Sadece LitRes`te okuyun

Kitap dosya olarak indirilemez ancak uygulamamız üzerinden veya online olarak web sitemizden okunabilir.

Kitabı oku: «Das höllische Automobil: Novellen», sayfa 4

Otto Julius Bierbaum
Yazı tipi:

Patsch und Tirili

Als ich Patsch das erste Mal bestieg, erfüllte mich ein Hochgefühl. Das ist doch Rasse, sagte ich mir; man spürt die adlige Herkunft und sichere Tradition; kein aufdringliches Geräusch, kein saloppes Wackeln; alles sitzt fest, hat die richtige Spannung, aber auch die entsprechende Federkraft; er gehorcht dem leichtesten Druck mit ebensoviel Folgsamkeit wie Intelligenz; was etwa noch fehlt, wird ihm ein bißchen Erziehung sicher beizubringen wissen.

Ich hatte damals freilich nur böse Erfahrungen hinter mir. Das klapprige Ding, dem ich mich als banger Eleve hatte anvertrauen müssen, war durch schlechte Behandlung völlig verdorben und um alle Seele gebracht worden. Man hätte es eine Maschine nennen können, wenn es nicht zuweilen doch noch Spuren von Charakter gezeigt hätte. Freilich von schlechtem. Es war boshaft, heimtückisch, niederträchtig. Im allgemeinen heuchelte es Phlegma – wenn es nicht einfach Faulheit war – und tat so, wie wenn es nichts könnte, als stumpfsinnig seinen Trott gehen, geduldig, sanftmütig, schwerfällig, aber verlässig. Doch plötzlich, während man sich keiner Überraschung versah, fiel es ihm ein, Mätzchen zu machen. Wie von einem bösen Geist besessen, begann es zu rennen, zu rasen und hörte mit diesen infamen Tücken nicht eher auf, als bis es mich gegen eine der Säulen, die recht überflüssiger Weise in der Radfahrschule herumstanden, geworfen hatte. Dann lag es wie ein Bild hilfloser Unschuld neben mir, und nur seine Pedale zitterten vor innerem Triumphgefühl über den glücklich gelungenen Streich.

Dabei will ich gar nicht davon reden, daß es ein wahres Jammerbild und in jeder Hinsicht verkommen war. Ich finde zu seiner Kennzeichnung nur das eine Wort: gemein, und man wird es verstehen, wenn ich bekenne, daß ich dieses Wesen aus voller Seele gehaßt habe. Es war besserer Gefühle ebensowenig würdig wie fähig. Genug von ihm.

Ich sagte schon, daß Patsch mir nach dieser Kreatur, deren Namen ich nicht einmal weiß, einen blendenden Eindruck machte. Da er von guter Herkunft, Cleveland, Mittelsorte, ist, so kann das nicht weiter in Erstaunen versetzen.

Das Jahr 1898 war überdies ein besonders guter Jahrgang für die Clevelands. Aber das will im allgemeinen doch nicht viel sagen. Gewiß, der Durchschnitt dieser Rasse ist immer gut, trefflich, in einem gewissen Sinn tadellos – aber auch nicht mehr. Die Clevelands sind im allgemeinen wie gut gedrillte Soldaten; sie leisten das und das, und zwar nicht wenig, was ihnen eben beigebracht worden ist, immer ungefähr einer wie der andere ohne viel individuelle Einzelzüge – es sind Amerikaner. Selten, daß ein niederträchtiges Subjekt unter ihnen vorkommt, selten aber auch, daß besondere Persönlichkeiten hervorragen. Ich halte das natürlich für einen Vorzug der Rasse, aber immerhin, nicht wahr, wenn einem gerade ein besonders begabtes Individuum zufällt, so ist das nicht unerfreulich.

Nun! Patsch war so ein Individuum. Er war entschieden über den Durchschnitt begabt, und ich würde vielleicht überschwenglicher über ihn urteilen, wenn ich nicht das unerhörte Glück gehabt hätte, nach ihm Tirili zu erwerben.

