Kitabı oku: «Christlich-soziale Signaturen», sayfa 7

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9https://www.foreignaffairs.com/articles/south-america/2018-10-15/ venezuelas-suicide (abgerufen am 26. Mai 2019).

10Man muss eine realistische Einschätzung der aktuellen Wirksamkeit christlich-sozialer Lehren vornehmen. Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller aus Princeton vermerkt: „The Europe of today is a creation of Christian Democrats. They were the architects of European integration and of postwar Atlanticism. And they were crucial in shaping the form of constitutional democracy that prevailed in the Western half of the continent after 1945 and has steadily been extended east since the fall of the Berlin Wall in 1989. […] Yet both as a set of ideas and as a political movement, Christian democracy has become less influential and less coherent in recent years. This decline is due not only to the continent’s secular turn. At least as important are the facts that nationalism – one of Christian Democrats’ prime ideological enemies – is on the rise and that the movement’s core electoral constituency, a coalition of middle-class and rural voters, is shrinking. As the larger project of European integration faces new risks, then, its most important backer may soon prove incapable of defending it.“ https://www.foreignaffairs.com/articles/western-europe/2014-07-15/end-christiandemocracy (abgerufen am 26. Mai 2019). D. h.: Die selbstverständlichen Bindungen und Zugehörigkeiten lösen sich auf, wie so viele sozialstrukturelle Gegebenheiten in der Postmoderne. Das hat zur Folge, dass die europäische Leitkultur, die europäischen Werte, die christlich-sozial geprägte Weltsicht unter den neuen Umständen zu artikulieren und zu adaptieren sind – aber das ist keine Neuigkeit, so ist die Geschichte nun einmal.

„Wohlstand für alle“ – wer finanziert das?
Markt, Staat und christliche Grundlagen in der Sozialen Marktwirtschaft

Philip Plickert

Der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ ist populär, weil er mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands nach dem Krieg gleichgesetzt wird. Dabei ist der Begriff vage und kann unterschiedlich interpretiert werden. Die Vordenker und Gründerväter lehnten kollektivistische Systeme, sei es das NS-Regime oder den Sozialismus, strikt ab. Ihnen ging es auch nicht darum, die Marktwirtschaft mit einem vollversorgenden Sozialstaat zu kombinieren, sondern sie forderten eine marktwirtschaftliche Ordnung in einem staatlichen Rahmen, die Wettbewerb sicherstellt und damit Massenwohlstand ermöglicht. Die Marktwirtschaft bietet Möglichkeiten zur freien Entwicklung des Menschen, daher hat sie eine positive ethische Dimension. Der Ausbau des Sozialstaats ging mit einer problematisch steigenden Steuer- und Abgabenquote einher. Angesichts der Alterung der Gesellschaft geraten die Sozialsysteme weiter unter Druck. Aktuell steht die Soziale Marktwirtschaft vor mehreren fundamentalen Herausforderungen: dem demografischen Wandel, der Massenzuwanderung, der Globalisierung und der Digitalisierung. Der Beitrag zeigt, in welcher Weise die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft gefährdet sind.

Die Marktwirtschaft ist nicht nur ein ökonomisches System, sie hat eine ethische Dimension – eine positive ethische Dimension. Bei der Entscheidung für oder gegen ein Wirtschaftssystem geht nicht nur um mehr oder weniger Wohlstand, sondern auch um Freiheit und Würde. In der Marktwirtschaft erhält der einzelne Mensch die Chance, sich freier zu entfalten, als dies in einer sozialistischen Zentralverwaltungs- oder Lenkungswirtschaft der Fall ist, die durch bürokratische Pläne und Vorgaben die Wirtschaft zu regeln versucht. In der Planwirtschaft ist der einzelne Mensch nur ein kleines Rädchen, das zu funktionieren hat. In real existierenden sozialistischen Systemen gab und gibt es keine freie Berufswahl, keine Freiheit für Unternehmer, keine Wahlfreiheit für Verbraucher. Fast alles wird von oben vorgegeben, rationiert, kontrolliert.

