer gezogen und damit dem Jungen das Jackett über dem Rücken aufgeschlitzt. Gleich darauf habe der Wirt den augenblicklichen Feierabend verkündet. Die Gäste sollten das Lokal verlassen: Die Russen mit der von ihnen erstandenen Schnapsflasche vorne raus, durch die Tür des Lokals und die Deutschen nach hinten über den Hof auf die Straße.
Noch auf dem Hof hatten sie sich, in Erwartung der Russen auf der Straße, mit Zaunlatten ausgerüstet.
Die drei Iwans, inzwischen ebenso bewaffnet, hatten sich dort im Dunkeln tatsächlich auf die Lauer gelegt, dann nach kurzem Gefecht sich aber zur Flucht in verschiedene Richtungen entschlossen.
Der Schlachtenlärm mit Ruf und Zuruf hatte Dorfbewohner an die Fenster gelockt. Überall, hatte Hankel erzählt, überall sei dort Licht angegangen. Sehr bald habe sich dann aber auch alles in der Dunkelheit verlaufen. Als Hankel sich in Begleitung eines der jungen Burschen, wie er erzählt hatte, seinem Haus genähert habe und am Hoftor des Nachbarn einen der Russen wie einen nassen Sack habe hängen gesehen, der wohl nicht mehr die Kraft aufgebracht hatte sich über das Tor zu retten, konnte er sich’s, wie er reuig sagte, nicht verkneifen dem mit der Zaunlatte eins über den Hintern zu ziehen. Als ich damals einwarf, dass der das verdient habe, zuckte der Hankel regelrecht erschreckt zusammen.
Mehr habe er ja nicht getan, jammerte er. Überhaupt sei das auch alles gewesen … Davon waren an diesem Abend sowohl Hankel, als auch die anderen mehrheitlich jüngeren Gäste des Lokals, überzeugt.
Am nächsten Morgen schon wurden sie jedoch eines anderen belehrt, nämlich ganz früh aus den Betten geklingelt und aus dem Sonntagsschlaf getrommelt.
Wie Wilhelm Hankel erzählte, sei er noch halb schlafend im Bett hochgefahren wie auch seine Frau, verwundert darüber, was denn am Sonntag jemand so früh von ihnen wolle. Der Lärm, der entsteht, wenn Gewehrkolben gegen das Hoftor geschlagen werden, trieb Wilhelm Hankel dann doch aus dem Bett. Als er, wie er den Schrecken schilderte, nur eine Hose übers Nachthemd gezogen, das Tor zum Hof geöffnet hatte und dann davor Rotarmisten mit Karabinern und Maschinenpistolen habe stehen sehen, da sei ihm gleich ziemlich schlecht geworden. Auf die Frage eines Offiziers, ob er Wilchelm Chankel sei, habe er nur nicken können, um sich danach gleich an einem Torpfeiler zu übergeben.
„Du anziechen“, habe der Offizier gesagt, Hankel dabei von oben bis unten gemustert und mit der Hand über den Hof auf die Haustür gewiesen: „Nu dawai!“
Der Offizier und drei weitere Kameraden mit Kalaschnikows im Anschlag folgten Wilhelm Hankel ins Haus.
Dort hatte auch seine Frau sich einen Morgenmantel übergeworfen und dabei am ganzen Körper gezittert.
Er sei gleich ins Schlafzimmer gegangen und einer der Russen sei ihm gefolgt, Er wisse nicht was die von ihm wollten, habe er seiner Frau noch sagen können.
Ein Missverständnis! Er sei sicher bald wieder zurück.
Draußen habe ein Militärlaster geparkt.“Nu einsteigen“, hätten die Rotarmisten ihn aufgefordert und auf die Ladefläche unter einer Plane gewiesen. Als er sich dort hinauf gehangelt habe, sei er zu seiner Überraschung auf den Malermeister Arno Fleischer gestoßen, der sich ins kurze Gefecht im Dunkeln auf der Straße eingemischt hatte, als er mit dem Fahrrad, etwas angeschickert, ganz zufällig von einem Fußballspiel in der näheren Umgebung zurückgekommen war.
„Was ist eigentlich los?“, habe der Malermeister sich ratlos gezeigt. „Mit den Iwans hatten wir doch weiter nichts. Ich konnte die im Dunkeln nicht mal richtig erkennen.“
„Na ja, Schnaps holen. Die waren doch wie immer heimlich ausgebüchst“, hatte Hankel ihn aufgeklärt. „Woher wissen die in der Kaserne denn davon …?“
Dann sprangen auch schon zwei der Rotarmisten mit auf die Ladefläche und der Laster fuhr los.
Sie hätten natürlich ziemlichen Schiss gehabt, hatte Hankel erzählt, zumal unterwegs auch die jungen Burschen noch eingesammelt worden seien und keiner gewusst habe, was das sollte. Der Jüngste sei gerade mal siebzehn gewesen.
Alle zusammen seien dann in der russischen Kaserne gelandet, dort einzeln weggesperrt und auch einzeln verhört worden. „Bei den Verhören“, sagte Sebastian, „hatte Hankel erzählt“, habe er erst gar nicht verstehen können, was die von ihm gewollt hatten. Immer wieder die Frage: „Wo ist sowjetischer Soldat?“ Was hätte er antworten sollen? Ihm sei dann nur die Gegenfrage eingefallen: „Welcher Soldat?“ Daraufhin hätte es Schläge gegeben, wie Hankel berichtete und immer wieder die gleiche Frage. Das sei dann ständig hin und her gegangen. Irgendwie sei ein Russe abhanden gekommen. Das hätte man aus den wiederholten Fragen schließen können. Die glaubten, wir verheimlichten was.
Aber wie die darauf gekommen seien, dass wir über den Verbleib des vermissten Muschiks etwas haben wissen sollen, das sei ihm zuerst schleierhaft gewesen.
Doch schließlich sei ihm allmählich gedämmert und den anderen Festgenommenen vermutlich auch, dass die einen Verdacht hegten, der bei den Verhören von den Russen noch nicht ausgesprochen worden war. Ihm sei allmählich klar geworden, habe Hankel gemeint, dass der Kommandant, ein sowjetischer Oberst, geglaubt habe, der verschwundene Rotarmist sei ermordet worden und es handele sich dabei um einen Racheakt.