Ich hätte Patsch nicht aufgegeben, wenn ihm nicht ein Malheur passiert wäre, an dem eine Schwäche von ihm schuld war, die ich längst erkannt hatte: seine Bremse taugte nicht viel. Es war so eine geistlose, platte Druckbremse, an der nichts bewundernswert war, als die Prätension, ein laufendes Rad zum Stehen bringen zu wollen. Also gut! Ich fuhr eines schönen Tages auf ihm am badischen Ufer des Untersees entlang, und zwar war die Situation so: ich kam aus einem Walde heraus, der hochgelegen war, und fuhr eine Weile planeben, wie mir schien; in Wahrheit aber fiel der Weg bereits ein wenig, was ich aber nicht bemerkte, weil ich eben eine Siziliane dichtete, eine Strophe, die italienischer Herkunft ist, weshalb sie immer zwei Reime mehr erfordert, als man im Deutschen leicht findet. Nun können Sie sich denken, daß man nicht zugleich Reime fangen und auf den Weg achtgeben kann, und mir war natürlich der Reim wichtiger, als der Weg – denn es gibt überhaupt nichts Wichtigeres auf der Welt als gute Reime. So kam es denn, daß ich, just als ich meinen Reim gefunden hatte, die Pedale verlor, weil es plötzlich in einem ganz unmöglichen Winkel bergab ging. Ich fühlte deutlich, wie Patsch von einem Todesschrecken durchrieselt wurde, als seine Pedale keine Leitung mehr fühlten und sich in einem wahnsinnigen Tempo wirbelig drehten, und ich selbst hatte auch die deutliche Empfindung, daß ich in wenigen Sekunden irgendwo in der Tiefe fragmentarisch anlangen würde. Also ultima ratio: die Bremse. Lächerliche Illusion! Zwar verbreitete sich augenblicks ein penetranter Geruch von heiß gewordenem Kautschuk, aber das Tempo der Abfuhr verminderte sich so gut wie nicht. Dafür kam mir ein Ochsenfuhrwerk gemächlich, aber sicher entgegen, und ich vermochte mir, phantasievoll wie ich nun einmal bin, mit Blitzesschnelle auszumalen, wie in fünf Sekunden Patsch an der Gabeldeichsel, ich aber am Horn eines der Ochsen hängen würde. Mein letzter Gedanke war der eben gefundene Reim: Karbatschen, den ich als Befähigungsnachweis für die Seligkeit mit in die Ewigkeit hinübernehmen wollte, die sich meinen angstvoll aufgerissenen Augen wie ein Tor mit durcheinanderkreisenden Feuerrädern auftat – da machte Patsch einen Riesensatz nach rechts und raste auf einen Steinhaufen los. O du Patsch der Pätsche, o du Wunder von einem Patsch! Das war meine Rettung, aber dein Ruin. Der brave Cleveländer hatte sich, ein leuchtendes Beispiel von Dienertreue, für mich aufgeopfert. Er nahm den Steinhaufen, torkelte noch ein Stück der dahinter liegenden Böschung hinan, dann fiel er erschöpft und ohnmächtig um, und ich lag, die Hände in seine Speichen gekrampft, auf ihm. Wie es sich gebührt, sah ich erst nach, was ihm fehlte. Nun: er hatte seinen Knacks weg. Das eine Pedal war ganz ab, das andere baumelte nur noch; die Lenkstange hatte sich völlig verdreht; die Pneumatiks waren zerschlitzt.

Der arme Kerl tat mir furchtbar leid, obwohl ich vollkommen Ursache hatte, mir selbst leid zu tun, denn auch meine Pedale, sowie die vorstehenden Teile des Gesichtes befanden sich in einem mehr pathologischen als ästhetischen Zustande. So hinkten wir beide nach Hause.

Bei Patschs guter Clevelandkonstruktion versteht es sich von selbst, daß er wiederhergestellt werden konnte. Und er wurde wieder hergestellt. Aber er blieb für mein Gefühl doch ein Krüppel, ein mißliebiger Anblick. So sind wir Menschen. Dankbarkeit und Treue sind bei einem anständigen Subjekt von Rad öfter zu finden, als bei uns. Ich beschloß, ihm zwar das Gnadenöl zu geben, mir aber doch ein neues Rad anzuschaffen.

