Kitabı oku: «Dem Neuen entgegen leben», sayfa 3

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Erwartungen

Erwartung kann eine sehr belastende Hürde sein, wenn einem selbst bewusst ist, was andere von einem erwarten. Mir war als kleinem Mädchen sehr bald klar, dass die ganze Familie mich in allem und jedem mit meinem im Krieg gefallenen Vater verglich. Das begann mit meinem Aussehen und ging weiter über meine Leistungen und meinen Werdegang. Meine Groß- und Urgroßeltern erwarteten von mir, dass ich tadellos durch die Schule kam. Es war für alle selbstverständlich, dass ich Abitur machen und dann studieren würde. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich in meiner Jugend Formulierungen wie: „Das hätte dein Vater jetzt nicht, oder anders oder besser gemacht, gesagt oder getan“ gehört habe. Ich hörte aber auch: „Das hätte deinen Vater aber gefreut“ oder auch „traurig gemacht.“

Das war ein Kapitel, das mich oft sehr belastete, so dass ich mich in vielen Situationen selbst zu fragen begann: „Was hätte dein Vater jetzt wohl dazu gesagt?“ Erst sehr viel später, als ich schon erwachsen wurde, wurde mir klar, dass man im Vergleich mit einem Toten nur geringe Chancen hat, selbst zu bestehen.


Gerdas leiblicher Vater

Mit zunehmendem Alter allerdings wurde es für mich leichter. Ich war eben kein Junge und es ließ sich nicht alles vergleichen – weil ich nun mal ein Mädchen war. Außerdem absolvierte ich ja problemlos die Schule, und meinen Freiheitsdrang mit beginnender Pubertät badete in erster Linie meine Mutter aus, ohne dass der Rest unserer großen Familie so viel davon mitbekam – jedenfalls glaube ich das.

Es hat mir unendlich geholfen und war mein größtes Glück, dass ich einen zweiten Vater bekam, dass ich zwei Brüder bekam, die mich alle so liebten, wie ich war, die keine Vergleichsmöglichkeiten hatten und daher auch keine Erwartungen in mich setzten, die mich unter Druck gesetzt hätten.

An der Erwartungshaltung der Familie insgesamt aber änderte sich bis heute nicht sehr viel – man erwartete schlicht, dass ich mich so verhielt, wie es sich gehörte. Ich durchlief die Schule, die Universität, den Beruf, bekam die Kinder und zog sie groß – und da ich das alles bis heute mache und also die Erwartungen aller erfülle, ist die Welt in Ordnung – solange ich nicht auf die absurde Idee verfalle, Weihnachten ohne die ganze Familie oder meinen Geburtstag in der Schreibgruppe, statt zu Hause feiern zu wollen.

Der 8. Mai …

Mit den Eltern konnten wir Kinder über die Erfahrungen des 3. Reiches sprechen, nachdem wir alt genug geworden waren, um die Katastrophe zu verstehen und zu ermessen, was dies für uns Deutsche bedeutete.

Im Schulunterricht wurde die neuere Geschichte ausgeblendet, jedenfalls in den unteren Klassen. Das änderte sich erst, als wir 1957 bedingt durch die berufliche Versetzung meines zweiten Vaters – mein leiblicher Vater war im Krieg gefallen – der Berufsoffizier war, nach Frankreich zogen. Wir Kinder kamen auf eine internationale Schule, auf der es auch zwei deutsche Lehrer gab, die das 3. Reich im deutschen Geschichtsunterricht, den die deutschen Schüler zusätzlich erhielten, nicht aussparten. Hier in Frankreich erlebte ich erstmals, wie der 08. Mai 1945, der Tag der deutschen Kapitulation, festlich begangen wurde. Man feierte den „Sieg über Deutschland“.

Zunächst war ich ganz verwirrt; denn ich wusste nicht recht, wie ich damit umgehen sollte. Dann empfand ich, einmal aufmerksam geworden, die in diesen Tagen vor und nach dem 08. Mai zunehmend antideutsche Stimmung in der Schule. Das war auch nur zu verständlich; denn der Krieg war ja erst seit 11 oder 12 Jahren vorbei, also eigentlich erst seit ganz kurzer Zeit. Wir deutschen Schüler bemühten uns, in diesen Tagen durch ganz besonders nettes und freundliches Verhalten gegenzusteuern, und unser deutscher Lehrer versuchte, in Vorträgen aufzuklären und für Entspannung zu sorgen.

