Kitabı oku: «Agile Organisation – Methoden, Prozesse und Strukturen im digitalen VUCA-Zeitalter», sayfa 6
3.4 Kernaspekte (klassischer) Organisation
Als Zusammenfassung der in den Kapitel 3.1 bis 3.3 dargestellten Kernaspekte von Organisation lässt sich generell festhalten:
Organisation ist Mittel zum Zweck, d. h. zur Erreichung der definierten Unternehmensziele.
Bei Organisation geht es immer um Arbeitsteilung und Koordination.
Organisation schafft (ein System von) Regeln – damit nicht ständig improvisiert werden muss. Diese sind präsituativ geplant, auf (eine gewisse) Dauer angelegt und (möglichst) unabhängig von einzelnen Personen.
Regeln sorgen für Stabilität des Systems und Sicherheit der handelnden Akteure.
Es geht immer darum, ein (theoretisches) Optimum zwischen vorgegebenen Regeln (Fremdorganisation) sowie Freiraum und Eigenverantwortung der handelnden Akteure (Selbstorganisation) zu finden.
Organisation sollte möglichst effektiv und effizient gestaltet sein.
Es lassen sich sechs generische, aber z. T. konfliktäre Organisationsziele unterscheiden – diese gelten immer, aber je nach spezifischer Situation in unterschiedlichem Maße. Organisatorische Gestaltung ist daher immer ein Abwägen, welche Lösungsalternative zu den in der spezifischen Situation fokussierten Zielen am besten passt.
Prozesse (Wie werden Aufgaben erfüllt?) und Strukturen (Wer erfüllt welche Aufgaben?) sind die Kernobjekte der Organisation.
Bei der Prozessgestaltung geht es darum, die Aktivitäten zur Aufgabenerfüllung in eine sachlogisch, zeitlich und räumlich (möglichst) optimale Reihenfolge zu bringen.
Während bei der Gestaltung von Massenprozessen eher Effizienzaspekte wie Standardisierung, Automatisierung, Fehlerfreiheit und Skalierbarkeit dominieren, stehen bei der Gestaltung von Einzelprozessen eher effektivitätsorientierte Aspekte wie Markt-/Kundenfokus und Anpassungsfähigkeit im Fokus.
Bei der Strukturgestaltung geht es darum, die (Teil-)Aufgaben bzw. Aktivitäten (möglichst) optimal auf Organisationseinheiten zu verteilen und die Koordination zwischen diesen zu regeln.
Als Konsequenz der Arbeitsteilung (auf verschiedene Menschen) ergibt sich immer die zentrale Organisationsfrage nach der Art der Koordination, also wie gelingt es, dass die vielen einzelnen Aktivitäten, die von verschiedenen Menschen ausgeführt werden, stimmig auf das gemeinsame Ziel ausgerichtet sind?
Das Organigramm ist die schematische, grafische Darstellung der äußeren Form der Struktur. Die im Organigramm dargestellte hierarchische Weisungsstruktur sagt aber nichts darüber aus, wie im Unternehmen kommuniziert, d.h. wie „die Struktur gelebt“ wird.
Zentral für die Gestaltung der Struktur ist die Art der Aufgabenbündelung. Dabei gibt es immer einen Trade-Off von Markt- (eher objekt- bzw. marktorientierte Aufgabenbündelung) und Effizienzorientierung (eher funktionale-/verrichtungsorientierte Aufgabenbündelung).
Dies zeigt sich auch im typischen Organisationkonflikt zwischen Dezentralisierung/Individualisierung (näher am spezifischen Markt-/Kundenbedürfnis, schnellere Anpassung) und Zentralisierung/Standardisierung (einheitlicher, kosteneffizienter).
Organisation muss immer auch den Menschen bzw. die vielen unterschiedlichen Menschen, insbesondere deren Motivation und Kompetenzen, berücksichtigen, denn innerhalb der Prozesse und Strukturen agieren stets Menschen. Von daher gibt es immer einen engen Zusammenhang von Organisation zu Personal-, Führungs- und Kulturaspekten.
Und ganz wichtig: Es gibt nicht die eine optimale Organisationslösung, sondern es kommt immer auf die konkrete Situation an!
