Kitabı oku: «Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland», sayfa 2
1. Politische Lagen – Deutschland 1930 und 2019
Die politische Lage in der Weimarer Republik des Jahres 1930 stand im Zeichen der sich seit Oktober 1929 (Beginn der Weltwirtschaftskrise) verschlechternden Wirtschaftslage, das Deutsche Reich „rutschte in eine Dauerkrise“ (Bohr 2017: 212). Daran scheiterte am 27. März 1930 die große Koalition aus SPD, Zentrum, DVP und DDP (1928–1930) (vgl. Hesse et al. 2015: 67ff.). Das Kabinett um Reichskanzler Hermann Müller (SPD) trat zurück. Schon am 29. März 1930 wurde Heinrich Brüning (Zentrum) zum Reichskanzler ernannt und damit der Weg in die Präsidialregierungen beschritten und das parlamentarische Regierungssystem „fortan Schritt für Schritt ausgehöhlt“ (Hengst 2017: 225).
[16] Angesichts der Ergebnisse der Reichstagwahl vom 14. September 1930 (vgl. Kolb 1988: 258f.), deren Gewinner und damit zweitstärkste Kraft im Reichstag mit 18,3 % der abgegebenen Wählerstimmen (1928: 2,6 %) und einem Zuwachs auf 107 Mandate (1928: 12) die NSDAP war, fand sich die SPD, die 24,5 % (1928: 29,8 %) und 143 Mandate erreichte, bereit, das Kabinett Brüning zu tolerieren (vgl. Plumpe 2018: 33). Das Zentrum errang 11,8 % (1928: 12,1 %), die DVP 4,5 % (1928: 8,7 %) und die DNVP 7,0 % (1928: 14,2 %). Die KPD konnte 13,1 % (1928: 10,6 %) verbuchen. Rechts- und Linksextremisten konnten deutliche Zuwächse erringen, die demokratische Mitte hatte endgültig keine Mehrheit mehr. Im Gegenteil, mit NSDAP, KPD und DNVP „rückte der antidemokratische Teil des Reichstags gefährlich nah an die Mehrheit heran“ (Möller 2018: 46).
Das politische Klima heizte sich immer mehr auf. Die KPD bekämpfte die SPD als „Sozialfaschisten“ (Traub 2017: 236), die bürgerlichen Parteien „vollzogen einen Rechtsruck“ (Bohr 2017: 214). Schon am 23. Januar 1930 war mit Wilhelm Frick zum ersten Mal in Deutschland (Thüringen) ein Minister aus der NSDAP in ein Kabinett berufen worden. Insgesamt kann das Parteiensystem der Weimarer Republik als extrem polarisiert gekennzeichnet werden. Es war von einem verbreiteten Freund-Feind-Denken geprägt (vgl. Möller 2018), das auch die politische Kultur des Landes durchzog. Seit geraumer Zeit ist gesichert, dass die Gesellschaft der Weimarer Republik stark fragmentiert (Lehnert und Megerle 1987) und extrem segmentiert (Winkler 1993) war. Es bestand kein Verfassungskonsens (Steinbach 1986), sondern über die längste Zeit ihres Bestehens wurde die Republik aktiv bekämpft (Sontheimer 1987), sodass von einer „belagerten Civitas“ (Stürmer 1985) „in der Klammer von Rechts- und Linksextremismus“ (Knütter 1988) gesprochen werden kann. Nicht nur kulturell war Weimar damit überspitzt gesagt eine „Republik der Außenseiter“ (Gay 1987).