In diese Zeit fiel auch ein Ereignis, das mich zutiefst berührte: In meiner Klasse war neben vielen anderen Nationen auch ein italienischer Junge, der besonders nett war und in der Klasse neben mir saß. Je besser mein Französisch wurde, desto besser verstanden wir uns. Er war, wie wir wussten, jüdischen Glaubens. Eines Tages erschien er nicht mehr zum Unterricht und von unserem Klassenlehrer wurde uns lediglich mitgeteilt, dass er die Schule verlassen habe. Ein Grund wurde uns nicht genannt.

Wenige Tage später jedoch kam mein Vater abends ganz erschüttert nach Hause und erzählte uns, dass er morgens im Dienst von dem Direktor unserer Schule angerufen worden sei und dieser ihn um ein Gespräch am Spätnachmittag nach Schulende gebeten habe; denn mein Vater war Elternvertreter für die deutschen Schüler an der Schule. Selbstverständlich fuhr mein Vater sofort nach Dienstschluss in die Schule und begab sich zu Monsieur Tallard, unserem Direktor. Monsieur Tallard eröffnete ihm, dass er wenige Tage zuvor Besuch von den Eltern dieses italienischen Jungen aus meiner Klasse gehabt habe. Die Eltern hätten ihm erklärt, dass sie Juden seien und ihre Familien im Krieg ganz entsetzlich unter dem deutschen Nationalsozialismus gelitten hätten. Zahlreiche Familienmitglieder seien in Konzentrationslagern umgekommen. Und nun hätten sie zu ihrem Entsetzen gehört, dass auch deutsche Schüler diese Schule besuchten und dass ihr Sohn sogar in seiner Klasse neben einem deutschen Mädchen säße. Sie hatten Monsieur Tallard aufgefordert, sofort dafür Sorge zu tragen, dass die deutschen Schüler die Schule verließen und dass vor allen Dingen ihr Sohn nicht mehr mit deutschen Schülern zur Schule gehen und die Schulbank teilen müsse. Der Direktor, ein sehr weltoffener und kluger Mann, hatte den Eltern erklärt, dass sie sich doch in Kenntnis der Tatsache, dass es sich bei diesem Gymnasium um eine internationale Schule handele, für diese Schule für ihren Sohn entschieden hätten und jedes Kind, gleich aus welchem Land, das Recht hätte, diese Schule zu besuchen. Er habe sich große Mühe gegeben, so versicherte er meinem Vater, dieses aufgebrachte Elternpaar zu beruhigen und ihnen sein Mitgefühl für das im Dritten Reich erlittene Unrecht auszudrücken, er habe ihnen aber gleichzeitig erklären müssen, dass er nicht in der Lage sei, Schüler einer Nation von der Schule zu verweisen. Daraufhin hätten die italienischen Eltern sich entschlossen, ihren Sohn von der Schule zu nehmen. Nun hatten wir also die Erklärung für den plötzlichen Verlust unseres Klassenkameraden. Und nicht nur das, wir waren alle zutiefst verstört; denn es war für uns nie ein Thema gewesen, welcher Glaubensrichtung der einzelne Klassenkamerad angehörte. An unserer Schule waren fast alle Religionen vertreten, das war für uns etwas ganz Normales, und nun gab es plötzlich dieses Problem. Ich selbst fühlte mich schuldig, ohne recht zu wissen warum, denn der italienische Klassenkamerad hatte ja neben mir gesessen, wir hatten uns gut verstanden, und sicher hatte er auch zu Hause von mir erzählt, so wie ich von ihm.

In der Folgezeit wurde in unserer Klasse – und nicht nur in unserer, sondern auch in den anderen höheren Klassen – sehr ausführlich im Unterricht über die Katastrophe der Judenverfolgung in Deutschland gesprochen, und vor allen Dingen wir deutschen Schüler stellten fest, wie wenig wir zu diesem Zeitpunkt über das Geschehen in unserer Heimat, das ja nun noch gar nicht so lange zurücklag, wussten. Je mehr ich erfuhr, desto mehr bedauerte ich, dass ich mit meinem so plötzlich verschwundenen Banknachbarn nicht mehr über all das reden konnte, was da Entsetzliches geschehen war, und ihm versichern konnte, wie erschüttert ich war.