Ich hätte für diese Herzlosigkeit verdient, ein ganz niederträchtiges Wesen aufgehängt zu bekommen, das sein Geschlecht an mir mit tausend Tücken gerächt hätte, und siehe da – was ist das für eine Weltordnung! – ich bekam, als sollte meine Gemütsroheit auch noch prämiiert werden, das Rad der Räder, das Überrad: Tirili.

Auch Tirili entstammt der Clevelandfamilie, doch gehört sie deren adeligem Zweig an, der Baronlinie der Luxusmodelle. Es wäre Vermessenheit, wollte ich versuchen, ihr Äußeres zu schildern. Sie ist einfach ein Erzengel an Schönheit und dabei hat sie einen Kettenschutz aus Hartgummi und ölt sich selbst.

Ich will Ihnen lieber eins der Begebnisse erzählen, die ich in letzter Zeit mit ihr erlebte; daraus werden Sie am besten ersehen, welch edle Seele ihr innewohnt, welch adlige Eigenschaften sie besitzt, von welcher Fülle aller Reize sie umflossen ist. Der alte, gute, treue Patsch erscheint mir neben ihr ganz einfach als Omnibus – ich kann mir nicht helfen, so frevelhaft undankbar das auch klingen mag.

Gewiß, er überragte den Durchschnitt; er war ein Talent; aber Tirili ist unendlich viel mehr, Tirili ist ein Genie, ein Wunder. Man sollte von ihr nur in Versen reden oder, besser noch, man müßte nur Herrn Stephan George darüber in Versen reden lassen, denn nur das erhabene Lallen ist die kongeniale Ausdrucksweise für Tirili.

Nun lächeln Sie natürlich alle und finden, daß ich überschwänglich bin. Aber Sie werden gleich anders denken, wenn Sie hören, was mir kürzlich mit Tirili passiert ist.

Es war ein schöner Herbstmorgen und die Luft so klar, daß die bayrischen Alpen wie zum Greifen nahe vor mir lagen. Trotzdem gedachte ich nur ins Dachauer Moos hinaufzufahren, wo, wie Sie wissen, die Wiege des malerischen Münchner Naturalismus stand, weshalb einige Pietät und ab und zu eine Radpartie wohl geboten erscheint. Gleichzeitig wollte ich bei dieser Gelegenheit den letzten Akt eines Dramas dichten, das Sie hoffentlich nicht aus Empörung über diese Geschichte auspfeifen werden, wenn es aufgeführt wird. Denn ich dichte immer, wenn ich auf Tirili sitze, es sei denn, daß mir durchaus nichts einfiele. Sie meinen: ich sollte lieber lenken? Da kennen Sie Tirili schlecht. Das gute Mädchen würde es als eine Beleidigung auffassen, wollte ich die Lenkstange auch nur angreifen. Sie liest offenbar Gedanken, denn bis jetzt hat sie mich immer dorthin geführt, wohin ich wollte, oder wohin meine Gedanken sich richteten.

Also gut. Ich tätschelte Tirili freundlich sowohl auf die vordere als auf die hintere Pneumatik, freute mich, wie drall und prall das alles war, und heidi ging es hinaus, die Nymphenburger Allee entlang. Schon am Fenster der hübschen Nähmamsell links kam der Geist über mich, und ich begann ein so heißes Dichten, daß ich weder vorwärts, noch rechts und links, sondern nur immer in mich hineinsah, wo sich der letzte Akt meines Dramas glatt und con amore abspielte. Dieses Schauspiel interessierte mich riesig, und ich sah nicht eher aus mir heraus, als bis die Heldin so tot war, wie es nur eine Heldin sein kann, die es nach göttlichem und menschlichem Recht verdient, tot zu sein. Wer beschreibt aber mein Erstaunen, als ich, wie ich mich nun befriedigt umsah, mich nicht etwa in Dachau, sondern auf dem Gipfel eines Berges erblickte, den ich dank meiner Vorbildung auf einem deutschen Gymnasium sofort als die Zugspitze erkannte? Du lieber Gott, sagte ich zu mir, die Zugspitze ist doch 2974 Meter hoch und ganz voll Eis und Schnee, und der Arzt hat mir ausdrücklich verboten, größere Steigungen zu nehmen und mich Erkältungen auszusetzen – da ging es auch schon wieder abwärts, und nur mit Hilfe der wunderbaren Röllchenbremse gelang es mir, einige Wände ohne Unfall hinabzukommen. Aber bei allem Bremsen mußte ich doch in einem ganz unerhörten Tempo begriffen sein, denn nur dies vermag den Umstand zu erklären, den ich Ihnen sofort und ohne viele Worte berichten will.