Ganz anders die Bundesrepublik Deutschland der Gegenwart. Alle amtlichen Statistiken weisen seit Jahren eine stabile wirtschaftliche Situation aus (vgl. Destatis 2019a, 2019b): Das BIP ist stabil und liegt im zweiten Quartal von 2019 bei 844,730 Mrd. €. Die Zahl der Erwerbstätigen beträgt im Juli 2019 42,23 Mio. Personen, die der Erwerbslosen 1,35 Mio., was einer Erwerbslosenquote von 3,1 % entspricht. Der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung spricht von einem zehnjährigen stetigen „Wachstumskurs“ (BMWI 2019). Zwar fehlt der deutschen Konjunktur laut ifo-Institut gegenwärtig der „Schwung“, was insbesondere auf die Unsicherheiten der Weltwirtschaft zurückzuführen ist, aber „die konjunkturelle Entwicklung [ist] gespalten“ (Wollmershäuser et al. 2019: 25). Anders als 1929/30 kann von einer Wirtschaftskrise nicht gesprochen werden. Es gibt auch keine grundlegende Krise der sozialen Sicherungssysteme und keine bodenlose Ungerechtigkeit des Sozialsystems. [17] Eine aktuelle Bestandaufnahme konstatiert sogar: „Deutschland ist gerechter, als wir meinen“ (Cremer 2018).
Auch die parlamentarische Demokratie steht nicht unter dem Druck der Weimarer Zeit. Dennoch hat sich das Parteiensystem spätestens mit der dauerhaften Etablierung der AfD gewandelt. Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 24. September 2017 (Bundeswahlleiter 2017) führte zu einer Wiederauflage der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD, die trotz ihrer Verluste im Vergleich zur vorherigen Bundestagswahl (in Klammern) über eine klare Parlamentsmehrheit verfügen: CDU 26,8 % (–7,4 %), CSU 6,2 % (–1,2 %), SPD 20,5 % (–5,2 %), AfD 12,6 % (+7,9 %), FDP 10,7 % (+5,9 %), Linke 9,2 % (+0,6 %), Grüne 8,9 % (+0,5 %). Bei der Europawahl 2019 (Bundeswahlleiter 2019) erzielte die AfD 11,0 % (+3,9 %), während die CDU 22,6 % (–7,5 %), die CSU 6,3 % (+1,0 %), die SPD 15,8 % (- 11,4 %), FDP 5,4 % (+2,1 %), Linke 5,5 % (–1,9 %) und Grüne 20,5 % (+9,8 %) erreichten. Mit der Veränderung des Parteiensystems wird die Regierungsbildung in Bund und Ländern schwieriger. Eine antidemokratische Mehrheit ist dort jedoch nicht in Sicht.
Allerdings verändert sich das politische Klima. Der Ton wird rauer. Ein älterer Sammelband konstatiert eine „gespaltene Gesellschaft“ (Lessenich und Nullmeier 2006), eine jüngere Analyse gar „feindselige Zustände“ (Zick 2016), abzulesen an verbaler und physischer Gewalt. Ähnlich wie in den 1920er Jahren kann ein allgemeiner „Aufstieg des Rechtspopulismus“ (Hirschmann 2017) festgestellt werden. „Bürgerliche Scharfmacher“ (Speit 2017) behaupten „Volkes Stimme“ (Niehr und Reissen-Koch 2019) zu sein. Die Debatte wird durch subtile Äußerungen und plakative Verlautbarungen, durch „Provokationen und Tabubrüche“ (Ernst 2017) angeheizt, deren Kommentierung selbst wieder kommentiert wird (vgl. http://lügen-presse.de/). Die Rede ist von „Lügen-presse“, „Systempresse“ oder auch „Pinocchiopresse“ (Martella 2017: 90). In den „Echokammern“ der sozialen Medien und des Internets potenziert sich der je eigene Eindruck. Der „mediale Filter- und Verstärkungseffekt“ (Daniel 2018: 62) schlägt sich im Bewusstsein derer nieder, die immer schon zu spüren meinten, dass sie von den Medien manipuliert werden. Die politische Kommunikationsforschung nennt solche Konstellationen Dialogblockaden (Klein 1996: 6).
