Kitabı oku: «Besonderes Verwaltungsrecht», sayfa 55
b) Harmonisierung mitgliedstaatlicher Steuern
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Der AEUV stellt für eine Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Steuern, d.h. für eine Angleichung in bestimmten, vorgegebenen Korridoren, in Art. 113 für indirekte Steuern und Art. 114 i.V.m. 115 Abs. 2 AEUV für die direkten Steuern entsprechende Werkzeuge bereit[1192]. Steuerharmonisierung ist nicht Selbstzweck, sie ist in die „Hilfs- und Ergänzungsfunktion“ der gesamten Steuerpolitik der Union in Bezug auf die ausdrücklich im Vertrag geregelten Politiken, namentlich der (steuerlichen) Wettbewerbsgleichheit und der Verwirklichung des Binnenmarktes, einzuordnen[1193]. Ein umfassender Harmonisierungsauftrag lässt sich allenfalls für den Bereich der indirekten Steuer herleiten[1194], für das Gebiet der direkten Steuern kann nur auf eine Rechtsangleichung hingearbeitet werden[1195]. Dies ist Ausfluss der wegen der Preiswirksamkeit größeren Binnenmarktrelevanz der indirekten Steuern[1196]. Jeweils stehen entsprechende Richtlinien unter dem Gebot des Einstimmigkeitsprinzips bei der Beschlussfassung des Rates, die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ haben insofern das Heft nicht aus der Hand gegeben.
aa) Harmonisierung der indirekten Steuern
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Art. 113 AEUV gibt dem Rat die Befugnis „Bestimmungen zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern, die Verbrauchsabgaben und sonstige indirekte Steuern“ zu erlassen. Bedingung für eine Harmonisierung ist allerdings deren Notwendigkeit für die Erreichung und das Funktionieren des Binnenmarktes und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen. Die letztgenannte Voraussetzung ist mit dem Lissabon Vertrag neu eingefügt worden, und auch wenn mit dieser Formulierung bzgl. der Harmonisierungsanforderungen keine wesentliche inhaltliche Änderung verbunden ist[1197], dient sie als Beleg dafür, dass die Bedingungen für eine Harmonisierung sich mit der Vertragsänderung nicht vereinfachen sollen. Im Bereich der indirekten Steuern waren die Harmonisierungsbemühungen der Kommission erfolgreich, eine Vielzahl von Steuerarten wurde bereits durch EU Richtlinien vereinheitlicht. Zu nennen sind die Umsatz- bzw. Mehrwertsteuer[1198], die besonderen Verbrauchsteuern für Mineralöl[1199], Alkoholische Getränke[1200] und Tabakwaren[1201], die Gesellschafts- und Börsenumsatzsteuer[1202], die Kraftfahrzeugsteuer[1203] sowie die Versicherungsteuer[1204]. In Diskussion ist seit längerem die Einführung einer Finanztransaktionssteuer[1205]. Dass mit diesen Sekundärrechtsakten eine optimale Binnenmarktkonformität erreicht ist, wird nicht einmal von Optimisten behauptet. Beim unionalen Umsatzsteuersystem soll es sich um eine vorläufige Regelung handeln – ob die politische Kraft und der Wille bestehen, hier die Missstände abzubauen, erscheint jedoch fraglich.
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Nach wie vor besteht für den Erlass von Richtlinien zur Harmonisierung indirekter Steuern das Einstimmigkeitsprinzip im Rat. Entgegen der Bestrebungen der Kommission erfolgte auch mit den Änderungen durch die Lissabon-Reform keine Einführung einer Beschlussfassung im Wege der qualifizierten Mehrheit. Insofern setzten sich die Mitgliedstaaten mit ihrem Interesse an der Wahrung möglichst weitreichender Steuerkompetenzen durch.