Ich sause also hinunter und komme plötzlich in eine Klamm, die, rechts und links von senkrecht aufragenden Felsen eingeschlossen, nur oben Raum für einen ganz schmalen, überdies völlig beeisten Weg bot. Ich hatte meine Beine auf die Lenkstange gelegt und hielt die Arme verschränkt, wie ich immer zu tun pflege, wenn ich mir sagen muß: hier kann nur Tirili allein helfen.

Da, denken Sie sich meinen Schreck, sah ich am Ende der Klamm einen dicken Bauern auf mich zukommen, dessen breite Figur den Weg völlig einnahm. Einen Moment kam mir der idiotische Gedanke, zu läuten, aber da war ich auch schon – ja, wie soll ich nun sagen: über den Bauern weg oder durch den Bauern durchgefahren? Ich muß unbedingt an die letztere Möglichkeit glauben, denn ich bin mir durchaus nicht bewußt, daß wir, Tirili und ich, über ihn weggesprungen sind. Andrerseits war freilich an mir und dem Rad nicht das geringste zu sehn, das darauf hätte hindeuten können, daß wir durch einen leibhaftigen Bauern hindurchgefahren waren. Aber, wenn Sie die Schnelligkeit bedenken, mit der dies offenbar geschehen war, so ist dieser Nebenumstand ja nicht weiter verwunderlich. Auf alle Fälle ersuche ich Sie, nicht auf die Idee zu verfallen, ich hätte den Bauern überfahren. Einen so häßlichen Gedanken müßte ich auf das bestimmteste zurückweisen; ich überfahre nie jemand, sei es Bürger, Bauer oder Edelmann.

In weniger Zeit, als Sie gebraucht haben, dieses kleine Abenteuer anzuhören, befand ich mich danach auf der Landstraße zwischen Planegg und München, und zwar der Stadt schon sehr nahe. Tirili verlangsamte ihre Gangart, und wir bummelten in dem Tempo dahin, das ich immer für das beste zum Dichten von Elegien erfunden habe. Ich begann sofort eine in sechsfüßigen Jamben auf das goldene Haar meiner Geliebten. Schon war ich am Ende des Gedichts angelangt, an diesem höchst wirkungsvollen Schluß, wo ich es mir als seligsten Tod wünsche, mich an diesen goldenen Strähnen aufzuhängen – da kommt mir dieselbichte Geliebte höchstselbst entgegen, und zwar auf einem schneeweißen Zelter – ich darf in diesem Zusammenhang dieses poetische Wort anwenden. Sie können sich meinen süßen Schrecken denken! Aber kaum hatte ich sein holdes Rieseln durch das Rückenmark gekostet, da kam ein gallebitterer Schrecken hinterdrein: Hölle und Teufel – ein Galan ritt neben ihr, ein schwarzes, hakennasiges Herrchen in einer grünen Weste auf einem riesigen Fuchs. Meine Eitelkeit zischelte mir zu: welche Figur wirst du neben der Hakennase spielen, die auf einem hohen Gaul sitzt, während du auf einem Rad hockst, und wäre es auch Tirili, die Unvergleichliche. Und ich gedachte, mich rechts in die Büsche zu schlagen. Aber da waren die beiden auch schon da, und ich mitten zwischen ihnen, und ich reichte meiner Königin die Hand.