Diese Aussagen zu Organisation gelten generell, d. h. sowohl für klassisch-hierarchische als auch agile Organisationsansätze. Hier gibt es also prinzipiell keine Unterschiede. Dies ist wichtig festzuhalten.
Unterschiede gibt es aber in der konkreten Ausgestaltung dieser Kernaspekte von Organisation. Ein zentraler Grundgedanke klassisch-hierarchischer Organisation ist die effiziente (Massen-)Produktion bzw. Leistungserbringung durch viele funktional-spezialisierte Menschen, die arbeitsteilig eine komplizierte Gesamtaufgabe erfüllen, indem sie koordiniert bestimmte Teilaufgaben im Gesamtsystem erfüllen. Dahinter steht die Annahme, dass die Rahmenbedingungen zwar ggf. kompliziert sind und daher tiefgreifend durchdacht und gestaltet werden müssen, sich aber eher selten verändern. Daher ist es sinnvoll, möglichst klare Regeln aufzustellen und diese dann konsequent einzuhalten (Bürokratie).66 In diesem (bürokratischen) Regelsystem wird gearbeitet. Natürlich werden auch hier die Regeln optimiert (Arbeit am System), aber in größeren Abständen und tendenziell top-down, von Fachexperten und in Projektform. Daher gilt in bürokratischen bzw. klassisch-hierarchischen Organisationen:
Es werden typischerweise top-down von Experten möglichst optimale Regeln vorausgeplant und aufgestellt, die die Arbeitsteilung und Koordination klar festlegen – wodurch die Unternehmen zu beherrschbaren Systemen werden sollen (Fremdorganisation, Bürokratie).
Prozesse werden klassischerweise formal dokumentiert und damit koordiniert über aktivitätsbezogene Prozessbeschreibungen, die die einzelnen Aktivitäten der Leistungserbringung zum Inhalt haben.
Klassischerweise stehen primär die (industriellen) Massenprozesse im Fokus, dementsprechend dominieren oft Effizienzaspekte wie Standardisierung, Automatisierung, Fehlerfreiheit und Skalierbarkeit.
Bei der Abwägung von Dezentralisierung/Individualisierung und Zentralisierung/Standardisierung dominiert klassischerweise die Zentralisierung, weil dadurch die einheitliche Ausrichtung an den übergeordneten Zielen besser umgesetzt werden kann, und die Standardisierung, weil dadurch die Effizienz i. d. R. höher ist.
Bei der Abwägung von Markt- (eher objekt- bzw. marktorientierte Aufgabenbündelung) und Effizienzorientierung (eher funktionale-/verrichtungsorientierte Aufgabenbündelung) dominiert auf der operativen Ebene klassischerweise die Effizienzorientierung und das Streben nach Spezialisierung und funktionaler Exzellenz.67
Die Basisorganisationseinheit sind klassischerweise Stellen. Diese orientieren sich zwar an typischen Mitarbeiterkapazitäten und -profilen, sollten aber sachorientiert und i. d. R. vom Personenwechsel unabhängig sein. Stellen sind klassischerweise längerfristig bzw. eine gewisse Dauer gestaltet – und über Stellenbeschreibungen dokumentiert.
In klassischen Strukturen gibt es meist irgendwo verrichtungsorientierte, funktionale Einheiten, weil bei stark standardisierten Leistungserbringungsprozessen fast immer irgendwann funktionale Spezialisierungseffekte eine dominante Rolle spielen. Die funktionale Abteilung mit Fachspezialisten ist klassischerweise die dominierende Stellenmehrheit im operativen Geschäft.
Der zentrale Mechanismus zur Koordination verschiedener, arbeitsteilig arbeitender Organisationseinheiten ist klassischerweise die Hierarchie (und damit verbunden die Weisung), weil davon ausgegangen wird, dass die übergeordnete Instanz den Abstimmungsbedarf zwischen den verschiedenen ausführenden Organisationseinheiten (er)kennt und entsprechend koordinierend eingreifen kann. Außerdem war es in der Vergangenheit häufig (aber nicht zwingend) auch so, dass der „funktionale Meister“ als übergeordnete Instanz fachlich kompetenter war und deshalb inhaltlich als eine Art „Qualitätssicherer“ agierte.