Als ich dann für die letzte Klasse, die Oberprima, nach Deutschland zurück auf ein Gymnasium nach Heidelberg wechselte, bekam ich dort eine ganz bemerkenswerte Geschichtslehrerin, Frau Dr. Meyer-Kramer, eine Tochter des ehemaligen Leipziger Oberbürgermeisters Carl Friedrich Goerdeler, der als einer der führenden Köpfe des deutschen Widerstandes im Rahmen der Prozesse um den 20. Juli 1944 hingerichtet worden war. Auch sie machte den 08. Mai 1945 und die ganze Katastrophe des Dritten Reiches zum Gegenstand des Unterrichts und zwar so lebendig, dass meine ganze Klasse das Gefühl hatte, das Vergangene selbst unmittelbar miterlebt zu haben. Es war gleichermaßen bedrückend und befreiend für uns alle.

Aus den Augen verloren und vergessen habe ich den Tag bis heute in keinem Jahr und bis heute denke ich an jedem 08. Mai darüber nach, wie es wohl meinem Klassenkameraden ergangen und was aus ihm geworden ist. Allerdings lernte ich im Studium einen Kommilitonen kennen, mit dem mich bis heute eine herzliche Freundschaft verbindet, der am 08. Mai, allerdings 1943, geboren war, und wir haben seitdem an diesem Tag auch viele schöne und vergnügte Geburtstage gefeiert.

Ein Augenblick

Ich saß im Zug von Heidelberg nach Norden, nach Hause. In vier Wochen wollte ich dort, im Hause meiner Großeltern, meine Hochzeit feiern und es galt, jetzt die letzten Vorbereitungen zu treffen. Glücklich und entspannt saß ich im Zugabteil, las in einem Buch und freute mich auf die geliebten Großeltern und die schöne Zeit, die vor mir lag. Irgendwann, ich wusste nicht genau warum, hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Vorsichtig sah ich mich um und musterte die mit mir im Abteil sitzenden Fahrgäste, auf die ich bisher noch überhaupt nicht geachtet hatte. Zuletzt fiel mein Blick auf eine mir direkt gegenüber sitzende Dame, die mich ebenfalls ansah. Sie war offensichtlich groß, schlank, dunkelhaarig, sah attraktiv aus und war elegant gekleidet. Schnell senkte ich meinen Blick wieder auf mein Buch und versuchte, mich auf seinen Inhalt zu konzentrieren. Es gelang mir nicht richtig und so oft ich auch in Abständen immer wieder kurz aufsah, die dunkelhaarige Dame sah mich an. Ich überlegte, ob es sich noch lohnte, das Abteil zu wechseln; aber ein Blick auf meine Uhr sagte mir, dass wir in einer halben Stunde in Bremen einliefen, wo ich aussteigen musste. Ein Wechsel lohnte sich also nicht mehr. Plötzlich sagte die Dame zu mir: „Es stört Sie, nicht wahr, dass ich Sie so beobachte?!“ „Das kann man wohl sagen“, erwiderte ich, „zumal ich mir nicht erklären kann, warum Sie das tun!“

„Sie erinnern mich sehr stark an jemanden, den ich gut gekannt habe – würden Sie mir wohl Ihren Namen sagen?“

„Nein!“, entgegnete ich, „ich sehe keinerlei Veranlassung, das zu tun!“

„Dann will ich es Ihnen sagen“, entgegnete sie, „heißen Sie Meyer-Bornemann?“ Sie sah meine Verblüffung und setzte hinzu: „Sehen Sie, ich habe Ihren gefallenen Vater sehr gut gekannt – und Sie sehen aus wie er. Ich wünsche Ihnen viel Glück.“

In meiner Verwirrung war ich froh festzustellen, dass der Zug in den Bremer Bahnhof einlief. Ich raffte meine Sachen zusammen und verließ nach kurzem Abschiedsgruß das Abteil. Auf dem Bahnsteig fiel ich meinen Großeltern, die mich erwarteten, in die Arme und berichtete ihnen mein eben gehabtes Erlebnis. „Wie sah die Dame denn aus?“, fragte mein Großvater, und als ich sie beschrieben hatte, sah ich, wie meine Großeltern sich anlächelten, und dann sagte meine Großmutter: „Das war die Dame, die Deinen Vater sehr gerne geheiratet hätte, und er sie wohl auch, nur dann lernte er Deine Mutter kennen.“

Renate Dahms

Geboren 1941 in einem kleinen Vorort von Düsseldorf. Als jüngstes Kind von vier Geschwistern war sie die meiste Zeit sich selbst überlassen. Ihre Gestaltungsfreude war und ist der Motor für ihr Leben. Sie hat in Allem ihr eigenes „Rezept“.