Wie ist das nur möglich, dachte ich mir, daß ich diese holde Hand im grauen Reithandschuh von Tirilis Sattel aus so leicht erreichen konnte – da merkte ich, daß ich mich mit der Hakennase in gleicher Höhe befand, und das Herrchen sagte etwas von einer famosen Isabelle, auf der ich ritte. Der Mensch sah Tirili für eine falbe Stute an! Das muß von der Farbe der Spelgen Tirilis herkommen; anders kann ich es mir nicht erklären. Aber die Höhe! Die Höhe! Und Tirili kann doch nicht wiehern! Mir war zumute, wie wenn ich der Held in einer Geschichte von E. T. A. Hoffmann wäre, und ich freute mich, als die beiden sich mit den Worten verabschiedeten: ”Mit Ihnen kommt man ja doch nicht mit!“ Kaum waren diese Worte verklungen, da sah ich, daß ich an meinem Hause angekommen war. Es war genau eine Stunde seit Beginn meiner Ausfahrt vergangen, und man sah Tirili durchaus nicht an, daß wir auf der Zugspitze gewesen waren.

Sind Sie paff? Ich bin es nicht. Ich erlebe täglich solche Sachen mit Tirili. Pegasus mit den Gänseflügeln war ja zu jenen zurückgebliebenen Zeiten ein ganz passables Reitpferd für Dichter, aber wenn Pindar heute nochmals geboren würde – auch er würde einen Cleveländer vorziehen. Meine Tirili kriegt er aber nicht.

Die Weihnachtsbowle

Graf Beisersheim, ein Herr von unbestimmbarem Alter dem Äußeren nach, der aber nur ein paar Sätze zu sprechen brauchte, um allen, die ihm zuhörten, die Überzeugung beizubringen, er müsse wenigstens zweihundert Jahre alt sein, – so angefüllt mit wohlabgelagerter Kenntnis der Welt und der Menschen war seine Rede, – Graf Beisersheim hatte sich in einer Anwandlung von seltsamer, gewissermaßen hautgout-rüchiger Sentimentalität einen Christbaum angeputzt.

Sich und einigen Freunden, die er nun zur ”Bescherung“ einlud.

Das Haupt- und Mittelstück davon, ja wohl der eigentliche Sinn der ganzen Veranstaltung war eine ostpreußische Bowle von vielen Graden, vor der selbst Willibald Stilpe, der doch (siehe das dritte Kapitel des dritten Buches seiner lehrreichen Lebensbeschreibung) in alkoholischen Dingen eine anerkannte Autorität war, ein Gefühl von Respekt empfunden haben würde. Burgunder, Sekt, Sherry, Porterbier, Rum vereinigten sich, nach den besten Grundsätzen gemischt, in der gewaltigen silbernen Terrine, aus der das erlauchte Geschlecht der Beisersheims schon seit Jahrhunderten seine schwersten Räusche bezog, zu einem neuen Kraftorganismus, der imstande war, einen Vollmatrosen auf Anhieb unter den Tisch zu strecken. Nicht aber auch den Grafen, der ihn ins Leben gerufen hatte und trotz seines knickebeinigen, kontrakten Gestelles, das kaum einem ordentlichen Novemberwind standzuhalten vermochte, im Kampf mit alkoholischen Gewalten so widerstandsfähig war, wie nur irgendeiner seiner in Eisen geschienten Vorfahren auf dem Turnier- oder Schlachtfelde.

Seine Freunde, zumeist Schriftsteller und Künstler oder Angehörige von Kreisen, die aus geschäftlichen oder anderen Interessen engere oder weitere Beziehungen zu Literatur und Kunst pflegten, waren zwar auch trinkfeste Herren, einer so kräftigen Ostpreußin aber doch nicht vollkommen gewachsen.

Es dauerte nicht gar lange, und der redelustige Graf verschwendete seine aufs schärfste geschliffenen, in tausend Facetten von Witz und geistreicher Schnödigkeit blitzenden Bosheiten an eine Korona von Schlummernden. Gleich ihnen, die in den breiten ledernen Klubstühlen mehr lagen als saßen, waren auch die Christbaumkerzen in sich zusammengesunken, und nach und nach löschte eine nach der anderen knisternd aus, als letztes Zeichen einer verglühten Existenz einen dünnen Rauchfaden in das grüne Geäst sendend. Schließlich erhellten nur noch die dicken Wachslichter in den breiten messingenen, mit dem Beisersheimschen Wappen gezierten Wandleuchtern den von Zigarren- und Zigarettenrauch massig durchschwadeten Raum, dessen Luft schon so voll von Alkoholdünsten war, daß man allein davon einen ansehnlichen Rausch hätte bekommen können.