Das klassische Organigramm besteht aus Kästchen für Organisationseinheiten und vertikalen Weisungslinien als Ausdruck der Hierarchie. Die hierarchische Über- und Unterordnung über mehrere Ebenen wird z. T. (aber nicht zwingend) ausgeprägt „gelebt“ (pyramidale Führungsstruktur). Durch top-down-Steuerung (Push-Prinzip) erfolgt Koordination.
Dementsprechend sind Führungsaufgaben klassischerweise eher gebündelt, was aber Matrix-Strukturen und „dotted lines“ nicht ausschließt.
Das unterstellte Menschenbild ähnelt der „Theorie X“ von MCGREGOR.68 Demnach sind Menschen träge, haben tendenziell eine Abneigung gegen Arbeit, streben nach Sicherheit und scheuen sich vor Verantwortung. Daher müssen sie von außen (extrinsisch) gelenkt, geführt, motiviert und kontrolliert werden.
Kontrolle ist klassischerweise extrem wichtig, weil Regelabweichungen (bei standardisierten und optimierten Massenprozessen, die sich kaum verändern) zu geringerer Effizienz führen.
Die wenigsten Unternehmen sind heutzutage klassisch-hierarchisch in der hier vorgestellten Reinform organisiert. Insbesondere haben verhaltenswissenschaftliche Aspekte und Erkenntnisse in den letzten gut 100 Jahren – seit WEBER, TAYLOR und FAYOL – deutlich an Relevanz gewonnen. Von daher ist dies i. d. R. nicht als heutige Situation zu verstehen – auch wenn das von einigen „Agilitäts-Evangelisten“ manchmal so übertrieben dargestellt wird. Vielmehr ist dies die eine Seite des Organisationskontinuums. Die Kernaspekte bzw. Charakteristika der anderen, der agilen Seite werden im folgenden Kapitel 4 vorgestellt.
Und natürlich gab und gibt es auch in klassisch-hierarchisch geprägten Unternehmen immer auch schon Aspekte bzw. Aufgaben, bei denen es weniger um Effizienz und Wachstum (im bestehenden Geschäft) und mehr um Innovation und Lernen ging bzw. geht. Von daher ist die vorherige Darstellung durchaus etwas zu einseitig. Der Konflikt von Effizienz und Innovation war stets da, ist lange bekannt und wird in der Organisationslehre typischerweise unter dem Begriff Ambidexterity, im Deutschen auch Ambidextrie bzw. Beidhändigkeit, diskutiert (vgl. Kapitel 5).
4 Charakteristika agiler Organisation
4.1 Überblick
Als „Gegenmodell“ zu den am Ende von Kapitel 3.4 dargestellten Kernelementen klassisch-hierarchischer Organisation werden im Kapitel 4 die Charakteristika einer agilen Organisationsgestaltung vorgestellt. Basierend auf den in Kapitel 2 vorgestellten Entwicklungslinien und den zugrunde liegenden agilen Werten und Prinzipien, sowie als Extrakt der Kernelemente diverser agiler Ansätze, lassen sich die in Abbildung 16 („Agile Org Navigator“) dargestellten Charakterzüge agiler Organisation ableiten.69 Sie verdeutlichen, wie in agilen Unternehmen Prozesse (Prozessgestaltung) und Strukturen (Strukturgestaltung) gestaltet werden und wie sich die Akteure innerhalb dieses organisatorischen Rahmens koordinieren (Koordination).