Mein Lied im Wind

Mein Kinderlachen froh und munter

Ward gestört

Durch Bomben laut Gebrüll

Lief die Berge rauf und runter

Nicht ahnend

Dass zurückblieb

Meiner Seele Hüll

Hab die Bomben unversehrt zurückgelassen

Meine Lieder neu gestimmt

Hab gespielt, getanzt

War ausgelassen

Und geglaubt,

dass keiner sie mir nimmt

Viele Lieder habe ich gesungen

Manche Tänze mitgetanzt

Immer wieder um mich selbst gerungen

Manchmal glaubt ich ohne Chance

All die Wunden die das Leben mir geschlagen

Tief und brennend meiner Seele Mantel wurd

Haben mich dann doch getragen

Hin

Zu meinem Lied

Im Wind

Was mich trägt

Nach dem Krieg zog meine Mutter mit uns Kindern – wir waren vier Geschwister – in eine kleine Zweizimmerwohnung am Dorfrand. Mit dabei war auch meine Tante, deren Mann – er war der jüngste Bruder meines Vaters – vermisst gemeldet war. In dem Haus wohnten noch weitere Familien mit ihren Kindern, es verfügte über einen Innenhof und ein kleines Häuschen im Garten mit Herzchen in der Türe.

Wir waren ausgebombt und arm. Wir schliefen zum Beispiel unter dem nackten Plumeau, weil wir für Bezüge kein Geld hatten. Als Kind störte mich diese Armut nicht. Es gab so vieles, an dem ich Freude hatte. Ich liebte die Sommermonate, die mich mit ihren vielfältigen Angeboten aufforderten, kreativ zu werden.

So baute ich am Wegrand vor unserem Haus kleine Gärten oder Osternester und schmückte sie aus, mit allem, was ich auf der Straße vorfand, mit bunten Glasscherben, Stöcken, Blumen und vielem mehr. Ich konnte alles gebrauchen. Ich band Blumenkränze und legte sogar Gärten in Suppentellern an, um meine Mutter zu erfreuen. Wir bauten Buden, in denen wir verbotenerweise unsere Körper erkundeten. Wir ließen die Seilchen durch die Luft fliegen und versuchten, darüber zu springen. Die Häuserwände waren das Ziel unserer Bälle.

Ganz wichtig waren für mich meine akrobatischen Kunststückchen. Aus dem Stand nach hinten eine Brücke bilden, und die Beine immer ein bisschen mehr spreizen, bis sie rechts und links zum Spagat ausgebreitet neben meinem Körper lagen. Kopf- und Handstand so lange an der Wand üben, bis ich auch frei kopfüber stehen konnte. Im Nachhinein glaube ich, dass ich mich bemühte, jemand Besonderes zu sein, weil ich mich als Jüngste von vier Kindern immer unerwünscht gefühlt habe.

Der Innenhof des Hauses, in dem wir gewohnt haben, war im Sommer immer mit Leben erfüllt. Dort wurden Bohnen geschnibbelt, Weißkohl gehobelt und vieles mehr vorbereitet, was für den Winter eingekocht oder eingestampft wurde. Ich liebte es auch, mit meiner Mutter im nahe gelegenen Wald Beeren zu suchen, die später zu Marmelade verarbeitet wurden. Der Innenhof war auch der Treffpunkt der Frauen und Kinder des Hauses. Der pure Luxus war mein Swimmingpool in Form einer alten Zinkbadewanne, die ich Eimer für Eimer mit Wasser füllt, bis ich schließlich genüsslich in das von der Sonne aufgeheizte Wasser stieg und mich darin aalte. Einmal spaltete so ein voller Eimer meinen dicken Zeh. Was machte das schon? Pflaster drauf und weiter ging’s. Passierte ein „Unglückchen“, half die Mutter, die gerade anwesend war.

