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GERTRUD VON DEN BRINCKEN (1892 – 1982)


Gertrud von den Brincken kommt am 18. April 1892 als Tochter des Gutsbesitzers Maximilian Baron von den Brincken und seiner Frau Louise geb. von Bistram auf dem kurländischen Familiengut Brinck-Pedwahlen (heute Lettland) zur Welt.

Ihre schulische Ausbildung erhält sie in Mitau (Jelgava). Mit 19 Jahren veröffentlicht sie ihren ersten Gedichtband. 1919 wird das Gut enteignet und sie muss für sich und ihre Mutter und Schwester – der Vater ist 1904 verstorben – den Lebensunterhalt verdienen.

1925 heiratet sie den aus Österreich stammenden, an der Universität Dorpat (Tartu) wirkenden Philosophieprofessor Walther Schmied-Kowarzik. Sie ziehen 1927 berufsbedingt nach Frankfurt am Main und über Umwegen 1939 nach Mödling bei Wien. Nach Vertreibung durch die Rote Armee und entbehrungsreichen Flüchtlingsjahren lebt und schreibt Gertrud von den Brincken ab 1950 bis zu ihrem Tode in Regensburg.

In ihren Gedichten und Romanen spiegeln sich schicksalhafte Grenzsituationen, wie sie sie in ihrem langen Leben zum Teil selber erfahren hat – getragen von der Überzeugung, dass wir Menschen verantwortlicher Teil von Gottes Schöpfung sind.

GERTRUD VON DEN BRINCKEN

LAND UNTER (1919)

3. ERSCHIESSUNGEN

Ein dunkles, wenn nicht das dunkelste Kapitel baltischer Geschichte vollzog sich auf dieser Straße vor unseren Fenstern.

Der Ruf: »Sie kommen!« schlug als ungezügeltes Frohlocken gegen unsere Scheiben. Wir wußten, wen der Ruf meinte, den die Straßenkinder, die Marktweiber und herumlungernden ›Paschpuiken‹, die ›Halbstarken‹, von Hoftor zu Hoftor weitergaben. Und jetzt kamen sie, die man aus dem Gefängnis am Marktplatz, die lange Straße hinunter, hinauf zum Galgenberg trieb. Wenn wir auch die wenigsten persönlich kannten, wir erkannten sie sofort – an ihrem Gang, ihrer Haltung, ihrem Blick. Baron Sacken aus Dondangen, Baron Roenne aus Puhren, die beiden weißhaarigen Petertalschen Heykings und viele, viele andere noch. Sie schritten nebeneinander, drei oder vier, von Rotgardisten eskortiert. Sie trugen Schaufeln über den Schultern, um droben die Grube im steinhart gefrorenen Boden auszuheben, in die man sie hineinstoßen würde. Das Schaufeln mochte für manch einen alten gebrechlichen Herrn das Schwerste in seiner letzten Stunde gewesen sein. Ältere und Jüngere waren unter ihnen, doch wenn sie über das eisverkrustete Straßenpflaster schritten – aufrecht, ohne zu stolpern, in gleichem Schritt und Tritt, die schaufeltragenden Schultern zurückgestemmt., die farblosen Gesichter zum hellfarbenen Horizontstreifen gehoben, der den Galgenberg wie mit einer Aureole umschloß, – dann schien es keinen Altersunterschied zwischen ihnen zu geben. Der gleiche Ausdruck sprach aus den zusammengepreßten Lippen, den kühl geradeaus blickenden Augen: etwas unantastbar Entrücktes – Zeitlosigkeit.

Meistens trabte die Begleitmannschaft mürrisch neben ihnen her, sie nur ab und zu mit einem gebellten: »Skarej! shigli! shigli!« antreibend. Nur einmal ließen die Treiber in torkelnder Betrunkenheit ihrer Lust an diesem dramatischen Akt freien Lauf. Der eine vergnügte sich damit, dem vor ihm Schreitenden den Gewehrkolben in den Rücken zu puffen, ein anderer stülpte seine Fellmütze dem barhäuptigen Greise vor sich über das Gesicht. Jeder Einfall, mit brüllendem Gelächter vollführt, fand in brüllendem Gelächter seinen Applaus. Lettische Augenzeugen lieferten später Bericht über das Geschehen auf der Hinrichtungsstätte – auch von anderen Hinrichtungsstätten, auf denen sich gleiches vollzogen: Probst Bernewitz aus Kandau hatte die Hände zu den Wolken gehoben und mit lauter Stimme gebetet – auf Lettisch, denn er war ja auch der Seelenhirte der lettischen Gemeinde gewesen: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« Nicht einer hatte um Gnade gebettelt, nicht einer gezittert. Viele hatten ein Gebet gesprochen, nicht nur der Probst, für den sich sowas gehörte. Auch die Petertalsche Baronesse, die so unklug gewesen war, auf der Uniform des Milizmannes, der ihren Vater und Onkel holen kam, mit den Fäusten zu trommeln, was natürlich keine Uniform dulden wollte, kein Zarenoffizier und kein Milizer, Und dabei hatte sie gerufen: »Das werdet ihr büßen, wenn meine Brüder wieder da sind, dann – –« Vier Söhne aus Petertal ritten mit in den Reitertruppen der Baltischen Landeswehr. Der Milizer, auf dem die Baronesse getrommelt hatte, packte sie kurzerhand an der Schulter: »Na, da kannst du gleich mitkommen, so eine wie du hat uns gerade noch gefehlt!« Und der Baron aus Puhren hatte gelächelt, als man auf ihn anlegte, genau so, wie man ihn oft hatte lächeln gesehn, wenn er über seinen Gutshof schritt.