Auch die im Sozialismus angeblich herrschende soziale Sicherheit ist trügerisch: Sie wird erkauft durch den Verlust an Selbständigkeit, Eigenverantwortung, Freiheit – und letztlich mündet sie in totale Unsicherheit, weil sie Abhängigkeit vom Willen und der Willkür anderer bedeutet. Sozialismus ist unweigerlich ein „Weg zur Knechtschaft“, wie es der große österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek in der Endphase des Zweiten Weltkriegs prägnant formulierte.1

Auch der demokratische Wohlfahrtsstaat hat, wenn er überzieht, eine Tendenz zur schleichenden Entmündigung der Bürger. Die frühen Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland befürworteten Marktwirtschaft und Wettbewerb nicht allein deshalb, weil sie diese als Motor für wirtschaftlichen Fortschritt, mehr Innovationen und mehr Wohlstand sahen, sondern auch aus ethischen Gründen: Die Bewährung in der Marktwirtschaft ist dem freien Menschen angemessen. Daher ist die Marktwirtschaft aus ethischen Gründen anderen, kollektivistischen Systemen vorzuziehen.

Allerdings braucht sie einen staatlichen Rahmen, um fairen und freien Wettbewerb zu garantieren. Es geht darum, einen Ordnungsrahmen für die interdependenten Bereiche der Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu setzen, der den Menschen „das Leben nach ethischen Prinzipien ermöglicht“, wie Walter Eucken schrieb.2 Freiheit und Ordnung sind dabei untrennbar verbunden. Und es braucht, das war den Vordenkern der Sozialen Marktwirtschaft auch klar, einen gewissen sozialen Ausgleich, um materielle Not zu lindern und zu große Ungleichheit zu verhindern. Wie weit dieser Ausgleich und diese Umverteilung gehen soll, ist bis heute Gegenstand grundsätzlicher politischer und wissenschaftlicher Diskussionen.

Welchen Belastungen und Herausforderungen ist der Sozialstaat aktuell und in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ausgesetzt? Wie viel Sozialstaat ist finanzierbar? Dabei spielt die demografische Entwicklung eine wichtige Rolle; zudem neue Herausforderungen wie die Globalisierung und die Digitalisierung. Diese und weitere Fragen sollen im Folgenden detailliert behandelt werden. Zunächst aber ein genauer Blick auf die ethischen Grundlagen.

Überzeugte Christen gegen eine Gewalt- und Zwangsherrschaft

Die Vordenker und Gründerväter der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland waren überzeugte Christen und geleitet von einem christlichen Menschenbild. Ihr Ordnungsentwurf sollte den Menschen ein Leben in Freiheit, Würde und Wohlstand ermöglichen. Ihr Ordnungsentwurf war die Antwort auf die verheerenden kollektivistischen Systeme, sowohl den Nationalsozialismus als auch den Kommunismus, die sie als Zeitgenossen erlebten. Aber auch vom historischen Laissez-faire-Liberalismus, der seit dem Zweiten Weltkrieg auf dem Rückzug war und seit der Weltwirtschaftskrise als vollends diskreditiert galt, suchten sie Abstand, denn der Staat sollte eine wichtige Rolle übernehmen: den Rahmen für einen funktionierenden Wettbewerb setzen.

Die wichtigsten Vordenker, die ordoliberalen Ökonomen der Freiburger Schule um Walter Eucken, hatten sich als Reaktion auf die antijüdischen NS-Pogrome 1938 zusammen mit protestantischen Pfarrern in Gesprächskreisen versammelt.3 Sie debattierten über die Pflicht eines Christen zum Widerstand gegen ein verbrecherisches Regime. Bald schon knüpften sie Kontakte zu jenen Widerstandskreisen, die am 20. Juli 1944 das Attentat auf Hitler versuchten. Im Auftrag Dietrich Bonhoeffers und der Leitung der oppositionellen „Bekennenden Kirche“ wirkten mehrere Freiburger Professoren, neben Eucken auch Constantin von Dietze und Adolf Lampe, 1942/1943 an einer Denkschrift mit dem Titel „Politische Gemeinschaftsordnung“ mit. Sie warnten darin vor einer fortgesetzten Politik der Kollektivierung, wie sie der NS-Staat betrieb, und forderten stattdessen, dass der Staat Wettbewerb ermögliche. Dabei solle „die Ordnung auf Selbstverantwortung der Einzelwirtschaftenden beruhen, sollen Markt- und Preisfreiheit herrschen“. Es dürfe aber kein Laissez-faire geben, sondern der Staat müsse Regeln für den Wettbewerb setzen und durchsetzen. Dies beuge „Machtzusammenballungen“ vor.4