Im Winter hatte ich eine weitere Möglichkeit gefunden, der Enge und den Streitereien in meiner Familie zu entfliehen. Ich entdeckte Stoff- und Wollreste, mit denen ich nach und nach meine Lust am Gestalten auslebte. Vielleicht war meine Tante, die bei uns wohnte, inzwischen mein Vorbild geworden. Sie nähte für die Leute die schönsten Roben. Ich saß oft bei ihr, schaute zu oder sortierte ihre Knopfkiste, bis ich selbst im Nähen und Handarbeiten aktiv wurde. Zunächst organisierte ich mir Wolle und fing an, mit den Fingern zu häkeln. Viele solcher Luftmaschen zu einem Kreis zusammengenäht, ergaben einen Teppich für meine selbst gebastelte Puppenstube. Aus Stoff bastelte ich kleine Kopfkissen, meine Ideen waren grenzenlos. Ich vermisste nichts.

Später wurde ich auf der Straße „Fritzchen“ gerufen, was ich überhaupt nicht verstand, war ich doch eine Puppenmutter durch und durch. In einem Schreibseminar standen einmal als Impuls unsere Spitznamen im Vordergrund. Bei den gefragten Eigenschaften wurde „Fritzchen“ unter anderem Eigensinnigkeit zugeordnet. Da verstand ich! In der Armut der Nachkriegszeit hatte ich gelernt, meine Kreativität und eigenen Ausdrucksmöglichkeiten zu entwickeln. Eine Fähigkeit, auf die ich später im Leben immer wieder zurückgreifen konnte.

Meine Eltern waren beide durch die Kriegserlebnisse schwer traumatisiert. Mein Vater widmete sein Leben danach seinen Freunden, seinen Tauben und dem Alkohol. Trotzdem gab es Situationen, in denen er mir zur Seite stand. Und vielleicht sogar das Leben rettete. Er trug mich zum Beispiel zum Arzt, als ich schwer verletzt am Straßenrand lag. Ein Pferdefuhrwerk hatte mein Bein überrollt. Meinem Vater verdanke ich auch, dass ich weiterhin auf zwei Beinen durch mein Leben laufen kann, weil er bei den Ärzten durchsetzte, dass sie das verletzte Bein operieren und nicht abnehmen. In den zwei Jahren darauf trug er mich mehrmals durch die Nacht, wenn Krämpfe mich quälten. Er besorgte mir eine Lehrstelle und glättete die Wogen, als ich einmal meine Arbeitsstelle verließ, weil ich mich ungerecht behandelt gefühlt hatte. Eine stabile Beziehung zu seinen Kindern konnte er aber nicht aufbauen. Ich habe ein Bild von meinem Vater, wie er oft betrunken und schlafend auf einem Stuhl saß. Er starb einsam mit 57 Jahren an Speiseröhrenkrebs.

Meine Mutter hat nach der Rückkehr meines Vaters aus der Gefangenschaft mehr oder weniger den „Löffel“ abgegeben. So sagt man eigentlich, wenn jemand gestorben ist. Meine Mutter starb über mehr als 20 Jahre Stück für Stück. Als meine Schwester plötzlich mit 33 Jahren starb, gab sie sich ganz auf. Sie starb, einsam wie mein Vater, mit 67 Jahren an Herzversagen.

In den vielen Jahren nach Kriegsende und dem Ende meiner Kindheit merkte ich, dass auch ich durch die Traumatisierung meiner Eltern in meiner Lebensgestaltung stark begrenzt war. Ich hatte nie eine Mutter, die ich um Rat fragen oder auf die ich stolz sein konnte. Ich hasste sie, weil sie nicht für sich gekämpft hatte. Am Ende ihres Lebens zeigten ihre Hände die Folgen ihrer Lebenshaltung. Sie waren zu Fäusten gekrümmt. Jetzt konnte sie wirklich nicht mehr. Ihr Satz „Das kann ich nicht“, sollte für mein Leben nicht stimmen.

Es war schließlich meine Kreativität, die ich in der Armut der Nachkriegsjahre entwickelt hatte, die mir half, den Satz meiner Mutter umzukehren. Meine Tochter drückte es einmal so aus: „Ich brauche, um was Schönes zu gestalten, Geld. Du machst aus Scheiße was!“

Bunt die Wege in meinem Leben

Verschlungen

Verknotet

Voll Musik.