Die politische Kultur der Weimarer Republik ist von solchen Dialogblockaden gekennzeichnet. Am deutlichsten hat der Staatsrechtler Carl Schmitt in seiner Schrift „Begriff des Politischen“ deren Grundlage und Konsequenz beschrieben, indem er als „spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, […] die Unterscheidung von Freund und Feind“ (Schmitt 1932/2015: 25) bestimmt und daraus den „Krieg als das extremste politische Mittel“ ableitet, das „die jeder politischen Vorstellung zugrunde liegende Möglichkeit dieser [18] Unterscheidung von Freund und Feind [offenbart]“ (ebd.: 34). Der für politische Einheiten, nicht für Privatpersonen geltende Freud-Feind-Gegensatz führt innenpolitisch in einen Bürgerkrieg, wenn die staatliche Einheit durch parteipolitische Gegensätze aufgehoben wird, wenn also „innerhalb eines Staates die parteipolitischen Gegensätze restlos ‚die‘ politischen Gegensätze geworden sind“ (ebd.: 31). Grundsätzlich kann dabei in den Augen von Carl Schmitt „[j]eder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz“ zu einem politischen werden, „wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren“ (ebd.: 55).
Wie sehr Carl Schmitts Darstellung dem Geist der Zeit entsprach, sollten die kommenden Jahre zeigen, in denen der an die Macht gekommene Nationalsozialismus entlang seiner von ihm selbst definierter Freund-Feind-Konstellationen ganze Gruppen von Menschen zu Feinden erklärte und sich an deren Auslöschung machte. Das stellt die Frage nach der Verfasstheit der Republik, genauer ob diese aufgrund unzureichender institutioneller Bremsen den Weg in Mord und Barbarei ermöglichte und wie das Grundgesetz in Reaktion auf das Scheitern der Weimarer Republik konstruiert und weiterentwickelt wurde.
2. Die Verfasstheit der Republik – Weimarer Reichsverfassung und Grundgesetz
Mit der Weimarer Reichsverfassung wurde das „Wagnis der Demokratie“ (Dreier und Waldhoff 2019) auf die Agenda der reichsdeutschen Staatlichkeit gesetzt. Für das Scheitern dieses Wagnisses wurde denn auch die Verfassung mit verantwortlich gemacht, was die Arbeit des Parlamentarischen Rats maßgeblich prägte: „Wie die geisterhafte Erscheinung eines nach verfehltem Leben unglücklich Abgeschiedenen hat die Weimarer Verfassung die Bonner Beratungen erfüllt und bedrückt“ (Werner Weber; zitiert nach Benz 2010: 416f.). Dennoch war die Weimarer Verfassung nicht nur eine Negativfolie, sondern durchaus auch Vorbild für das Grundgesetz (vgl. zum Folgenden Waldhoff 2019: 300ff.):
Zum „Gegenbild“ wurde die Weimarer Verfassung insbesondere in der Ausgestaltung des Verhältnisses von Parlament und Regierung auf der einen und Bundespräsident auf der anderen Seite. Dieser sollte kein Ersatzkaiser mehr sein, sondern vor allem repräsentative und formale Funktionen ausüben. Er ist nicht mehr als Gegengewicht zum Parlamentarismus angelegt. Hier hatte man vor allem die Präsidialkabinette der Jahre 1930 bis 1933 vor Augen. Der politischen Schwächung des Staatsoberhaupts entsprach eine stärkere [19] Stellung des Kanzlers („Kanzlerdemokratie“). Zwar scheiterten die meisten Koalitionen der Weimarer Republik am Unvermögen der Akteure sich parteipolitisch zu einigen, aber die Abwahl des Bundeskanzlers ist nur noch durch gleichzeitige Wahl eines Nachfolgers möglich (konstruktives Misstrauensvotum). Deutlich gegen die Weimarer Reichsverfassung gerichtet ist auch das starke Repräsentativsystem. Direkt demokratische Elemente finden sich kaum im Grundgesetz. Es ist von einem Misstrauen in die politische Vernunft der Deutschen geprägt. Man konnte und wollte sich nicht, auf die „Weisheit, Mäßigung und Kompromissbereitschaft derer verlassen, die damit umzugehen haben“ (Karl Loewenstein; zitiert nach Benz 2010: 418). Dagegen errichtete man zudem ein System der „wehrhaften Demokratie“ (z.B. Verbot verfassungsfeindlicher Vereine, Art. 9 Abs. 2 GG, und Parteien, Art. 21 Abs. 2 GG) und sicherte das Grundgesetz gegen Verfassungsaushöhlungen und durchbrüche durch eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit und über die „Ewigkeitsklausel“ (Art. 79 Abs. 3 GG) ab. Diese garantiert den Verfassungskern, den die Artikel 1 und 20 GG definieren: Garantie von Grund- und Menschenrechten, Demokratie, Republik, Rechtsstaat, Sozialstaat, Föderalismus.