Wenn die Ordoliberalen der Freiburger Schule, die sich seit den frühen 1930er-Jahren formierte, so sehr vor wirtschaftlicher Konzentration, vor Kartellen und Monopolen warnten, dann hatte dies neben ökonomischen vor allem politische und ethische Gründe. Wie der Jurist Franz Böhm erläuterte, war der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, dass jede stärkere Konzentration von privater oder öffentlicher Macht eine Gefährdung der Freiheit darstellt.5 Monopole bedeuten Abhängigkeiten und Ausbeutung der Kunden beziehungsweise Bürger. Wettbewerb dagegen stellt ein „Entmachtungsverfahren“ dar, denn im Wettbewerb müssen sich Unternehmen um die Kunden bemühen. Der wirtschaftliche Wettbewerb hat damit eine für die freiheitliche Ordnung konstitutive Rolle.

Während die meisten Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland protestantische Christen waren, gibt es auch Bezüge zur katholischen Soziallehre, allerdings waren die Beziehungen nicht immer spannungsfrei. Der liberal-konservative Ökonom Wilhelm Röpke bemühte sich seit den 1930er-Jahren um Anknüpfungspunkte zur Soziallehre der Kirche, die er vor allem in der 1931 veröffentlichten Enzyklika „Quadragesimo anno“ sah.6 Röpke, obwohl Protestant, bemühte sich intensiv um einen Brückenschlag und eine Allianz mit der katholischen Soziallehre im Kampf gegen die Kollektivismen seiner Zeit; er selbst musste vor dem NS-Regime als einer der ersten deutschen Professoren 1933 ins Exil fliehen.7

Die Enzyklika „Quadragesimo anno“ betonte die positive Rolle des Eigentums mit seiner individuellen und sozialen Doppelfunktion und nannte erstmals das Subsidiaritätsprinzip: Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass der Staat den Individuen beziehungsweise den kleineren sozialen Einheiten wie den Familien und Kommunen die Eigenverantwortung für die Regelung ihrer Verhältnisse nicht abnehmen, sie also nicht entmündigen soll, sondern sie in die Lage versetzt, ihr Leben selbstständig zu führen und ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Bei aller Kritik am historischen Kapitalismus spricht sich die Enzyklika für eine Marktwirtschaft aus, die es ermöglichen kann, den Massen Wohlstand zu bringen.

Allerdings schwebte maßgeblichen Kreisen der katholischen Soziallehre um den Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning in den 1930er-Jahren bis noch weit in die 1950er-Jahre eine berufsständische, korporatistische Ordnung vor. Erst später kam es zu einer Annäherung an das ordoliberale Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, doch es blieben Unterschiede, etwa im Menschenbild und im Freiheitsbegriff sowie in der Frage, wie viel staatliche Aktivität in der Wirtschaft wünschenswert sei.8

Für Wilhelm Röpke und einige andere Ordoliberale eher konservativer Richtung war die Marktwirtschaft allein auch nicht genug; sie vertraten eine durchaus skeptische Sicht. Ohne sittliche Reserven, die in der Erziehung in den Familien gebildet werden, ohne bürgerliche Tugenden und ein gewachsenes kulturell-ethisches Fundament werde eine reine Marktgesellschaft zerfallen, fürchtete Röpke. Sein bekannter Buchtitel „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ von 1957 verdeutlicht diese Position. Der Markt könne „Moralzehrer“ sein, er lebe von außerökonomischen Voraussetzungen. Zugleich warnte Röpke vor der kollektivistischen Versuchung: Wenn der Staat zu viele „soziale“ Aufgaben an sich ziehe, entmündige und zerstöre er die Familien, die den Boden für eine stabile mittelständische Gesellschaft und Marktwirtschaft bildeten.9