Bewegungsreich

Mit Sonnenlandschaften

An steinernen Wegflächen

Über Hängen schön.

Zwischen buntem Wiesengrün

Manchmal langsam

Wie eine Nacktschneckenparade.

Mein Leben

Ist wie eine Thymianwolke

Die durch

Kühle Morgenstille weht.

Mein Leben ist Vielfalt

Und bleibt in

Gott.

Ingrid Denzel

Am 8. Juli 1949 in Bad Pyrmont geboren. Obwohl Wunschkind, blieb sie Einzelkind, nicht zuletzt, weil ihr Vater körperlich wie seelisch vom Krieg schwer traumatisiert war. Die Tatsache, dass sie Einzelkind und außerdem rothaarig war, ließ sie oft zur Außenseiterin werden. Allerdings fühlte sie sich in ihrer Familie, Mutter, Vater, Oma, Opa, Tanten, (weniger bei den Onkels) geborgen und unterstützt, was dazu beitrug, dass sie sich mutig und kämpferisch statt schüchtern und zurückhaltend zeigte.

Warum hat niemand den Juden geholfen?

Hätte der Zweite Weltkrieg nicht stattgefunden, hätten meine Eltern sich wohl kaum kennen gelernt. Mein Vater stammte aus einer Handwerker- und Bauernfamilie aus Lauenburg/Leba in Hinterpommern, meine Mutter aus einer in prekären Verhältnissen lebenden, kinderreichen Familie aus Dortmund. Der Krieg wirbelte alles durcheinander. – Mein Vater, der seine Kriegsverletzung im Lazarett in Bad Pyrmont ausheilte, verliebte sich dort bei einem Tanzabend in meine Mutter, die als Zimmermädchen und Serviererin in einem Kurhotel in Stellung war und an diesem Abend Ausgang hatte. Mein Vater musste wieder an die Front und kam in russische Gefangenschaft. Nach Kriegsende wurde er wegen seiner Kriegsverwundung an der Hand schnell entlassen, traute sich aber zunächst nicht zu seiner Verlobten, weil er wegen der Entlausung eine Glatze hatte und sich entstellt vorkam. Erst nachdem seine Haare wieder nachgewachsen waren, begab er sich nach Bad Pyrmont, wo meine Mutter verzweifelt auf ihn gewartet hatte.

Sie heirateten am 25. Dezember 1945. Ich wurde 1949 geboren und blieb das einzige Kind meiner Eltern. Meine Mutter wollte auf keinen Fall eine große Familie, weil sie die Not und das Elend ihrer Mutter mit neun Kindern und einem arbeitslosem Mann vor Augen hatte. Mein Vater, so wurde mir immer wieder gesagt, sei zu nervös, um mehr als ein Kind zu ertragen. Ich hörte oft, ich solle Rücksicht auf meinen Vater nehmen, er habe im Krieg so viel Schlimmes erlebt. Wenn ich hingefallen war oder mir sonst wie wehgetan hatte, traute ich mich meist nicht zu weinen, denn mein Vater schimpfte mich deswegen nicht nur aus, weil ich zu wild gewesen sei, sondern er gab mir mit seiner kriegsverletzten Krallenhand auch Ohrfeigen. Einer seiner Sprüche hieß: „Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder.“

Vieles war ich seiner Meinung selber Schuld. Hatte ich mal wieder „Magen-Darm-Katarrh“, wie es damals von ärztlicher Seite hieß, hatte ich bestimmt zu viel Süßes, Fettiges oder sonst etwas Falsches gegessen. Mitgefühl zeigte er selten. Meine Mutter tröstete mich dann und schob alles auf das Kriegselend, das meinen Vater so schwer getroffen hatte, dass er nicht ertragen könne, sein Liebstes, und das sei ich nun mal, leiden zu sehen. Auch die Jähzornanfälle, die er bekam, gab ich Widerworte, war ich unpünktlich oder unordentlich, kamen ihrer Meinung nach daher. „Deutsche Tugenden sind Pünktlichkeit, Ordnung und Fleiß“, lautete ein weiterer Ausspruch meines kriegsbeschädigten Vaters. Nach so einem Jähzornanfall war mein Vater immer ganz zerknirscht und merkwürdig still. Ich wusste: „Jetzt kann ich ihn um den Finger wickeln“ und manchmal nutzte ich es schamlos aus.


Ingrid und ihr Vater

Je älter ich wurde, desto mehr lernte ich mit meinem traumatisierten Vater umzugehen, Aber auch als kleineres Kind konnte ich einiges gut nachvollziehen. Wenn ich mir seine durch eine Schussverletzung verkrüppelte Hand anschaute, hatte ich starkes Mitleid mit ihm. Als er mir einmal vom Krieg erzählte, wie er in Lebensgefahr gewesen sei, versicherte ich ihm, ich sei damals ein Engel gewesen und habe ihn beschützt. Es war einer dieser kostbaren innigen Momente, die es eben auch hin und wieder zwischen uns gab. Besonders nah fühlte ich mich ihm, wenn er von Pommern erzählte. Ganz speziell bei Geschichten, in denen er als kleiner Junge Streiche gespielt hatte und dafür von seinem Vater, meinem Opa, bestraft worden war. Aber auch, wenn er von dem schönen Haus mit großem Garten und den Kaninchen, Ziegen, Hunden und Katzen erzählte. „Wir sind aus unserer Heimat von den Russen vertrieben worden, weil wir den Krieg verloren haben“, sagte er dann. „Ich bin auch aus meiner Heimat vertrieben worden“, entgegnete ich und meinte damit unseren Umzug aus dem idyllischen Bad Pyrmont nach Düsseldorf, wo es noch hässliche zerbombte Trümmergrundstücke gab und wo mir alles ganz fremd war.

Das Erzählen vom Krieg, von marschierenden Soldaten, von Vertreibung, vom Mangel an Lebensmittel, vom Hamstern, von in Bunkern verschütteten und zu Tode gekommenen Verwandten, von den Tannenbäumen am Himmel, bevor die Bomben einschlugen, von Vertreibung und Gewalt begleitete meine Kindheit und beeindruckte mich so, dass ich mehrmals von Alpträumen geplagt – Soldaten marschierten um mein Kinderbett – schreiend aufwachte und in das Bett meiner Eltern floh, wo sich der Traum, sobald ich einschlafen wollte, zu wiederholen begann. Nur die Körpernähe, Wärme, der vertraute Geruch meiner Eltern und die Versicherung, dass es nie wieder Krieg gäbe und dass wir ja Glück gehabt hatten, konnten mich dann beruhigen.

Ich muss ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein, als ich im Schulfunk eine Sendung über die Judenverfolgung hörte. Es wurde über die Konzentrationslager gesprochen, über die Selektion von Alten, Gebrechlichen und Kindern an den Rampen und über deren Vernichtung im Gas. Das war so grausam, so unglaublich entsetzlich für mich, davon zu hören. Ich saß an dem Nachmittag allein vor dem Radio und war völlig verstört. So hatte mir noch niemand darüber etwas erzählt. Es gab – wenn überhaupt – nur vage Andeutungen und Äußerungen wie: „Bei uns in der Gegend gab es keine Juden.“ Oder: „Wir haben keinem Juden was getan.“ Als meine Mutter an diesem Nachmittag nachhause kam, fiel ich sofort über sie her. Ich fragte sie, ob sie das gewusst hätte mit dem Vergasen, und warum niemand den Juden geholfen hätte, und wie jemand so etwas hätte tun können. Meine Mutter wollte mich beschwichtigen, sie erklärte mir, sie hätte geglaubt, die Juden wären nach Israel ausgewiesen worden, und sie habe nicht so genau Bescheid gewusst, sie sei noch zu jung gewesen. Später habe sich keiner getraut, etwas gegen Hitler zu sagen, weil alle wussten, sie kämen ins KZ. Ich konnte mich nicht beruhigen und es wurde noch schlimmer, als sie mir erzählte, sie habe später gehört, dass die Menschen gedacht hätten, sie würden geduscht, und nichts von ihrem Tod gemerkt hätten.

Wie unser Gespräch endete, weiß ich heute nicht mehr, nur dass mich das Grauen bis heute nicht verlassen hat, dass so etwas geschehen ist. Leider weiß ich inzwischen auch, wie schwer es ist, in einem totalitären Regime etwas zu bewirken; wie perfide der Mechanismus von Bespitzelung und Denunziation funktioniert. Ich hätte gerne so viel Mut zum Widerstand, wie es einige wenige besessen haben, aber ob ich es geschafft hätte?

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