Vorbild wurde die Weimarer Reichsverfassung jedoch insbesondere durch die Fortschreibung des Prinzips der Volkssouveränität und den Grundrechteteil. Darüber hinaus wurden die Bestimmungen zum Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften aus der Weimarer Verfassung ebenso ins Grundgesetz übernommen wie die zum öffentlichen Dienst.
Die Aufzählung macht deutlich, wie sehr die Weimarer Verfassung als Bezugsnorm für das Grundgesetz Geltung entfaltete, sie „schimmert tatsächlich im Grundgesetz fast überall durch“ (Benz 2010: 417). Man schrieb sie fort und um zugleich, adaptierte einzelne Elemente und setzte ganz bewusst Gegenpunkte, wo man sie für das Scheitern der Weimarer Republik mit verantwortlich machte. Aber war sie das wirklich und inwiefern?
Mit gewachsenem zeitlichen Abstand setzt sich in der historischen Reflexion ein distanzierterer Blick auf den Anteil der Weimarer Reichverfassung am Untergang der Weimarer Republik durch (vgl. Waldhoff 2019: 308ff.). So werden für die Endphase der Weimarer Republik ab 1930 drei Momente für das „Scheitern der Verfassung an den Verhältnissen“ (Kielmansegg 2019: 236) identifiziert: Erstens die Unfähigkeit der politischen Parteien eine tragfähige Koalition der demokratischen Kräfte im Reichstags abzuschließen, zweitens die Entscheidung einer Mehrheit der Wähler in der Wirtschaftskrise auf antidemokratische Parteien zu setzen und drittens das Vabanquespiel einer erzkonservativen Gruppe um den Reichspräsidenten, die die Situation nutzen wollte eine autoritäre Staatsordnung zu etablieren. Die Weimarer Verfassung trug aber weder Schuld an der politischen Kultur der Republik, noch kann sie für die Wahlergebnisse oder politische Hasardeure verantwortlich gemacht [20] werden. Aber es gab Einfallstore in den Verfassungsgrundsätzen, z. B. einen „grundsätzlichen Wertrelativismus“, und „Konstruktionsfehler“ der Verfassung, die es möglich machten, sie „mit Hilfe ihrer eigenen Bestimmungen aus dem Scharnier [zu] hebeln“ (Benz 2010: 417). Das aber ist nur eine Möglichkeitsstruktur und nicht einmal die entscheidende. Denn es waren die (Fehl-)Entscheidungen von Menschen, die durch ihr Handeln das Ende der Weimarer Republik möglich machten: „Die Parteien versagten sich, die Wähler gingen Wege aus der Verfassung hinaus. Dagegen ist jede Verfassung machtlos“ (Kielmansegg 2019: 237).
Deutlich geworden sollte sein, dass mit Verfasstheit mehr gemeint ist als ein Verfassungstext. Zwar bietet ein solcher Möglichkeiten oder setzt Einschränkungen für den politischen Gestaltungs- und Zerstörungswillen, ob eine andere Konstruktion der Weimarer Verfassung aber ein zutiefst erschüttertes politisches System wie das der Weimarer Republik unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise und der antidemokratischen Strömungen aufrecht hätte erhalten können, ist da kontrafaktisch nicht zu beantworten. Für das Grundgesetz ergeben sich daraus aber zwei Fragen: Ist es tatsächlich geeignet, aufgrund seiner Konstruktion „Funktionsstörungen des demokratischen und parlamentarischen Systems“ zu verhindern (Benz 2010: 419) und in welchem Verhältnis steht es zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland.
Denn als der Parlamentarische Rat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 verkündete, sah die Welt ganz anders aus als heute. Im Kalten Krieg aus der Taufe gehoben, war die westdeutsche Verfassung das Organisationsstatut eines Teilstaates und sollte – so die Präambel – als Provisorium „dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung […] geben“, bis das „gesamte deutsche Volk“ in der Lage sein würde, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“ (Bundesgesetzblatt 1949: 1).