Das Erfolgsmodell der Sozialen Marktwirtschaft

Nach der Definition von Alfred Müller-Armack, der den Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ 1946 schöpfte, soll diese zweierlei verbinden: das Prinzip der Freiheit des Marktes mit sozialem Ausgleich. Etwas missverständlich schrieb er von einer „sozial gesteuerten Marktwirtschaft“.10 Er wünschte aber keine staatlich gesteuerte Wirtschaft, sondern eine Marktwirtschaft mit einem staatlichen Ordnungsrahmen, der die Aufgabe hat, Marktmacht zu verhindern und den Wettbewerb zu schützen.

Außerdem soll der Staat einen sozialen Ausgleich vornehmen. Die Sozialpolitik sollte dabei aber „marktkonform“ sein, also nicht den freien Preismechanismus zerstören. Ein konkretes Beispiel wäre, dass man nicht für bestimmte Produkte Höchstpreise oder für Wohnungen Mietpreisdeckel festsetzt, sondern Bedürftigen besser direkte Einkommens- oder Mietzuschüsse gewährt.

Die „Soziale Marktwirtschaft“ ist populär geworden, weil sie mit dem erstaunlichen Wiederaufstieg Deutschlands nach dem Elend und den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs in Verbindung gebracht wird. Wirtschaftsminister Ludwig Erhard wurde zum legendären „Vater des Wirtschaftswunders“ verklärt.

Im Juni 1948 hatte Erhard die überwiegend von den angloamerikanischen Alliierten vorbereitete Währungsreform genutzt, um eine Vielzahl von Preiskontrollen aufzuheben, die noch seit der NS-Zeit bestanden. Das war die entscheidende Tat, denn die Preiskontrollen hatten die Wirtschaft gelähmt. Erst nach der Preisfreigabe konnte der marktwirtschaftliche Mechanismus wieder anspringen. Hatten Unternehmen zuvor Ressourcen und Waren gehortet, weil die festgesetzten Preise unrealistisch niedrig waren, kamen die Waren nun wieder auf den Markt. Die Schaufenster waren plötzlich voll, die Produktion sprang wieder an.

Der wirtschaftliche Aufschwung war beeindruckend. Es gelang, die zerbombten Städte wieder aufzubauen, Millionen von Vertriebenen zu integrieren. Die Hochkonjunktur führte zum raschen Abbau der Massenarbeitslosigkeit, ab Mitte der 1950er-Jahre herrschte Vollbeschäftigung, später wurden sogar Gastarbeiter aus dem Ausland angeworben. Der von Ludwig Erhard in einem Buchtitel 1957 versprochene „Wohlstand für Alle“ schien sich zu materialisieren.

Die Wachstumsraten der jungen Bundesrepublik nach 1949 übertrafen dabei deutlich diejenigen der westeuropäischen Nachbarn. Im Durchschnitt kam Deutschlands Wirtschaft in den 1950er-Jahren auf fast acht Prozent Wachstum. An diesen Wert kam nur noch Österreich heran. Dahinter lag die französische Wirtschaft mit etwa vier Prozent. Frankreich schlug mit dem Modell der „Planification“ einen wesentlich stärker von staatlichen Vorgaben und makroökonomischer Planung geprägten Weg ein. Noch etwas schwächer war das Wachstum der britischen Wirtschaft mit weniger als vier Prozent.

Im Durchschnitt der Jahre 1950 bis 1973, die oft als „goldenes Zeitalter“ bezeichnet werden, erreichte die deutsche Wachstumsrate laut Angus Maddison etwas über fünf Prozent. Österreich lag nur minimal dahinter mit 4,94 Prozent, deutlich dahinter Frankreich mit vier Prozent und Großbritannien mit nur 2,4 Prozent.11 Der Kriegsverlierer überholte in den 1970er-Jahren die Kriegsgewinner im Pro-Kopf-Wohlstand.