Diese Charakteristika bilden das Fundament der verschiedenen agilen Organisationsansätze, die in den Kapiteln 6 bis 8 vorgestellt werden. Wie die gestrichelten Linien in Abbildung 16 verdeutlichen, ist eine eindeutige und trennscharfe Kategorisierung der 15 Charakteristika kaum möglich und auch nicht gewollt. Die systematische Einordnung der Charakteristika in die 3 Kategorien zeigt jedoch deren primären Einflussbereich, zeigt Zusammenhänge auf und hilft bei der Analyse. Die einzelnen Elemente wie Selbstorganisation, Transparenz, iterativ-inkrementelles Vorgehen und cross-funktionale Teams lassen sich zwar losgelöst voneinander beschreiben, ihr volles Nutzenpotenzial erschließt sich jedoch erst durch eine integrierte Betrachtung und Kombination. Ebenfalls ist anzumerken, dass das Modell keine Anleitung liefert, was zu tun ist, es zeigt „lediglich“ die wesentlichen Elemente, die sich bei agilen Organisationsansätzen immer wieder finden lassen – wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Ausprägungen. Die Charakteristika liefern ein Orientierungsgerüst für Mitarbeiter und Führungskräfte sowie alle organisatorisch Tätigen – z. B. Organisatoren, Organisationsentwickler und Agile Coaches – und sind so etwas wie die Leitprinzipien agiler Organisationsgestaltung. Der „Agile Org Navigator“ hilft dabei, im Agilitäts-Kosmos zu manövrieren. Er liefert Orientierung im agilen Begriffs- und Methodenwirrwarr.
Abb. 16: Agile Org Navigator
Die einzelnen Elemente agiler Organisationsgestaltung werden im Folgenden jeweils kurz vorgestellt und dann in den Kapiteln 6 bis 10 – und auch in den sonstigen Beiträgen im Buch (wenn auch z. T. mit leicht unterschiedlichen Bezeichnungen) – immer wieder aufgegriffen. Dadurch wird der Charakter agiler Unternehmen, nach und nach „mit Leben gefüllt“, klarer und greifbarer.
4.2 Agile Prozessgestaltung
Getreu dem Primat der Prozesse (vgl. Kapitel 3.1) werden im Folgenden zunächst die typischen Charakteristika agiler Prozesse vorgestellt. Wie diese in konkreten Methoden und Frameworks angewendet bzw. umgesetzt werden, wird dann später in den Kapiteln 6 und 7 erläutert.
Kundenzentrierung
Da Geschäftsprozesse nur dann effektiv und effizient gestaltet werden können, wenn die Kundenerwartungen bekannt sind, ist es essenziell, die aktuellen Kundenbedürfnisse zu ermitteln. Dies ist natürlich in keinster Weise eine Besonderheit von agilen Unternehmen. Wie in Kapitel 3.1 vorgestellt, ist die Markt- und Kundenorientierung ein generelles Gestaltungsziel von Organisation. Es dürfte kaum ein Unternehmen geben, das nicht von sich behauptet, kundenorientiert zu sein bzw. sein zu wollen. Doch wird der Kundenfokus sowie die Geschwindigkeit, mit der individuelle und dynamische Kundenbedürfnisse antizipiert und in marktfähige Produkte und Leistungen umgesetzt werden, in der VUCA-Welt zum entscheidenden Erfolgsfaktor (vgl. Kapitel 1). Denn immer anspruchsvollere und volatilere Kundenanforderungen gehen einher mit kürzeren Innovations- und Produktlebenszyklen, die Flexibilität im Denken und Handeln der Organisationsmitglieder erfordern.
Gefragt sind schnelle Reaktion, kreatives, flexibles kundenorientiertes Agieren, ohne die operationale Exzellenz aus den Augen zu verlieren. Dementsprechend spielen die Analyse von Kundenbedürfnissen, das regelmäßige Einholen von Kundenfeedback und die kontinuierliche Anpassung an neue Erkenntnisse über die Kundenwünsche eine sehr große Rolle in agilen Projekt- und Prozessmanagementansätzen (vgl. Kapitel 6). Anforderungen werden in User Stories formuliert, es werden Customer Journeys analysiert und optimiert und in manchen Unternehmen (z. B. AMAZON) steht gar in jedem Meeting ein freier Stuhl als Erinnerung dafür, sich jede Entscheidung auch aus der Perspektive des Kunden zu betrachten. Eine besonders exponierte Stellung kommt der Kundenzentrierung dabei im Rahmen von Design Thinking zu. Das Besondere in agilen Organisationen ist also nicht die Kundenausrichtung an sich, sondern das Maß der Kundenfokussierung.