Es war zudem in doppelter Frontstellung sowohl gegen die überstandene, gleichwohl aber nachwirkende NS-Diktatur als auch gegen den sich in Ost-Mittel-Europa durchsetzenden Stalinismus konzipiert (vgl. Seifert 1991). Daher ist es als „Grundrechtestaat“ (Batt 2003: 32) in seinen Grundlagen und Prinzipien gegen jegliche Verfassungsaushöhlung oder durchbrechung durch die Schutzbestimmungen der Artikel 19 Abs. 2 GG („Wesensgehaltsgarantie“ der Grundrechte) und Art. 79 Abs. 3 GG („Ewigkeitsklausel“) gewappnet. Sicher ist sicher. Das gilt jedoch auch für die Ausgestaltung des Demokratieprinzips, wo das Grundgesetz in Hinsicht auf plebiszitäre Elemente (z.B. Direktwahl des Bundespräsidenten, Volksentscheide im Bundesgebiet) extrem zurückhaltend, ja geradezu misstrauisch ist.
Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren sich aufgrund der Diktaturerfahrung weitestgehend darin einig, dass es im Verfassungstext um [21] den Schutz der Bürger vor staatlichen Übergriffen gehen müsse („Der Staat ist für den Bürger da, nicht umgekehrt!“), was zugleich einige institutionelle Garantien (z.B. in Art. 6 Abs. 1 GG für Ehe und Familie) bedingte. Keine Einigung bestand hinsichtlich der Festlegung einer konkreter Wirtschafts- und Sozialordnung. Daher ist das Sozialstaatsprinzip weit weniger ausgebildet als Demokratie, Republik, Bundesstaats- und Rechtsstaatsprinzip. Es entspricht daher eher einer Staatszielbestimmung (Hesse 1999: 91). Der Grund liegt in den Umständen der Zeit, aber auch in den Mehrheitsverhältnissen im Parlamentarischen Rat: 1949 konnte niemand vorhersehen, wie erfolgreich die Bundesrepublik wirtschaftlich sein würde (vgl. Detjen 2009: 66). Zudem lässt eine Nichtfestlegung mehr Raum für politische Gestaltung – auch die zukünftigen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag waren nicht vorhersehbar.
Aber das Grundgesetz des Jahres 1949 ist nur mehr bedingt das Grundgesetz des Jahres 2019 bzw. 2020. Der sich über Jahrzehnte vollziehenden Wertewandel, die zunehmenden Komplexität des Bund-Länder-Verhältnisses und der Finanzverfassung, die Integration der Bundesrepublik in Europa und der internationalen Staatenordnung und nicht zuletzt die Wiedervereinigung machten Änderungen des Grundgesetzes unumgänglich, ohne jedoch den Verfassungskern zu berühren und die grundlegenden Strukturprinzipen zu verändern. In über 60 Änderungen wurden zahlreiche Artikel des Grundgesetzes modifiziert, gestrichen oder neu eingeführt: z. B. Hineinschreiben des Umweltschutzes ins Grundgesetz, mehrmalige Veränderung der Aufgaben- und Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern, Aufnahme der europäischen Dimension und der vereinigungsbedingten Änderungen (z.B. die Anzahl der Bundesländer und die Stimmverteilung im Bundesrat betreffend).
Das Grundgesetz scheint damit auf den ersten Blick das Beispiel einer sich erfolgreich an die Zeiten anpassenden, gleichwohl beständigen, zudem in der Bevölkerung breit akzeptierten und prinzipiell nicht in Frage stehenden Verfassung – die Verfassung einer „geglückten Demokratie“ (Wolfrum 2007). Das eben ist der Unterschied zur Weimarer Republik. Trotz eines enormen Gesellschafts- und Wertewandels, trotz der Friktionen im Vereinigungsprozess von Bundesrepublik und DDR sowie der Herausforderungen von Migration und Globalisierung weist die politische Kultur Deutschlands ein hohes Maß an Demokratiezustimmung auf. Bis vor Kurzem war weder eine Legitimationskrise der deutschen Demokratie noch eine zunehmende Kluft zwischen West- und Ostdeutschen messbar, wohl aber Skepsis in Bezug auf „Prozesse der religiösen Pluralisierung“ – sowie damit einhergehend eine „negative Wahrnehmung muslimischer Bürger“ – und eine etablierte Politiker- und Parteienverdrossenheit (Pickel 2015: 190ff.). Im Lichte der Veränderungen des Parteiensystems, der Konjunktur von Populismus und eines wieder- bzw. neuentdeckten Ost-West-Gegensatzes muss sich erweisen, ob diese Einschätzung [22] auf absehbare Zeit Bestand hat, denn die Stabilität einer politischen Ordnung ist kein Naturgesetz.