Großbritanniens Wirtschaftspolitik war auf einem sozialistischen Kurs. Die Labour-Regierung hatte nach dem Krieg ein großes Verstaatlichungsprogramm eingeleitet; die Gewerkschaften hielten eine sehr starke Stellung in der Industrie und konnten technische Modernisierungen, die mit Entlassungen einhergingen, verhindern. Außerdem entwickelte sich ein eher korporatistisches Modell mit schwächerem Wettbewerb. Das führte zu einem langsameren Produktivitätswachstum.12 Insgesamt entwickelte Britannien ein keynesianischen Wohlfahrtsstaat. In den 1970er-Jahren geriet das keynesianisch-wohlfahrtsstaatliche Modell aber in eine immer schwerere Krise, aus der schließlich Margaret Thatcher das Land mit einer marktwirtschaftlichen Rosskur herausholte.

Die deutsche marktwirtschaftliche Wende unter Erhard diente ihr in Teilen als Vorbild, doch darf der Grad an Marktwirtschaft in der Nachkriegszeit nicht zu hoch bewertet werden: Es gab zwar einen Schub zu Preisfreigaben und Deregulierung, doch war Deutschland auch von einer gewissen Kontinuität der Institutionen geprägt – etwa mit dem Modell der Tarifpartnerschaft zwischen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbänden.13

Das Modell der westdeutschen Marktwirtschaft der Nachkriegszeit bis in die 1980er-Jahre wurde als „Rheinischer Kapitalismus“ bezeichnet, in Abgrenzung zum härteren amerikanischen oder angelsächsischen Kapitalismus. Während dort die Interessen der Kapitalseite, der Aktionäre, konfrontativer gegen die Interessen der Arbeiterseite ausgespielt wurden, gab es in Deutschland einen kooperativen Stil, einen besseren Ausgleich und mehr gemeinsames Vorgehen. Tatsächlich kennt das deutsche Aktiengesetz die Mittbestimmung in größeren Gesellschaften; Arbeitnehmervertreter sitzen mit im Aufsichtsrat. Im „Rheinischen Kapitalismus“ gab es weniger Streiks und mehr Kooperation – mit günstigen Auswirkungen auf die Motivation und die Produktivität der Arbeitnehmer.

Allerdings führte der hoch regulierte Arbeitsmarkt seit den 1970er-Jahren mit jeder Rezession schubweise zu höherer Arbeitslosigkeit. Das „Wirtschaftswunder“ verblasse, es gebe eine zunehmende „Sklerose“, so lautete die Diagnose, die besonders Herbert Giersch vortrug.14 Giersch und der Sachverständigenrat der „Wirtschaftsweisen“ forderten „angebotsorientierte“ Reformen, sprich eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes, Deregulierung und Steuerreformen, um mehr Investitionen und wirtschaftliche Dynamik zu entfachen. Nach der Wiedervereinigung kam es mit dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft zu Massenarbeitslosigkeit, bis 2003 stieg die Zahl der Arbeitslosen sogar auf fünf Millionen. Dies war der Zeitpunkt, an dem die damalige rot-grüne Regierung ein drastisches Programm von Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformen in Gang setzte.

Seit den 1990er-Jahren hat die Orientierung am „Shareholder-Value“, also am Aktienkurs, in den großen Aktiengesellschaften zugenommen. Das führte auch zu einer stärkeren Kurzfristorientierung, zu einem Blick auf Quartalsergebnisse: Um höhere Gewinne zu erzielen, wurden schneller Rationalisierungen und Entlassungen beschlossen, wie die Gewerkschaften beklagten.

Besonders ausgeprägt scheint das renditeorientierte Kurzfristdenken im Finanzsektor. Banker haben mit großen Schuldenhebeln und hohen Risiken extrahohe, aufgeblähte Renditen angestrebt, angeheizt durch die Aussicht auf Boni. In der Finanzkrise implodierte die kurzfristige Gewinnmaximierung. Seitdem wird über eine Regulierung gesprochen, die wieder auf längerfristig orientiertes, nachhaltiges Wachstum zielt. Boni sollen etwa nicht direkt – sondern in einem Topf gesammelt und erst nach einigen Jahren – ausgeschüttet werden, um allzu kurzfristige und riskante Geschäfte zu vermeiden.