Gerade auch in agilen Unternehmen wird gerne mit einfachen Instrumenten zur Messung der Kundenzufriedenheit, wie z. B. dem NPS (Net Promoter Score), gearbeitet. Untersuchungen zeigen, dass die Umsätze bei Unternehmen mit einem vergleichsweise hohen NPS rund 2,5-mal schneller steigen als bei ihren Wettbewerbern.70 Voraussetzung für diesen Erfolg ist jedoch, dass die zugrunde liegenden Wertströme und Unternehmensprozesse auf die Kundenerwartungen ausgerichtet sind und permanent an diese angepasst werden können. Denn all das Messen „nützt nichts, wenn dieses Ergebnis dann im Vorstandsschreibtisch verschwindet.“71
In agilen Prozessen liefern validierte Informationen über die wirklichen Kundenbedürfnisse die Entscheidungsgrundlage dafür, welche Aufgaben wertschöpfend sind und auf welche Aktivitäten verzichtet werden kann. Hier zeigt sich wiederum die Nähe zu Lean (vgl. Kapitel 2.3), dessen Grundhaltung es ist, kundenorientierte Wertschöpfung ohne Verschwendung zu schaffen. Es gilt der klassische Spruch von PETER DRUCKER: „Nichts ist weniger effizient, als etwas effizienter zu machen, was überhaupt nicht gemacht werden sollte.“
Organisatorisch gliedern sich die Prozesse folglich meist nach dem sogenannten Kunde-zu-Kunde- bzw. End-to-end-Prinzip, mit einer ganzheitlichen und idealerweise „fallabschließenden“ Vorgangsbearbeitung (vgl. Kapitel 3.2). Die Prozess- und Ergebnisverantwortung wird durch cross-funktional zusammengesetzte Teams möglichst eigenständig wahrgenommen (vgl. Kapitel 4.3). Prozessverantwortliche bzw. Process Owner sind dadurch – ähnlich der Rolle eines Product Owner (vgl. Kapitel 6.3) – in der Lage, die Sicht des Kunden einzunehmen und für die Kundeninteressen einzustehen. Sie können, falls nötig, gegenüber den Prozessbeteiligten als „Anwalt des Kunden“ auftreten und argumentieren – eine mächtige Stimme, für deren Durchsetzung es idealerweise keine hierarchische Macht braucht. Schließlich bestimmt der Kunde über den Prozesserfolg.72 Das ermöglicht einerseits, dass Kundenerwartungen und -feedbacks schnell und flexibel aufgegriffen werden können, erfordert aber andererseits Standards im Sinne eines stabilen Rahmens, damit die Effizienz nicht auf der Strecke bleibt (vgl. Kapitel 4.4).73
Iterativ-inkrementelles Vorgehen
Typisch für agile Prozesse ist es, dass die Kundenbedürfnisse nicht einmalig vorab analysiert und dann in einem großen „Wurf“ umgesetzt werden, sondern dass iterativ und inkrementell vorgegangen wird. Denn Studien belegen, dass durchschnittlich 50 % der Anforderungen während eines Projekts geändert werden.74 Besonders in komplexen und dynamischen Situationen ist es gar nicht möglich, die Kundenbedürfnisse vorab komplett und konkret zu ermitteln. Dies liegt u. a. daran, dass die Kunden selbst gar nicht genau wissen, was möglich ist. Auch sind die zu bewältigenden Aufgaben nicht immer eindeutig, und logische Zusammenhänge und Folgebeziehungen unbekannt oder existieren nicht. Anforderungen und die für die Zielerreichung notwendigen Technologien und Verfahrensweisen sind unklar oder ändern sich im Zeitverlauf (vgl. Kapitel 2.4). Intensive Vorabanalysen und langfristige Planung bringen unter solchen Bedingungen nur sehr geringen Nutzen, vielmehr wiegen sie die Entscheider in trügerischer Sicherheit und sind kontraproduktiv. Es gilt: „The trouble is, once that the beautifully elegant plan meets reality, it falls apart.”75 bzw. in den Worten des ehemaligen Boxweltmeisters MIKE TYSON: “Everyone has a plan‚ till they get punched in the mouth.”76
Unter dynamischen und komplexen Rahmenbedingungen ist daher ein iterativ-inkrementelles Vorgehen die bessere Wahl. Gerade, wenn die gewünschte Lösung noch nicht auf der Hand liegt, plant man besser auf Sicht und konzentriert sich auf solche Anforderungen (bzw. User Stories, vgl. Kapitel 6.3), die wichtig und dringlich sind. Iterativ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sich in überschaubaren Intervallen, meist sogenannten Sprints, der gewünschten Zielvorstellung schrittweise angenähert wird. Frühe Ergebnisse werden in kurzen Zyklen verändert und verfeinert, bis das gewünschte Ziel erreicht ist. Gemäß den Erläuterungen in Kapitel 2.4 gilt der Ansatz „probiere, erkenne, reagiere“. Und selbst das angestrebte Ziel bzw. die angedachte Lösung kann sich mit wachsender Erfahrung im Zeitverlauf immer wieder ändern.