Der Graf, der es in seinen Dramen (denn auch er hatte ein Verhältnis mit der Muse der Dichtkunst, und noch dazu ein ernsthaftes, das nicht ohne Folgen geblieben war) aus prinzipiellen Gründen von unerschütterlicher Festigkeit nie über sich gewonnen hätte, eine seiner Personen in Monologen reden zu lassen, wandte seine künstlerischen Prinzipien im Leben selber insoferne nicht an, als er, gewohnt und geschickt, viel und witzig zu reden, in gewissen Zuständen auch dann sprach, wenn niemand da war, der ihm hätte zuhören und antworten können. In einen solchen Zustand geriet er jetzt, als er langsam Glas auf Glas der schweren ostpreußischen leerte und eine russische Zigarette nach der anderen dazu rauchte.

”Eine sehr stimmungsvolle und durchaus dem Sinne des Festes entsprechende Weihnachtsfeier,“ bemerkte er, indem er seine kleinen, grau-grünen Augen über die Reihe der Schlafenden schweifen ließ. ”Nur schlafend können sie das Fest der Liebe feiern, denn, wenn sie wach wären, würden sie reden, und wenn sie redeten, würden sie irgendeine Reputation zerreißen.“

In diesem Augenblick tat ein rot und gelb bemalter Nußknacker, der am Baume hing und einem engeren Konkurrenten des Grafen, auch einem dramatischen Schriftsteller (dem er übrigens ähnlich sah), zugedacht war, die hölzernen Kinnladen auseinander und sprach in einem aus erklärlichen Gründen etwas harten Dialekt, wie folgt: ”Und du? Warum schläfst dann du nicht? Du hast es doch besonders nötig?! Jungchen, Jungchen! Du denkst natürlich an meinen neuen Herrn. Aber so boshaft wie du, Menschenskind, ist nicht einmal er.“

”Pih, pih,“ machte da eine kleine Balleteuse, die sich der Graf selber geschenkt hatte und die, ein niedliches Figürchen aus Porzellan und über und über mit Spitzen und Rüschchen bedeckt, unter dem Nußknacker hing, ”pih, pih, reißt der das Maul auf! So schreien kann ich freilich nicht, aber das möchte ich denn doch bemerken: Der Unterschied zwischen meinem und deinem Herrn besteht bloß darin, daß meiner mit Geist boshaft ist und deiner bloß mit Grobheit. Denn meiner ist ein Graf und deiner ein Bauer.“

Während sie dies mit einer süßen, aber doch etwas spitzigen Porzellanstimme sprach, warf sie recht zierlich bald das eine, bald das andere Bein über sich, daß ihr seidenes Tanzröckchen nur so raschelte und ein jeder sowohl ihre Waden wie ihren Mechanismus bewundern konnte.

Der Nußknacker geriet außer sich, denn er besaß an Stelle von Beinen, mit denen er hätte schlenkern können, nur einen gespaltenen Stumpf, der seinen Kinnladen die Knackekraft verlieh. Dieses Umstandes aber bediente er sich aufs heftigste und schrie: ”Mein Herr ist ein Dichter mit Tantiemen, Sie leichtfertige Ratte, Sie! Wenn Sie nur eine Spur von Ehrfurcht in Ihrer flitterhaften Psyche hätten, würden Sie von einem Manne, der selbst von seinen durchgefallenen Stücken leben könnte, während Ihrem Herrn nicht einmal seine erfolgreichen etwas Ordentliches einbringen, mit Respekt reden. Aber natürlich, wer nichts als Grazie besitzt, wie könnte der für ernsthafte Werte Sinn haben?!“

Die Balleteuse wollte sogleich replizieren, aber in diesem Augenblicke erwachte der Herr des Nußknackers für ein paar Sekunden und sprach: ”Machen Sie keinen Unsinn, Mann – fünfzehn Prozent, oder ich schließe mit Ihrem Konkurrenten ab!“

Jetzt aber fuhr die Balleteuse los, indem sie vor Erregung Chahüt machte: ”Mein Graf hat das Dichten überhaupt nicht nötig. Mein Graf …“