Starker Mittelstand, Anti-Kartellgesetzgebung und Ausbau des Sozialstaats

Ein Grund, warum die deutsche (und auch die österreichische) Wirtschaft relativ gut durch die globale Krise vor zehn Jahren kam, ist die Stärke des Mittelstands. Im Unterschied etwa zu Frankreich, das zwar einige große, staatlich geförderte Industriekonzerne, aber wenige kleine und mittlere Unternehmen hat, ist in Deutschland (und auch in Österreich) die Struktur gerade in Branchen wie dem Maschinenbau oder der Automobilzulieferindustrie durch eine Vielzahl von mittelständischen Familienunternehmen geprägt. Die eigentümergeführten Unternehmen bemühen sich darum, Mitarbeiter zu halten, auch wenn es wirtschaftlich schwierige Phasen gibt. So wurden in der Rezession Mitarbeiter mit Kurzarbeit gehalten oder die Zeit der Auftragsflaute wurde für Weiterbildungen genutzt.

Zudem haften die Eigentümerfamilien finanziell mit ihrem Vermögen, das im Unternehmen liegt, daher sind sie ihm stärker verbunden und an einer nachhaltigen, langfristigen Entwicklung interessiert. Familienunternehmer denken in Generationen, nicht Quartalen. Das Prinzip der privaten Haftung haben die ordoliberalen Ökonomen wie Eucken als ein konstitutives Prinzip der Marktwirtschaft hervorgehoben: Wer für die Folgen seines geschäftlichen Tuns voll haftet, geht mit Kapital sorgfältiger und besser um. Das zeigte sich auch in der Finanzkrise, als Banken für die von ihnen eingegangenen Risiken nicht voll finanziell haften mussten, sondern auf Steuerzahlerkosten gerettet wurden.

Zwei politische Entscheidungen aus den 1950er-Jahren seien noch explizit erwähnt, weil sie wichtige Weichenstellungen waren, die bis heute wirken. 1957 verabschiedete der Bundestag nach jahrelangem Ringen ein wettbewerbspolitisches „Grundgesetz der Sozialen Marktwirtschaft“ – das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, das die Kartelle aufbrechen sollte, die nach der Dekartellierung der Alliierten noch existierten. Obwohl das Gesetz die Wünsche und Hoffnungen der ordoliberalen Ökonomen nicht ganz erfüllte, war es doch ein entscheidender Bruch mit der früheren Kartelltradition der deutschen Industrie, die heftig dagegen lobbyiert hatte. In der Zwischenkriegszeit hatte es mehr als 2.000 Kartelle gegeben, die gelenkte NS-Wirtschaft basierte auf großen Zusammenschlüssen.

Mit dem GWB wurde ein Kartellamt geschaffen, das Kartelle aufspürt und bestraft, das Fusionen und Übernahmen prüft und untersagt, wenn sie stark negative Auswirkungen auf den Wettbewerb haben, und das eine Missbrauchsaufsicht führt, wenn große Unternehmen marktbeherrschende Stellungen innehaben. Die fortschreitende Digitalisierung unserer Wirtschaft wirft indes die Frage auf, ob das Wettbewerbsrecht heute noch ausreichend scharf ist. Dazu mehr am Schluss dieses Beitrags. Eine zweite Richtungsentscheidung in der Bundesrepublik, diesmal in der Sozialpolitik, war die Rentenreform von 1957, kurz vor der Bundestagswahl. Sie bewirkte einen kräftigen Anstieg der Renten und zugleich einen Übergang zu einem umlagefinanzierten Rentensystem, bei dem die Erwerbsbevölkerung durch Beiträge die Renten der älteren Generation zahlt (und Adenauer und seiner CDU brachte die Reform bei der anschließenden Bundestagswahl die erste und einzige absolute Mehrheit in der Geschichte der Bundesrepublik).

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22 aralık 2023
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