bb) Harmonisierung direkter Steuern
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Für die Harmonisierung der direkten Steuern ist Art. 113 AEUV nicht anwendbar; an seine Stelle tritt die allgemeine Harmonisierungsgrundlage des Art. 115 (i.V.m. Art. 114 Abs. 2) AEUV. Auf diese allgemeine Rechtsangleichungsvorschrift wird in Ermangelung einer lex specialis zur Harmonisierung direkter Steuern zurückgegriffen. Danach erlässt der Rat „einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses Richtlinien für die Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes auswirken“. Die Harmonisierung in diesem Bereich ist bisher wenig vorangeschritten, es sind nur marginale Erfolge vorzuweisen: Lediglich Teile im Bereich der Unternehmensbesteuerung wurden punktuell angeglichen. Zu nennen sind an dieser Stelle die „Fusionsrichtlinie“[1206], die „Mutter-Tochter-Richtlinie“[1207], die Zinsrichtlinie[1208] sowie die EU Schiedsverfahrenskonvention[1209]. Eine Reihe von Anstrengungen, weitere Fortschritte zu erzielen, liefen bisher leer[1210]. Insbesondere das Erfordernis einer einstimmigen Beschlussfassung hat sich als Hemmnis für eine erfolgreiche Harmonisierung dieses Gebiets erwiesen[1211].
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Auch im Steuerverfahrensrecht sind Sekundärrechtsakte zu erwähnen: Die Amtshilferichtlinie regelt den Austausch von Daten mit Relevanz für die Steuererhebung[1212]. Die Beitreibungsrichtlinie dient der grenzüberschreitenden Vollstreckung abgabenrechtlicher Ansprüche[1213].
2. Einwirkungen der Grundfreiheiten
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Auf Grund der limitieren sekundärrechtlichen Möglichkeiten zur Harmonisierung des nationalen Steuerrechts der Mitgliedstaaten kommt den primärrechtlichen Grundfreiheiten eine kaum zu überschätzende Funktion zu[1214]. Der EuGH hat den Grundfreiheiten unmittelbare innerstaatliche Wirksamkeit zuerkannt, auch müssen nach ständiger Rechtsprechung die Mitgliedstaaten insbesondere auf dem Gebiet der direkten Steuern ungeachtet ihrer eigenen Steuersouveränität die Grundfreiheiten beachten, die somit für das nationale Steuerrecht eine verbindliche Messlatte darstellen[1215]. Grundlegend ist hier die viel zitierte Formel aus dem Urteil Schumacker, hier führt der EuGH aus: „Zwar [fällt] der Bereich der direkten Steuern als solcher beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft […], [jedoch müssen] die Mitgliedstaaten die ihnen verbliebenen Befugnisse […] unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben“[1216].
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Die Grundfreiheiten gelten als grundrechtsgleiche Rechte, die innerstaatliches (Steuer-) Recht verdrängen und vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können[1217]. Freilich bedürfen sie jedoch nur dann Beachtung, wenn der (Steuer-)Sachverhalt einen grenzüberschreitenden Bezug hat. Das Konfliktpotential von Grundfreiheiten und nationalem Steuerrecht liegt auf der Hand, viele hergebrachte Steuerquellen knüpfen an Vorgänge an, die den Tatbestand einer grundfreiheitlich geschützten Tätigkeit erfüllen, sei es der Verkauf von Waren, das Erbringen von Dienstleistungen, der Besitz von Kapital, der Bezug von Kapitalbeträgen oder das Einkommen aus selbstständiger oder unselbstständiger Arbeit[1218].
Wenn auch auf Grundlage der Grundfreiheiten keine eigenständigen Steuerregelungen normiert werden können, strahlen sie dennoch auf jede nationale Steuerrechtsordnung aus, so dass diese eine europarechtliche Dimension enthalten[1219]. Konkret besteht eine Beseitigungspflicht von steuerlichen Regelungen, die als nicht gerechtfertigte Diskriminierungen oder Beschränkungen gegen die Grundfreiheiten verstoßen. Auf diesem Wege lässt sich eine „negative Integration“ des Binnenmarktes vornehmen[1220], die aufgrund der Zurückhaltung des Rates bei der direkten Rechtsangleichung und bedingt durch die unmittelbare Wirkung der Grundfreiheiten wahrscheinlich das für den Bürger wichtigste Instrument der Harmonisierung darstellt[1221]. Tatsächlich haben sich die nationalen Steuerrechtsordnungen bedingt durch die Interpretation und Anwendung der Grundfreiheiten durch den EuGH schon relevant angenähert[1222].
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Die Funktion der Grundfreiheiten besteht darin, eine Durchsetzung des Ziels der Errichtung des Binnenmarktes zu forcieren und dessen Funktionsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Insofern wird durch die Garantien der Grundfreiheiten Hindernissen für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr entgegengewirkt, indem nationale Regelungen, welche der Entwicklung zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum entgegen stehen, als inkompatibel aufgedeckt und beseitigt werden können[1223]. Sämtliche Grundfreiheiten knüpfen an eine grenzüberschreitende Tätigkeit an bzw. schützen eine solche vor ungerechtfertigten Beschränkungen und gemeinschaftswidrigen Differenzierungen. Auch nationale Steuerrechtsnormen dürfen nicht gegen die einzelnen Grundfreiheiten, etwa durch eine Differenzierung nach rein nationalen gegenüber grenzüberschreitenden Sachverhalten, verstoßen, andernfalls besteht eine Beseitigungspflicht für den Mitgliedstaat.
Die Grundfreiheiten enthalten sowohl gleichheitsrechtliche Diskriminierungsverbote, als auch freiheitsrechtliche Beschränkungsverbote[1224]. Beide Aspekte entfalten auch Wirkung in Bezug auf das Steuerrecht.
a) Grundfreiheitliches Diskriminierungsverbot
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Die Grundfreiheiten, wie auch das subsidiäre allgemeine Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV verbieten nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Im Fokus stehen hier staatliche Regelungen, die entweder eine offene bzw. unmittelbare, oder aber eine verdeckte bzw. mittelbare Diskriminierung enthalten[1225]. Während der erstgenannte Fall ebenso leicht aufzeigbar wie selten auffindbar sein wird – hier wird die Ungleichbehandlung direkt an die Staatsangehörigkeit des Steuerpflichtigen geknüpft – bringt die Identifizierung versteckter Diskriminierungen mehr praktische Schwierigkeiten und eine weitaus größere Bedeutung für das Steuerrecht mit sich[1226]. Differenzierungskriterium ist hier nicht die Nationalität, sondern ein anderes Merkmal, welches zu dem selben oder zumindest ganz ähnlichen Ergebnis wie eine Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit führt[1227]. In Betracht kommt etwa die Anknüpfung an den Wohnsitz, den gewöhnlichen Aufenthalt, die Geschäftsstelle, den Unternehmenssitz oder die Betriebstätte[1228]. Jeweils gilt es freilich, der hergebrachten Grundfreiheits- und Diskriminierungsdogmatik entsprechend, eine objektiv vergleichbare Situation der als ungleich bzw. eine unterschiedliche Situation der als gleich behandelt bemängelten Konstellationen, aufzuzeigen[1229].
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Konsequenz des Diskriminierungsverbotes ist die sog. Inländergleichbehandlung[1230]. EU-Ausländer können die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen des in Rede stehenden Mitgliedstaates verlangen. Es wird aber eben keine Harmonisierung der Steuersysteme sämtlicher Mitgliedstaaten gefordert, eine Gleichbehandlung von Inländern und EU-Ausländern kann bzw. muss immer nur innerhalb des einzelstaatlichen Steuerrechts erfolgen. Man spricht insofern anschaulich von einer „Kästchengleichheit“[1231], das Recht der direkten Steuern bleibt also ungeachtet der grundfreiheitlichen und damit europarechtlichen Einwirkungen im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten. Umgekehrt liegt dort, wo eine Ungleichbehandlung die bloße Folge einer fehlenden Harmonisierung und der unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Besteuerungssysteme ist, niemals eine grundfreiheitsrelevante Diskriminierung vor.
b) Grundfreiheitliche Beschränkungsverbote
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Seit der Daily Mail-Entscheidung steht fest, dass der EuGH in den Grundfreiheiten auch Beschränkungsverbote sieht[1232]. Unter den Begriff der Beschränkung fallen jegliche Maßnahmen, die eine freie wirtschaftliche Betätigung verhindern, erschweren oder weniger attraktiv machen (können)[1233]. Die Relevanz dieser Rechtsprechung für das nationale Steuerrecht liegt auf der Hand: Eine Steuernorm, welche zwar unterschiedslos, aber dennoch benachteiligend wirkt, mag zwar keine Diskriminierung aufweisen, verstößt aber gegen das grundfreiheitliche Beschränkungsverbot[1234]. An dieser Stelle spricht man den Grundfreiheiten eine doppelte Richtung zu: Es wird zum einen der Inländer, der einen Zugang zum Auslandsmarkt anstrebt, vor diesem Anliegen entgegenwirkenden inländischen Regelungen geschützt, zum anderen wird auch der Ausländer, der einen Zugang in das EU-Inland anstrebt, von der Schutzwirkung der Grundfreiheiten erfasst[1235]. Es werden mithin Aufnahme-/Zuzugsstaat wie auch Herkunfts-/Wegzugsstaat gebunden[1236]. Die EuGH Spruchpraxis ist insofern extensiv, in jeder Regelung des Steuerrechts, die aktuell oder auch nur potenziell dazu geeignet ist, den Adressaten von einer der geschützten Tätigkeiten mit grenzüberschreitendem Bezug abzuhalten, oder diese für ihn weniger attraktiv zu machen, wird bereits eine Beschränkung der Grundfreiheiten, also ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die selbige gesehen[1237]. Entscheidend ist, ob der Marktzutritt durch die steuerliche Regelung substanziell beschränkt wird[1238].
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Auch im Bereich der Grundfreiheits-Beschränkungen gilt es sich stets des Umstands bewusst zu sein, dass durch den AEUV gerade keine Harmonisierung der direkten Steuern erfolgen soll, weshalb die bestehenden Unterschiede in den Besteuerungssystemen der Mitgliedstaaten hinzunehmen sind, auch wenn sie die Auswirkungen von Beschränkungen haben mögen[1239]. Die Vielzahl der unterschiedlichen Steuersysteme und hiermit verbundenen Rahmenbedingungen für Steuerpflichtige muss mangels eines Harmonisierungsauftrages des Europarechts hingenommen werden und ist nicht als rechtfertigungsbedürftige Beschränkung von Grundfreiheiten zu interpretieren. Diesem Umstand scheint der EuGH vermehrt Rechnung zu tragen, indem er zwar von einer Beschränkung spricht, letztendlich jedoch nur prüft, ob eine Diskriminierung vorliegt[1240].
c) Rechtfertigung von Diskriminierung oder Beschränkung
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Die allgemeine Grundfreiheitsdogmatik und -prüfung umfasst stets als letzten Schritt und Korrektiv eine Rechtfertigungsprüfung. Während offene Diskriminierungen eines ausdrücklichen, also im AEUV niedergeschriebenen Rechtfertigungsgrundes bedürfen, können verdeckte Diskriminierungen wie auch Beschränkungen der Grundfreiheiten ebenso durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden[1241]. Als Schranken-Schranke fungiert wiederum das Verhältnismäßigkeitsprinzip[1242].
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Für das Steuerrecht hat der EuGH verschiedene ungeschriebene Rechtfertigungsgründe als „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ anerkannt. Hierunter fallen die Verhinderung von Steuerumgehungen und -hinterziehungen[1243], eine wirksame Steuerkontrolle bzw. Steueraufsicht[1244], Gründe der Kohärenz mit der nationalen Steuerrechtsordnung[1245] sowie die Gefahr eines doppelten Abzugs und die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis[1246].
Ausdrücklich nicht als Rechtfertigungsgrund anerkannt wurden hingegen fiskalische Erwägungen wie drohende Steuerausfälle[1247], ein Nachteilsausgleich für Gebietsfremde durch Vorteile an anderer Stelle[1248], verwaltungstechnische Gründe wie Erschwernisse des Steuervollzugs bei grenzüberschreitenden Sachverhalten[1249], wirtschaftspolitische Gründe, etwa die intendierte Förderung der nationalen Wirtschaft durch lenkende Steuervergünstigungen[1250], der (geringe) Umfang der Benachteiligung[1251] sowie die fehlende Harmonisierung und der Verweis auf Doppelbesteuerungsabkommen[1252].
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Das stets zu berücksichtigende Verhältnismäßigkeitsprinzip erfordert nun die Eignung und Erforderlichkeit der Maßnahme zur Erreichung des Zieles der Beschränkung bzw. Diskriminierung. Im Gegensatz zu der aus dem deutschen Kontext bekannten Praxis wird eine Angemessenheit bzw. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne vom EuGH zumindest nicht explizit geprüft[1253], ansonsten erfolgt die Prüfung in Bezug auf die Grundfreiheiten wie aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannt, inklusive einer Interessenabwägung im Einzelfall.
d) Interpretation durch den EuGH
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Der Interpretation der Rechtfertigungsgründe durch den EuGH kommt für das tatsächliche Verhältnis der Grundfreiheiten zu dem souveränitätssensiblen Gebiet des nationalen Steuerrechts entscheidende Bedeutung zu. Lange wurde insofern eine zunehmende Einflussnahme des Gerichtshofs beobachtet und gar eine Kompetenzüberschreitung und schleichende bzw. „negative“[1254] Harmonisierung der nationalen Steuersysteme durch den EuGH kritisiert[1255], der ein „Einfallstor für die Europäisierung des Steuerrechts“ schaffe[1256]. Die fehlende europäische Kompetenz auf dem Gebiet der direkten Steuern dürfe nicht durch ein extensives Grundfreiheitsverständnis und eine konturenlose Auslegung und Anwendung umgangen werden[1257]. Kritisch aufgenommen wurden insbesondere die Häufigkeit der Heranziehung der Grundfreiheiten und die oftmalige Feststellung ungerechtfertigter Verstöße[1258]. Während dem europäischen Gerichtshof allerdings kein Vorwurf gemacht werden kann[1259], wenn er nationale Steuerrechtsordnungen tatbestandlich an den Grundfreiheiten prüft, konzentriert sich die Frage der Kompetenzüberschreitung auf die konkrete Ausgestaltung der Rechtfertigungsprüfung.
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Waren die hergebrachten Rechtfertigungsgründe lange einer eher restriktiven Interpretation des EuGH ausgesetzt, ist in der jüngeren Vergangenheit ein Wandel dieses Bildes zu verzeichnen[1260]. So wurden zum Teil länger anerkannte Rechtfertigungsgründe großzügiger interpretiert und zusätzliche, neue Rechtfertigungsgründe akzeptiert. Der Grund der Effizienz der Steuerbeitreibung wurde erst 2006 in der Scorpio-Entscheidung[1261] höchstrichterlich anerkannt, die Vermeidung mehrfacher Verlustnutzung erstmals mit den Rechtssachen Marks&Spencer[1262], Oy AA[1263] und Lidl Belgium[1264] aus dem Jahr 2005. Diese Verfahren leiteten auch eine großzügigere und somit mitgliedstaatsfreundliche Interpretation der Rechtfertigungsgründe der Wahrung der ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, der Gewährleistung wirksamer Steueraufsicht sowie der Kohärenz ein[1265]. Als Wendepunkt anzuführen ist insofern insbesondere das obiter dictum im Urteil Lidl Belgium, in welchem die mitgliedstaatliche Steuersouveränität ausdrücklich anerkannt und die extensive Interpretation der Grundfreiheiten infolgedessen eingedämmt wird[1266]. Die jüngere Entwicklung wird weithin als Zugehen des Gerichtshofs auf die Mitgliedstaaten, Respektierung der originären nationalen Steuerhoheit und Forcierung eines Interessensausgleichs und Vertrauens- wie auch Verständnisaufbaus begrüßt[1267].
3. Einwirkungen des Beihilfenregimes
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Art. 107 Abs. 1 AEUV erklärt „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, … soweit sie den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinflussen“ als mit dem Binnenmarkt unvereinbar. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH wird der Beihilfebegriff sehr weit verstanden, aus der Formulierung „Beihilfen gleich welcher Art“ wird gefolgert, dass nicht nur positive Leistungen des Staates, sondern ebenso Maßnahmen, welche die Belastungen verringern, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat, Gegenstand der Beihilfenkontrolle sein können[1268]. In jüngerer Zeit wird berechtigte Kritik an einer zu extensiven Interpretation geübt[1269]. Die Befreiungen von Steuern oder Abgaben, sog. Verschonungssubventionen gelten als klassischer Anwendungsfall dieser Rechtsprechung und sind dem Grunde nach von Art. 107 Abs. 1 AEUV erfasst[1270].
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Die in der Praxis behandelten Fallkonstellationen befassen sich durchweg mit steuerlichen Maßnahmen, aber auch eine Gebührenordnung war bereits Gegenstand einer Entscheidung des EuG[1271] sowie EuGH[1272]. Nach ständiger Rechtsprechung ist freilich bei der Überprüfung der Beihilfeneigenschaft nicht nach der Rechtsform der konkreten Begünstigung zu unterscheiden[1273], vielmehr ist erneut die offene Formulierung in Art. 107 Abs. 1 AEUV, in welchem von „Beihilfen gleich welcher Art“ die Rede ist, zu berücksichtigen. Die das Unionsrecht insgesamt prägende funktionale Betrachtung setzt sich auch hier durch, so dass der Wirkung, nicht der Form der konkreten Maßnahme entscheidende Bedeutung zukommt. Dadurch bleibt die Beihilfenkontrolle unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des nationalen Steuer- und Abgabensystems. Umgekehrt soll es den Mitgliedstaaten nicht möglich sein, durch die Wahl einer bestimmten, ungewöhnlichen Abgabenform das Beihilfeverbot zu umgehen[1274]. Konsequenterweise können somit grundsätzlich jegliche Formen von Abgaben, die das deutsche Recht kennt, unter Art. 107 Abs. 1 AEUV fallen, es bestehen keine Unterschiede in der europarechtlichen bzw. beihilferechtlichen Beurteilung von Steuern und anderweitigen Abgaben.
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Entscheidendes Kriterium in Steuer- und Abgabenfällen ist die „Selektivität“. Wie Art. 107 Abs. 1 AEUV formuliert, muss die Beihilfe „bestimmte[r] Unternehmen oder Produktionszweige“ begünstigen. Solange also eine Maßnahme auf „alle Unternehmen oder Produktionszweige, die sich in einer im Hinblick auf das verfolgte Ziel vergleichbaren rechtlichen oder tatsächlichen Situation“ befinden, anwendbar ist, wird sie nicht als bestimmt gewertet und stellt somit keine Beihilfe dar[1275]. Dementsprechend ist die Maßnahme selektiv, sobald solche Unternehmen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, unterschiedlich behandelt werden. Nach der jüngeren Rechtsprechung und der Mitteilung der Kommission zum Beihilfebegriff[1276] ist im Rahmen dieses Tatbestandmerkmals zumindest in Steuerfällen eine insgesamt dreistufige Prüfung[1277] vorzunehmen: Zunächst gilt es, eine allgemeine Regelung, von der die untersuchte Maßnahme möglicherweise abweicht, zu identifizieren. Als nächster Schritt wird das Vorliegen einer Ungleichbehandlung von Unternehmen in einer im Hinblick auf das verfolgte Ziel vergleichbaren Situation untersucht. Schließlich erfolgt als drittes, gleichsam als Korrektiv eine Prüfung, ob nicht eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung durch die Logik des Systems vorliegt[1278]. Denn eine solche Maßnahme ist nicht selektiv.[1279]
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Zunächst bedarf es somit zur beihilferechtlichen Beurteilung einer steuerlichen Maßnahme der Feststellung des steuerlichen Normalfalles (der sog. Referenzregelung)[1280]. Maßgeblicher Bezugspunkt ist einzig das in Rede stehende Regelungswerk, der EuGH hat insofern klargestellt, dass der wirtschaftliche Vorteil stets nach einem „Bezugspunkt in einem gegebenen rechtlichen System“ zu bestimmen sei, damit es nicht zu einem Vergleich von aufgrund fehlender steuerrechtlicher Harmonisierung auf Unionsebene bestehenden, unterschiedlichen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen komme[1281]. Daraus folgt, wie der EuGH jünst klarstellte, dass zur Bildung des Referenzsystems nicht einfach einzelne Regelungen künstlich aus einem breiteren Rahmen herausgelöst werden dürfen[1282]. Bei bestehender europäischer Harmonisierung kann die Referenzregelung zudem auch aus dem Europarecht selbst entnommen werden[1283]. Seit dem Urteil des EuGH im sog. Azoren-Fall steht auch außer Frage, dass Anknüpfungspunkt für die Bewertung einer Steuerbefreiung in einem autonomen Gebiet nur das allgemeine Steuersystem dieses Gebietes und nicht etwa das Steuerregime des gesamten Mitgliedstaates zu sein hat[1284]. Geht es um die Benutzung einer bestimmten Einrichtung, kann die Referenzregelung sogar nur so groß sein, wie es die gegenwärtigen und potenziellen Nutzer dieser Einrichtung erlauben[1285].
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Als zweiter Schritt gilt es zu ermitteln, ob der steuerliche Ausnahmetatbestand bestimmte Unternehmen im Vergleich zu anderen Unternehmen, die sich im Hinblick auf das von dieser Regelung verfolgte Ziel in einer tatsächlich und rechtlich vergleichbaren Situation befinden, besserstellt. Nicht entscheidend ist, dass die Privilegierten eine in sich geschlossene Gruppe, die sich nach einem wie auch immer gearteten Kriterium abgrenzen lässt, darstellen[1286]. In einer jüngeren Entscheidung hat der EuGH zudem darauf hingewiesen, dass die Bestimmung der Bemessungsgrundlage sowie die Verteilung der Steuerbelastung unter die Steueratonomie der Mitgliedstaaten falle, sodass diesen ein Ermessensspielraum zustehe, der nur begrenzt vom EuGH überprüft werden könne[1287]. Die ausdrückliche Betonung der Steuerhoheit der Mitgliedstaaten und die damit einhergehende Zurückhaltung des EuGH wird von der Literatur durchweg begrüßt[1288].
An dieser Stelle muss das Ziel des zu untersuchenden Ausnahmetatbestands identifiziert werden. Zu bedenken ist allerdings, dass die von der in Frage stehenden Maßnahme verfolgten Ziele als solche für deren rechtliche Beurteilung nicht von Bedeutung sind[1289]. Selbst begrüßenswerte sozialpolitische oder umweltpolitische Motivation kann somit einer die Merkmale des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllenden Maßnahme nicht ihren beihilferechtlichen Makel nehmen. In diesem Kontext sei besonders auf das Urteil des EuGH in der Rechtsmittelsache British Aggregates hingewiesen[1290]. Hier hebt der Gerichtshof erneut ausdrücklich hervor, dass „staatliche Maßnahmen […] nicht nach den Gründen oder Zielen, sondern einzig und allein nach ihren Wirkungen“ zu beurteilen seien[1291]. Die Verfolgung von Umweltschutzzielen rechtfertige es nicht, wettbewerbsverzerrende staatliche Maßnahmen dem Verbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV zu entziehen.
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Als Korrektiv wird in einem dritten Schritt der Selektivitätsprüfung abschließend das mögliche Vorliegen einer Rechtfertigung der Ungleichbehandlung durch das Wesen bzw. die allgemeinen Struktur des Steuersystems untersucht[1292]. Die Beweislast liegt diesbezüglich beim Rechtfertigungsgründe anführenden Mitgliedstaat[1293]. Während der EuGH in der Verfolgung systemimmanenter Ziele, wie z.B. dem Grundsatz der Steuerneutralität, der Steuerprogression[1294] oder der Umverteilungslogik[1295], stets einen Rechtfertigungsgrund sieht, ist die Behandlung von externen, dem Regelungswerk zugewiesenen Zielen nach dem EuGH und der Kommission abzulehnen[1296]. Gerechtfertigt sind nach der Bekanntmachung der Kommission zum Beihilfenbegriff auch Maßnahmen zur Bekämpfung von Betrug oder Steuerhinterziehung, Maßnahmen die sich aus der Notwendigkeit der Beachtung besonderer Rechnungslegungsvorschriften ergeben aber auch Maßnahmen mit dem Ziel der bestmöglichen Einziehung von Steuerschulden[1297].
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Die Zahl der auf Art. 107 AEUV gestützten abgabenrechtlichen Judikate nahm erst im Zuge der Debatte des Ministerrates für Wirtschafts- und Finanzfragen vom 1. Dezember 1997 und dem in diesem Zusammenhang aufgestellten Verhaltenskodex zur Bekämpfung des schädlichen Steuerwettbewerbs[1298] deutlich zu[1299]. Durch den Kodex wurde eine Verbindung zwischen schädlichem Steuerwettbewerb und Beihilferegelwerk hergestellt. Anlass zu dieser Initiative hatte die zunehmende Praxis von „Steueroasen“ gegeben, durch die grenzüberschreitende Investitionen angezogen werden sollten[1300]. Zwar steht außer Frage, dass ein Wettbewerb grundsätzlich wünschens- und erstrebenswert ist, allerdings geht es der Initiative um die Bekämpfung einzelner Praktiken, die darin bestehen, dass ein Mitgliedstaat durch ungerechtfertigte steuerliche Vergünstigungen die Attraktivität eines bestimmten Standortes für internationale Investoren zu steigern versucht[1301]. Negative Folgen solcher Vorgehensweise sind eine Kettenrektion und ein Verdrängungswettbewerb, die Gefahr eines „race to the bottom“ zwischen den Mitgliedstaaten. Dies könnte zu einer Erosion des staatlichen Steuersubstrats führen – wobei freilich die Finanzwissenschaften über einen derartigen Befund uneins sind[1302]. Zudem kommen in der Regel nur einzelne Unternehmen, Branchen oder ausländische Investoren in den Genuss der Steuervorteile, d.h. Wettbewerbsverzerrungen sind vorprogrammiert[1303]. Daher setzte sich die gemeinsame Auffassung durch, dass es einer bestmöglichen Kontrolle des schädlichen Steuerwettbewerbes bedarf. Ziel ist es nicht, den System- und Preiswettbewerb zu bekämpfen oder einheitliche, harmonisierte Steuersätze zu schaffen, vielmehr soll der lautere und gesunde Wettbewerb gesichert werden[1304]. Konsequenz dessen war eine strengere Haltung der Kommission unter dem seinerzeitigen Wettbewerbs-Kommissar Mario Monti gegenüber steuerlichen Beihilfen bei der direkten Besteuerung; Steuervergünstigungen gelangten mehr und mehr in den Fokus der Beihilfenkontrolle[1305].
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Während eine Harmonisierung auf dem im Vertrag vorgesehenen Weg[1306] nicht zuletzt aufgrund der strengen Einstimmigkeitserfordernisse „sanft“ und konsensual erfolgt, bietet das Beihilferecht – ähnlich wie die Anwendung der Grundfreiheiten – der Kommission eine effektive Möglichkeit, auf nationale Abgabenregelungen unmittelbaren Einfluss zu nehmen. Wenn ein Verstoß gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV festgestellt wird, beschließt die Kommission gemäß Art. 108 Abs. 2 AEUV, dass der jeweilige Mitgliedstaat binnen einer festzulegenden Frist die Regelung aufzuheben oder umzugestalten hat[1307]. Rückwirkend sind sämtliche Auswirkungen der Beihilfeauszahlung bzw. Abgabenbefreiung zu beseitigen, der gewährte Betrag ist samt Zinsen zurückzufordern. Die Brisanz einer solchen Entscheidung liegt auf der Hand, eine Abgabenregelung nachträglich zu verwerfen kann zu tiefgreifenden Eingriffen in das Steuer- und Abgabenrecht eines Mitgliedstaates führen, ungeachtet der mitgliedstaatlichen Vorbehalte und der fehlenden Harmonisierung in diesem Bereich. Hinzu kommen praktische Herausforderungen, denn die Rückforderung der Beihilfe vom Empfänger bzw. Begünstigten hat der Mitgliedstaat nach nationalem Verfahrensrecht – unter Berücksichtigung des effet utile – eigenständig durchzuführen[1308].