Abb. 17: Iterativ-inkrementelles Vorgehen77
Das in Abbildung 17 dargestellte inkrementelle Vorgehen zielt darauf, dass am Ende jeder Iteration ein vorzeigbares und überprüfbares Teilergebnis (Inkrement) vorliegt. Ein (Produkt-)Inkrement ist für sich genommen eigenständig, es verfügt über alle notwendigen Funktionalitäten und ist auslieferbar bzw. nutzbar. Gerade in den frühen Phasen einer Entwicklung ist dieses Vorgehen sehr wertvoll, da Kunden und Stakeholder von Beginn an in den Gestaltungsprozess eingebunden werden können und sehr schnell erste Lösungen erhalten, die Erkenntnisse über die weiteren Entwicklungsschritte liefern. Jede weitere Iteration und jedes weitere Inkrement reduziert schrittweise die Unsicherheit und führt letztlich – durch kontinuierliche Optimierung und Weiterentwicklung – zur tatsächlich die Kundenbedürfnisse erfüllenden Lösung.78 Die durch das iterative Vorgehen und regelmäßiges Feedback (vgl. folgender Punkt) realisierte Lösung entspricht typischerweise nicht der ursprünglich einmal geplanten bzw. angedachten Lösung – sondern sollte besser geeignet sein, die tatsächlichen Kundenbedürfnisse und die Unternehmensziele zu erfüllen.
Ein solches iterativ-inkrementelles Vorgehen (bzw. kleinschrittiges, erprobendes Herantasten79) ist unter VUCA-Bedingungen wirtschaftlich, denn Ergebnisse werden nicht nur schneller geliefert, sondern das Vorgehen selbst, der Prozess, wird permanent angepasst und verbessert. Die iterative Überprüfung des gewünschten Ziels verhindert, dass man sich verzettelt, und die frühe Einbindung der Kunden und deren Feedback ermöglicht es, dass Aufträge und Projekte schneller zum Erfolg führen, da nur solche Funktionen umgesetzt werden, für die der Kunde auch bereit ist zu zahlen (vgl. Lean Startup in Kapitel 6.4).80 Oder um es mit den Worten von STEVE DENNING zu sagen: „Agile is about working smarter, rather than harder. It’s not about doing more work in less time: it’s about generating more value with less work.“81
Auf diese Weise kann auch die Arbeit am System, die Struktur- und Prozessgestaltung, betrieben werden. So dient beispielsweise das iterativ-inkrementelle Vorgehen seit jeher als Grundlage für das Konzept der kontinuierlichen Prozessverbesserung (KVP) und ist fester Bestandteil der Kaizen-Philosophie (vgl. Kapitel 2.3).82
„[N]iemand sollte [jedoch] kleinschrittige Entwicklungsprozesse mit kleinteiligem Denken verwechseln. Das von ELON MUSK gegründete Raumfahrtunternehmen SPACEX will mit agilen Innovationen so weit kommen, ab 2024 Menschen zum Mars transportieren zu können, um dort eine autarke Kolonie zu gründen.“83 Zwar weiß keiner bei SPACEX, wie das genau funktionieren soll, aber es gibt ein gemeinsames Verständnis, was die zentralen Hebel sind, an denen man ansetzen will. „Das ist agiles Arbeiten in der Praxis: große Ambitionen und schrittweiser Fortschritt.“84