Die Verfasstheit der Republik spiegelt sich denn auch in der Frage nach der Verfassung wider. So ist es nicht verwunderlich, dass es immer wieder Vorschläge gab, das Grundgesetz zu erneuern oder gar durch eine „echte“ Verfassung zu ersetzen, über die tatsächlich das Volk selbst abstimmt, z.B. im Jahr 2009 vom damaligen SPD-Vorsitzenden Müntefering. Damit war er damals nicht allein: 2009 waren Ost- wie Westdeutsche „ganz überwiegend (83 Prozent) der Meinung, dass das 60 Jahre alte Grundgesetz einer ‚grundlegenden‘ bzw. ‚teilweisen‘ Überarbeitung bedarf“, wobei diese Haltung bei den Ostdeutschen stärker auf eine „grundlegende“ Überarbeitung abhob (Vorländer 2009: 16). Dabei sind die Vorstellungen einerseits nahe beieinander (Grundrechtsschutz), andererseits weit voneinander entfernt (Wirtschaftsordnung).
Noch immer heißt das Grundgesetz aber so wie 1949, obwohl durch den Abschluss des Einigungsvertrages zwischen den beiden deutschen Staaten am 31. August 1990 die Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 wiederhergestellt wurde. Basis war der damalige Art. 23 GG, der den Beitritt der ostdeutschen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes regelte, nicht der Weg über Art. 146 GG, also über eine neue Verfassung. Prinzipiell ist damit immer noch die Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung möglich, auch wenn kein Verfahren dazu festgelegt wird – eigentlich ein „Kuriosum“ (Rödder 2010: 332). Aber das passt gut zur Staatsorganisation in Deutschland: eine „komplexe Republik“ (Höreth 2016) eben.
Alles in allem wird das Grundgesetz trotz Kritik im Einzelnen überwiegend als „Erfolgsgeschichte“ und „zuverlässiges, stabiles, kalkulierbares Regelwerk für die Politik“ bewertet. Insbesondere der Vergleich zur Weimarer Republik erweise, „dass es in der Bundesrepublik bislang nie zum systematischen Versagen der verfassungspolitischen Institutionen und Verfahren gekommen ist“ (Schmidt 2016: 40). Die für das Scheitern der Weimarer Republik verantwortlichen Faktoren (s.o.) sind entweder institutionell oder politisch gebändigt: Verfassungsaushöhlungen und durchbrechungen erlaubt das Grundgesetz nicht. Und noch hat keine Wahl eine antidemokratische Mehrheit hervorgebracht. Gleichwohl ist damit keine Gewähr für die Koalitionsfähigkeit der demokratischen Parteien gegeben. Der Prozess der Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2017, das Scheitern der Sondierungsgespräche zur Etablierung einer „Jamaika-Koalition“ aus CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen sowie die insbesondere in der SPD anhaltende Diskussion um den Bestand der Koalition aus CDU/CSU und SPD zeigen, dass eine numerische Koalitionsfähigkeit noch keine Koalition ergeben muss. Die Zukunft wird erweisen müssen, ob insbesondere aus der anhaltenden Krise des etablierten Parteiensystems eine Krise des Parlamentarismus und damit einhergehend eine [23] der Demokratie wird, denn wenn es zum Vertrauensverlust in das Parlament kommt, „dann sind Gefährdungen auch der Legitimität eines demokratischen Systems und seiner Stabilität nicht unvorstellbar“ (Pickel 2015: 191). Droht der Berliner Republik am Ende doch das Schicksal der Weimarer?