”I, du verflixte Mamsell!“ rief der dazwischen, der sich gar nicht zu wundern schien, daß das Christbaumvolk sich so unwahrscheinlich gebärdete, ”willst du wohl aufhören, auf meiner Grafenkrone herumzureiten? Überhaupt sind das recht unpassende Gespräche. Redet doch lieber ein bißchen von der Menschenliebe heute. Dafür ist dieser Tag reserviert.“

Kaum, daß er diese Worte gesprochen hatte, erhob sich aus der dunkelsten Partie des Christbaumes ein unendlich zartes und mitleiderregendes Gewinsel, wie von einem ganz, ganz kleinen jungen Hunde, und gleichzeitig kleckerten winzige Wachströpfchen durch die Zweige auf das Tischtuch herab. Der Graf erhob sich, um zu sehen, was denn los sei, und entdeckte, daß das Gewinsel von einem schwarzen Chenillepudel herrührte, der seinem wehvollen Herzen aber nicht nur phonetisch Ausdruck verlieh, sondern auch dadurch, daß er Wachs weinte. Denn seine treuen Hundeaugen waren aus gelben Wachskugeln hergestellt.

Der Graf begriff sofort, daß das eine verhängnisvolle Art zu weinen sei, und er bemerkte daher: ”Es ist zwar anerkennenswert und verdient Lob, wenn ein Pudel aus Chenille Gemüt zeigt und es seinem Schöpfer, dem Menschen, nachzutun trachtet, indem er Tränen vergießt; wenn aber dabei das einzige an ihm, das nicht Chenille ist, sich auflöst und kaput geht, so muß doch gesagt werden, daß das eine unökonomische Manier ist, Trauer an den Tag zu legen. Wenn unsere Augen dabei kaput gingen, Freund Pudel, würden wir Menschen gewiß keine Tränen vergießen. Wir leisten uns diese effektvolle Ausscheidung nur, weil sie uns nichts kostet.“

Aber der Chenillene hörte nicht auf, Wachs zu weinen; doch zu winseln hörte er auf. Denn er sprach (wie Weinende zu sprechen pflegen, unter häufigem schluchzenden Aufstoßen): ”Und wenn meine Augen mir auch ganz davon rinnen und fürderhin in meinem Antlitze nichts Gelbes mehr abstechen soll gegen das glänzende Schwarz meiner Chenille: Ich werde doch nicht aufhören, Tränen zu vergießen über das tragische Geschick, daß ich mich meines Schöpfers nicht als eines vollkommenen Wesens erfreuen soll. Das hat mir, der ich kein wirkliches Knochengerüst besitze, bisher eine Art ideellen Rückgrates gegeben, daß ich des festen Glaubens lebte, meine Götter, diese machtvollen Wesen, die selbst Chenillepudel zu erschaffen vermögen, seien reine, fleckenlose Lichtgestalten, lebend und webend in einem ewigen Glanze von allgütiger Liebe, und nun muß ich es erfahren, daß sie für diese höchste Tugend nur einen Tag unter dreihundertfünfundsechzig reserviert haben, und auch den augenscheinlich nicht immer ganz in diesem Sinne hinbringen. Wenn ich nicht schon aufgehangen wäre, würde ich mich jetzt aufhängen. Denn ein Idealist, der selbst seine Götter als mangelhaft erkannt hat, kann sich begraben lassen.

Bei diesen Worten rann das letzte bißchen Wachs aus seinen Augenhöhlen, und er war so ausschließlich nur noch Chenille, daß Graf Beisersheim mit Recht bemerken durfte: ”Jetzt, mein pudelnärrischer Ideologe, bist du nur noch als Tintenwischer zu gebrauchen, und nichts mehr an dir wird deinen Herrn, den vielgebietenden Theaterdirektor, daran gemahnen, daß es Ideale auf der Welt gibt. Schade. Gerade er hätte einen Idealisten in seiner Umgebung so nötig gehabt.“

Mit diesen Worten begab er sich zu seinem Stuhl zurück und verschwand wie ein Häufchen Pergament in dem gepolsterten Leder.

Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
30 haziran 2017
Hacim:
90 s. 1 illüstrasyon
Telif hakkı:
Public Domain
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre