Kitabı oku: «Christlich-soziale Signaturen», sayfa 2
Marktwirtschaft und Eigentum
Als Einheit wollen die vier Prinzipien dem einzelnen Menschen und seinem konkreten Handeln allgemeine Bezugspunkte für die Strukturierung und Gestaltung des sozialen Lebens anbieten. Ein wesentlicher Teil des sozialen Lebens bildet die Wirtschaft, vielfach wird seit dem Boom der neoklassischen Volkswirtschaft und ihren Axiomen für die Wirtschaftspolitik sogar vom „Primat der Wirtschaft“ in der Gesellschaft gesprochen. Für die Soziallehre gilt hingegen, dass die Wirtschaft lediglich ein Teilsystem der menschlichen Gesellschaft ist. Die Soziallehre leitet aus dem Gemeinwohlprinzip die allgemeine Bestimmung der Erdengüter ab, wodurch die Wirtschaft an moralische Werte und Normen gekoppelt wird. Das Recht auf Privateigentum – in der christlichen Überlieferung nie als absolut verstanden – bildet einen entscheidenden Teil einer demokratischen und sozialen Wirtschaftspolitik. Die Soziallehre fordert von der Wirtschaftspolitik, dass sie den Besitz von Gütern allen Menschen gleichermaßen zugänglich macht. Jeder Mensch hat das Recht, Eigentum zu erwerben und zu erarbeiten; die Soziallehre hat damit die Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand vorgedacht. Lange bevor das aus den USA importierte Auszahlen von Aktien an Mitarbeiter auch im deutschen Sprachraum üblich wurde, hat die Soziale Marktwirtschaft damit bereits die Vision eines „Volks von Eigentümern“ entwickelt und umgesetzt.
Trotz dieser integrativen Kraft und vieler sozialpolitischer Meilensteine gab und gibt es seit Beginn der Zweiten Republik immer auch das Mantra einer vermeintlichen Wirtschaftslastigkeit der Volkspartei. Diese zyklisch wiederkehrenden, aber ungerechtfertigten Vorwürfe verblassen im Lichte des reformatorischen und offenen Charakters der katholischen Soziallehre. Die Soziallehre bejaht das kapitalistische System, weiß aber um die Gefahren und die Fehlbarkeit der Marktteilnehmerinnen und Marktteilnehmer. Die Soziallehre formuliert in ihren Werken also eine konsequente innerkapitalistische Verbesserungsarbeit. Dazu gehört, dass sie die divergierenden Interessen von Kapital und Arbeitnehmern austariert und nachhaltige Wirtschaftspolitik dafür den ordnungspolitischen Rahmen bereitstellen muss. Mit strengen Kartellrechten und entschiedener Privatisierungspolitik ist aktiv gegen Marktverkrustungen, Kartellbildungen, Preisabsprachen und De-facto-Monopolbildungen vorzugehen. Soziale Marktwirtschaft heißt, durch leistbare Ausbildung jedem Menschen die Teilnahme am freien Wettbewerb zu ermöglichen. Der Bevorzugung einzelner Bevölkerungsschichten und der wirtschaftlichen Machtkonzentration einiger weniger – wie beispielsweise einst des Adels – muss der Staat mit angemessenen Kontrollmechanismen entgegenwirken. Soziales Wirtschaften ist immer notwendigerweise eine partizipative Wirtschaftsordnung, die die vielfältigen Interessenlagen der Bürger in mehr als die Summe der Einzelteile verwandelt: Jeder und jede hat das Recht, nach Glück zu streben, um seine oder ihre Persönlichkeit optimal zum Wohle der Gemeinschaft zu entfalten.
Am Beispiel aktueller Diskussionen rund um Arbeit und soziale Sicherungssysteme will ich abschließend noch konkreter ausführen, was diese Grundsätze für ein konkretes Politikfeld bedeuten können.
Arbeit und Menschenwürde
Die Mehrzahl der Interpretinnen und Interpreten der katholischen Soziallehre sieht in der Arbeit ein zentrales Element für ein Leben in Würde. Theologen sehen Arbeit auch als göttlichen Auftrag, ausgehend von der Aufforderung „Macht euch die Erde untertan“ (Gen 1,27). Der Benediktinerpater Anselm Grün formuliert es, ausgehend von den Regula Benedicti, so: „Die Arbeit ist der Ort, an dem wir Haltungen wie Demut, Hingabe, Liebe, Barmherzigkeit und Mitfühlen mit den Menschen lernen.“
Profan dokumentiert die berühmte Studie über die Arbeitslosen in Marienthal aus den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts die Auswirkungen langer Arbeitslosigkeit und kommt zum eindeutigen Schluss: Ein Leben ohne Arbeit führt zu passiver Resignation. Jedenfalls ist Arbeit mehr als nur ein Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts; Arbeit ist ein sinnstiftender Teil des Lebens, eine Quelle für Bestätigung und Anerkennung und ein Beitrag zur Entwicklung von Menschheit und Gesellschaft.
Zuwendung und Zutrauen
In diesem Sinne müssen soziale Sicherungssysteme das Ziel haben, den (Wieder-)Einstieg ins Arbeitsleben zu fördern und zu fordern. Christlich-soziale Politik setzt auf Hilfe zur Selbsthilfe – die Verbindung von gesellschaftlicher Solidarität mit persönlicher Verantwortung. Hilfe zur Selbsthilfe braucht Zuwendung und Zutrauen. Zuwendung zum Hilfesuchenden, Zuwendung zur Person mit ihren individuellen Sorgen, Hoffnungen und Bedürfnissen. Eine Zuwendung, die zu leisten nicht nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialorganisationen gefordert sind, sondern jede und jeder Einzelne von uns in unserer individuellen Verantwortung für die und den Nächsten und unser unmittelbares Umfeld. Zutrauen bedeutet die grundsätzliche positive Einstellung, dass jede und jeder Wille und Fähigkeiten hat, der Hilfsbedürftigkeit zu entkommen. Dies anzuerkennen ist eine notwendige Grundvoraussetzung für ein Sozialsystem, das die Menschen wirklich stärkt.
In diesen Grundsätzen zeigt sich deutlich der Unterschied zwischen Sozialismus und christlich-sozialem Menschenbild. Wohl mit Blick auf das Gleichnis von den Talenten schreibt Papst Leo XIII. in der bereits erwähnten Enzyklika „Rerum novarum“: „Mit dem Wegfalle des Spornes zu Strebsamkeit und Fleiß würden auch die Quellen des Wohlstandes versiegen. Aus der eingebildeten Gleichheit aller würde nichts anderes als der nämliche klägliche Zustand der Entwürdigung für alle.“ Christlich-soziale Politik gestaltet also soziale Sicherungssysteme in der Form, dass sie Chancen und Anreize bieten, die Hilfsbedürftigkeit rasch wieder überwinden zu können. Damit verbunden sind allerdings auch Pflichten in dem Sinn, dass jede und jeder auch selbst etwas dazu beitragen, dafür leisten muss – sei es persönliche Weiterbildung, das Erlernen der deutschen Sprache oder die ernsthafte Bereitschaft, Chancen auch tatsächlich wahrzunehmen.
Zutrauen – im Sinne von fordern und fördern – ist für mich überhaupt ein zentrales Element christlich-sozialer Politik; und in gewisser Weise die Zwillingsschwester der Freiheit. Nur wer den Menschen grundsätzlich Vertrauen und Zutrauen entgegenbringt, wird ihnen guten Gewissens auch ein hohes Maß an persönlicher Freiheit zugestehen. Freiheit wiederum ist ein Wert, der direkt aus dem christlich-sozialen Personalitätsprinzip folgt. Der Theologe und Philosoph Clemens Sedmak, Professor für Sozialethik an der University of Notre Dame (USA) und Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung in Salzburg formuliert es ganz klar: „Gott will freie Menschen und hat uns deswegen die Freiheit geschenkt.“ Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Präsident der Deutschen Bischofskonferenz, würdigt die Freiheit sogar in seinem Wahlspruch: „Ubi spiritus Domini ibi libertas“ („Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit“).
Freie und verantwortliche Menschen
Dieser Freiheitsgedanke christlich-sozialer Politik hat konkrete Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Mensch und Staat, und zwar mit dem Ergebnis, dass Entscheidungen von den möglichst kleinsten Einheiten getroffen werden sollen – von der oder dem Einzelnen, von der Familie, von der Gemeinschaft vor Ort. Das ist das christlich-soziale Subsidiaritätsprinzip. Die Freiheit, individuell Entscheidungen treffen zu können, findet konkreten Niederschlag in der Frage der Verfügungsgewalt über das eigene Einkommen. Staatsorientierte Ideologien fordern ein hohes Maß an Steuern, auf dass der Staat damit mache, was er für richtig für alle hält. Christlich-soziale Politik will den Menschen möglichst viel von ihrem Einkommen lassen und traut ihnen zu, eigenverantwortlich – aber auch in ihrer individuellen Verantwortung für die Gemeinschaft – Entscheidungen zu treffen.
Den Menschen weniger von ihrem verdienten Einkommen zu nehmen ist daher logischerweise ein ganz grundsätzlicher Zugang christlich-sozialer Politikerinnen und Politiker, ein inhärenter Bestandteil ihres politischen Selbstverständnisses. Das erklärt zum Beispiel den „Familienbonus plus“, der steuerliche Entlastung für Mütter und Väter bringt, die doppelt Verantwortung tragen und Leistung erbringen – nämlich im Job und in der Familie. Auch die weitere Entlastung durch die Senkung der Einkommensteuer und anderer lohnabhängiger Abgaben und Beiträge sowie insgesamt das Ziel der Senkung der Abgabenquote folgen diesem christlich-sozialen Politikverständnis.
Für mich ist das der Kern des christlich-sozialen Politikverständnisses: Den Menschen ökonomische Freiheit zugestehen und ihnen zutrauen, selbst die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Und ihnen auch zutrauen, ihre Verantwortung für die Gesellschaft selbst wahrzunehmen. Daraus ergibt sich mein persönliches Ideal einer Gesellschaft freier und verantwortlicher Menschen.
Literatur
Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt am Main 1976.
Grün, Anselm: Versäume nicht dein Leben, München 2017.
Jahoda, Marie / Lazarsfeld, Paul Felix / Zeisel, Hans: Die Arbeitslosen von Marienthal: ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, Frankfurt am Main 1975.
Meyer, Thomas: Theorie der sozialen Demokratie, Wiesbaden 2005 Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden: Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg im Breisgau 2006.
Pius XI: Enzyklika Quadragesimo anno: AAS 23, Rom 1931.
Sedmak, Clemens / Lackner, Franz: Kaum zu glauben. Annäherungen an Grundworte christlichen Lebens, Innsbruck 2018.
1Mock, Alois: Die EU war nie ein Paradies, in: Academia, Juni 2004, S. 8.
2Vgl. dazu Meyer, Thomas: Theorie der sozialen Demokratie, Wiesbaden 2005.
3Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 60.
4Vgl. dazu: Kompendium der Soziallehre der Kirche, S. 82 ff.
5Vgl. ebd. S. 131.
6Vgl. ebd. S. 132.
7Pius XI., Enzyklika Quadragesimo anno: AAS 23 (1931).
8Vgl. dazu: Kompendium der Soziallehre der Kirche, S. 147.
Werte, Demokratie und christlicher Glaube: ein praktisch-theologischer Zugang aus katholischer Sicht
Regina Polak
Welche christlichen Werte können einer lebendigen Demokratie heute weiterhelfen? Dieser Frage geht der folgende Beitrag aus einer praktisch-theologischen Perspektive in drei Schritten nach. Im ersten Schritt werden Problemstellungen, Kontext und Interessen rund um die Fragestellung skizziert. Der zweite Schritt entwickelt einen theologisch legitimen Begriff christlicher Werte und beschreibt deren Beitrag zur Demokratie. Im dritten Schritt werden exemplarisch anhand dreier demokratischer Werte – Würde, Pluralität, Gerechtigkeit – bibeltheologische Beiträge identifiziert. Das Ziel des Beitrags besteht darin, fragmentarisch für die Komplexität der Fragestellung zu sensibilisieren und erhebt keinen Anspruch auf eine umfassende Klärung. Vielmehr sollen kriteriologische Weichen für weiterführende Diskurse gestellt werden.
Problemstellungen, Kontext und Interessen
Vom Problem christlicher Werte
Der Wertebegriff 1 entstammt ursprünglich nicht der Welt der Religionen, sondern der Ökonomie. Werte sind in diesem Kontext quantitativ messbare Größen, die sich im Rahmen von Tauschverhältnissen ergeben. In der Philosophie taucht der Wertebegriff erst im 19. Jahrhundert auf. Eine Schlüsselrolle spielt Friedrich Nietzsche. Im Kontext seiner Moral-, Ethik- und Kulturkritik konstatiert er einen in Europa fortschreitenden Prozess einer „Entwertung der obersten Werte“2: den Nihilismus. Dieser führt zu einem radikalen Verlust des Vertrauens in eine absolute Instanz, die für eine universale Gültigkeit ethischer Prinzipien bürgt. Im Bild vom „Tod Gottes“ wird diese Erfahrung zum Ausdruck gebracht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in der Philosophie dann darüber diskutiert, ob Werte vom Menschen unabhängig „an sich“ existieren („Wertobjektivismus“) oder nur subjektiv für jemanden gelten („Wertsubjektivismus“).
Theologie, Philosophie und Ethik begegnen dem Wertebegriff aufgrund dieser Herkunft bis heute eher reserviert. Denn ohne Bezug auf eine universale Transzendenz gibt es keine Möglichkeit, allgemeingültige ethische Prinzipien oder Urteile zu entwickeln. Der Verlust des ethischen Anspruchs auf Universalität kann zu einem Relativismus führen, an dessen Ende nur mehr der menschliche Wille und die Machthaber darüber entscheiden, welche Werte gültig sind. Auch ein gegenständliches Verständnis von Werten, die „objektiv“ vorliegen – gleich, ob außerhalb oder innerhalb des Subjekts –, reduziert den Akt ethischer Urteilsfindung auf positivistische Selbstbehauptung. Die Kritik am ökonomischen Ursprung des Wertebegriffs bringt wiederum Hannah Arendt auf den Punkt:3 Die Reduktion von Ethik auf Werte führt zu einer Vernützlichung, Vergesellschaftung und Austauschbarkeit von Werten, die auch vor der Verrechenbarkeit und Verwertung des Menschen nicht haltmachen werden.
Aus der Sicht von Judentum, Christentum und Islam4 ist der Wertebegriff überdies deshalb problematisch, weil sich Werte im allgemeinen Sprachgebrauch als Resultate einer radikal autonom gedachten Vernunft verstehen. Nun sind diese drei monotheistischen Religionen selbstverständlich konstitutiv mit ethischen Konzepten verbunden. Aber jene Vernunft ist nicht absolut autonom, sondern relational. Denn diese Religionen anerkennen auch eine heteronome Quelle, der sie ihre Werte verdanken und vor der sie sich zu rechtfertigen haben: die Offenbarung einer göttlichen Autorität. Deshalb spricht man in diesen drei Traditionen bevorzugt von Regeln und Vorschriften, Prinzipien und Normen, Geboten und Gesetzen. Da auch diese der freien und vernünftigen Interpretation unterliegen, sind sie konstitutiv pluralistisch. Aber von der Offenbarung Gottes her sind einer grenzenlosen Pluralität Grenzen gesetzt. So sind beispielsweise der Schutz des Lebens, die Würde und Einzigartigkeit jedes Menschen sowie die Gleichheit aller Menschen unaufhebbare ethische Normen der monotheistischen Traditionen.
Umgekehrt ist auch der Glaube an Gott in diesen drei Religionen untrennbar mit dem Ethos der Offenbarung verbunden. Wer sie ablehnt, mag an einen Gott glauben – aber er glaubt nicht an jenen Gott, der im Tenach, in der Bibel und im Koran bezeugt wird.5 Dieser ethische Monotheismus hat seinen Ursprung im Alten Testament, das – im Unterschied zu den anderen religiösen Traditionen des Alten Orients – das Ethos (z. B. der Nächsten- und Fremdenliebe) sakralisiert, das heißt der beliebigen Willkür des Einzelnen (z. B. eines Pharaos oder Gottkönigs) entzieht und zu göttlichem Recht erklärt.6 Damit steht zum Beispiel jeder Mensch unter Gottes besonderem Schutz und heiligt Gott, wer sein Ethos befolgt. Die Nächstenliebe ist damit nicht nur Folge, sondern Wesen und Ausdruck der Gottesliebe und ist dem Nächsten nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich geschuldet.7 Von christlichen Werten zu sprechen, ist daher aus der Sicht des ethischen Monotheismus nur dann möglich, wenn sich diese im Ethos Gottes verankern. Die Rezeption des modernen Wertebegriffs erfolgt deshalb vonseiten der ethischen Monotheismen nur mit gewissen Spannungen.
Von den Chancen christlicher Werte
Ungeachtet dieser vielen nicht bewussten Spannungen ist es in kirchlichen wie politischen Diskursen heute europaweit gang und gäbe, von „christlichen Werten“ zu sprechen. Während Politikerinnen und Politiker nach deren Beitrag zur Demokratie fragen, sehen die christlichen Kirchen darin die Möglichkeit, christliche Ethik legitim in die ethischen und politischen Debatten einzubringen. Beides birgt Probleme, weil christliche Ethik politisch instrumentalisiert werden kann und der christliche Glaube auf Ethik reduziert zu werden droht.8 Die Interessen sind aber dennoch legitim, weil der Wertebegriff auch zahlreiche sinnvolle Dimensionen birgt. So zeigt sich in seiner weitverbreiteten Verwendung die unverzichtbare Suchbewegung pluralistischer Gesellschaften nach ethischer Orientierung. Bereits dieser Sachverhalt verpflichtet Politik und Kirchen wie auch die Theologie dazu, sich dem Wertebegriff auch positiv anzunähern.
So wurde der Wertebegriff im Anschluss an Talcott Parson im 20. Jahrhundert zu einem Disziplinen verbindenden Schlüsselkonzept der Human-, Sozial- und Kulturwissenschaften, um Kultur zu erforschen. Er ermöglicht es bis heute, in hermeneutischen wie empirischen Studien nach den real existierenden moralischen und ethischen Einstellungen von Menschen, deren individual- und sozialpsychologischen Funktionen sowie biologischen, soziologischen oder politischen Entstehungsbedingungen zu fragen. Charles S. Peirce, William James, John Dewy, Herbert Mead und Hans Joas wiederum etablierten den Wertebegriff als Teil von Gesellschaft und Kultur in der Sozialphilosophie und im philosophischen Pragmatismus. Hans Joas zum Beispiel definierte Werte als „mental-psychisch verinnerlichte Erfahrungen der Selbsttranszendenz und Selbstbindung, in deren Rahmen Menschen von Lebenswirklichkeiten, die ihnen widerfahren, so ergriffen werden, dass sie sich diese zu eigen machen“9. Werte sind demnach die erfahrungsbasierte, vorethische Grundlage für ethische Urteile. In ihnen bringen sich präreflexive Vorstellungen vom „guten Leben“ zum Ausdruck, die – mehr oder weniger bewusst – das Handeln von Menschen leiten. Weil jedoch nicht jede Vorstellung vom „guten Leben“ auch aus ethischer Sicht „gut“ ist10, bedürfen Werte der kritischen ethischen Reflexion und Bildung. Überdies erschließt sich der Sinn von Werten auch immer erst in konkreten praktischen Verwendungszusammenhängen. So können sich beispielsweise die Werte „Heimat“ oder „Solidarität“ mit politischen Inklusions- oder aber Exklusionspraktiken von gesellschaftlich „anderen“ verbinden.
Die Anerkennung des Wertebegriffs in diesen Disziplinen macht es den Kirchen und der Theologie jedenfalls möglich, diesen zu rezipieren. Seine Erfahrungsnähe und Subjektbezogenheit sowie die enge Verbindung mit Gesellschaft und Kultur bieten Theologie und Kirchen zahlreiche Anknüpfungspunkte und können Ausgangspunkt für ethische und politische Debatten sein. So definiert der christliche Sozialethiker Clemens Sedmak Werte als „Bezugsrahmen für Präferenzen; Werte sind nicht Entscheidungen, sondern die Grundlage für Entscheidungen; Werte sind nicht Bewertungen, sondern Kriterien für Bewertungen; Werte sind nicht Wünsche, sondern Konzeptionen des Wünschenswerten“11.
Werte und Demokratie
Die Verbindung von christlichen Werten und Demokratie ist alles andere als selbstverständlich und taucht in dieser Kombination erst nach 1945 auf. So hat die katholische Kirche die Demokratie erst nach dem Zweiten Vatikanum in ihrer Soziallehre anerkannt. Innerhalb der Kirche gilt sie, anders als in der evangelischen Kirche, als theologisch ungeeignetes Ordnungssystem, da Herrschaft und Recht zunächst nicht beim Volk, sondern bei Gott liegen. Gleichwohl haben alle Kirchen in Österreich ein großes Interesse an funktionierenden Demokratien und setzen sich für diese ein.
Umgekehrt waren Werte auf der europäischen Ebene lange Zeit überhaupt kein politisches Thema. Die Wertesemantik wurde erst nach 1989 in den politischen Debatten virulent.12 Kontext dieses Rückgriffs auf „Werte“ bildeten dabei die Fragen nach der Integration und der „Idee“ Europas. Im Zuge der weiteren Entwicklungen diente die Beschreibung der Europäischen Union als „Wertegemeinschaft“ zur Selbstverständigung des europäischen politischen Prozesses wie auch des europäischen Gemeinwesens. Denn seit den 1980er-Jahren war die Identität Europas und der Europäischen Union als ihr politisches Projekt fraglich geworden: Die Wohlstandssteigerung taugte – infolge der Ölkrisen und des instabilen Wirtschaftswachstums – nicht mehr als einigendes und legitimierendes Selbstkonzept. Mit der Erweiterung um die mittel-und osteuropäischen Staaten stellte sich überdies die Frage nach dem Sinn und Ziel der europäischen Integration. Das imaginierte Selbstverständnis als „Wertegemeinschaft“ sollte so die Frage nach der politischen Identität der Europäischen Union beantworten.
Seit 2009 sind nun mit dem Artikel 2 des Vertrags von Lissabon13 folgende Werte in Kraft: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Diese Werte sind in einer Gesellschaft zu wahren, „die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“14.
Auch wenn dieser Werterekurs der EU von Anfang an auf heftige Kritik stieß15, ist mittlerweile doch unumstritten, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat – und mit ihm die Demokratie – von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann (Böckenförde-Paradoxon); dies bedeutet unter anderem von den Werten seiner Bürgerinnen und Bürger. Damit kommen auch die Kirchen ins Spiel, die solche Werte einbringen können und sollen – beziehungsweise die Rede von „christlichen Werten“. Aus demokratischer Sicht erhalten sie von hier ihre Legitimation.
Freilich ist seit 9/11 und den darauf folgenden weiteren Terroranschlägen sowie im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 der Begriff der „christlichen Werte“ zunehmend zu einem Identifikations- und Abgrenzungsmarker, sogar zu einem politischen Kampfbegriff 16 gegenüber der islamischen Welt beziehungsweise dem Islam als Religion mutiert – ungeachtet des historischen Befundes, dass der Islam zu Europa gehört.17 Astrid Mattes18 zeigt anhand einer Analyse von über 800 Parlamentsprotokollen, Presseberichten und politischen Stellungnahmen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz, wie in einem Zeitraum von 20 Jahren vor allem die christdemokratischen Parteien den Islam zum Politikum gemacht haben und auf diese Weise ihre inneren Probleme bearbeiten, sei es durch die Problematisierung des Islam, die Aufspaltung in einen „guten“ und einen „bösen“ Islam oder die Konstruktion einer „universalen Religion“ auf Basis des christlichen Erbes.
Christliche Werte und deren Auslegung werden in Europa und Österreich jedenfalls im öffentlichen Raum wieder heftig diskutiert. So wurde zum Beispiel im Umfeld der Frage, welche Flüchtlingspolitik man legitim als „christlich-sozial“ bezeichnen dürfe, eine intensive mediale Debatte geführt.19 Bemerkenswert angesichts dieser Konflikte ist das, trotz gravierender gesellschaftlicher Bedeutungsverluste des Christentums, nach wie vor große Bedürfnis nach religiöser Legitimation politischen Handelns.