Sie waren keine Heiligen, aber daß sie richtige Herren gewesen waren bis zuletzt, gestand die Bevölkerung ihnen zu. Nicht von jener Sorte, die sich selbst dazu machen wollte, wie früher die russischen Tschinowniks und dann die im Kriege, die in den Kreisämtern gesessen hatten. Diese aber waren richtige Herren gewesen – auf ihren Gütern und auf dem Galgenberge. Man konnte hinaufgehn und sichs anschaun. Von einigen wurde erzählt, daß sie noch gelebt hätten in der Grube unter dünner Sand- und Eisschicht. Einer hatte sich anscheinend mit dem Oberkörper aufzurichten versucht, ein anderer die Finger um eine Wurzel gekrallt, die dort aus dem Sande stieß.

Ja, wir wußten, was der Ruf »Sie kommen« besagte, wußten, wer sie waren, woher sie kamen und wohin sie gingen.

Es war etwas anderes als Hoffnung, was ihre Schritte so sicher, ihre Haltung so straff, ihre Augen so gleichmütig machte, als sie mit geschulterten Schaufeln zum Galgenberg hinaufschritten, wo sie vielleicht beten, vielleicht lächeln würden, vielleicht wortlos zum granitnen Denkmal hinüberblicken, das nicht ihnen galt: ›Das Vaterland seinen Heldensöhnen‹. Und ihr letzter, vielleicht nicht ganz zu Ende gedachter Gedanke würde vielleicht vom dickvergoldeten Pathos drüben abgleiten und noch einmal die dunklen Wälder umfassen, hinter denen … Nein, kein Vaterland wird von uns reden, kein Ehrenmal, kein Geschichtsbuch … ach, was kommt es auf Worte an … nur auf … auf ganz etwas anderes … und daß wir – und wie wir … nur darauf kommt es an …

QUELLE: Gertrud von den Brincken: Land unter. Erlebnisse aus zwei Weltkriegen, Bolschewikenzeit und Nachkriegsjahren; © J. G. Bläschke Verlag Darmstadt, 1976

ARTHUR KOESTLER (1905 – 1983)


Arthur Koestler wird am 5. September 1905 in Budapest als Sohn eines deutschsprachigen Industriellen geboren. 1919 zieht die Familie aufgrund der rumänischen Besetzung von Budapest nach Wien. Sein 1922 begonnenes Studium bricht Koestler ab und geht als Anhänger des Zionismus nach Palästina. Seine Berichte hierüber werden in der »Vossischen Zeitung« in Berlin veröffentlicht. Nachdem er 1931 der KPD beigetreten ist, bereist Koestler 1932/​33 die Sowjetunion. 1937 geht er als Kriegsberichterstatter nach Spanien, wo er von den Truppen Francos gefangengenommen wird. Seine Erlebnisse und seine Freilassung schildert er im »Spanischen Testament«. Die stalinistischen Säuberungen und Schauprozesse 1937/​38 führen zum Bruch mit dem Kommunismus, den er 1940 in »Sonnenfinsternis« schildert.

Koestler wird britischer Soldat und 1948 britischer Staatsbürger. Ab Mitte der 50er Jahre wendet er sich naturwissenschaftlichen und parapsychologischen Themen zu. Zu seinen Veröffentlichungen gehören u. a. »Die Nachtwandler« (1959), »Das Gespenst in der Maschine« (1967) und »Die Wurzeln des Zufalls« (1972).

Angesichts seiner Parkinson- und Leukämieerkrankung begeht er 1983 zusammen mit seiner dritten Ehefrau Cynthia Selbstmord. Sein Vermögen stiftet er für die Einrichtung eines Lehrstuhls für Parapsychologie an der University of Edinburgh.

ARTHUR KOESTLER

SONNENFINSTERNIS

DAS ZWEITE VERHÖR

»Wird die Existenz der Kirche bedroht, so ist diese sogar von den Moralgesetzen dispensiert. Der Zweck der Einheit heiligt jedes Mittel, List, Trug, Gewalt, Geldspenden, Kerker, Tod. Denn alle Ordnung ist um der Gesamtheit willen da, und der einzelne muß dem allgemeinen Wohle weichen.«

Dietrich von Nieheim: Über die Art, auf einem allgemeinen Konzil die Kirche zu einigen und zu reformieren, A. D. 1411

1

Auszug aus dem Tagebuch von N. S. Rubaschow, am fünften Tag der Haft:

… Wer letzten Endes recht behält, muß vorletzten Endes immer unrecht haben und unrecht tun. Aber wer letzten Endes recht behält, stellt sich erst später heraus. Inzwischen müssen wir auf Kredit handeln und unsere Seele dem Teufel verkaufen in der Hoffnung, daß uns die Geschichte die Absolution erteilt.

Es wird erzählt, daß Nummer Eins (Stalin) den »Fürsten« des Machiavelli ständig auf seinem Nachttisch liegen hat. Und mit Recht: seit damals wurde nichts wesentlich Neues über die Regeln politischer Ethik gesagt. Wir waren die ersten, die die liberale Ethik des neunzehnten Jahrhunderts, die Ethik des Fair Play, durch die revolutionäre Ethik des zwanzigsten Jahrhunderts ersetzten. Auch damit hatten wir recht: eine Revolution, die nach den Regeln des Tennisspiels geführt wird, ist eine Absurdität. In den Atempausen der Geschichte kann man relativ faire Methoden der Politik gebrauchen; an ihren kritischen Wendepunkten ist keine andere als die alte Regel möglich, daß der Zweck die Mittel heilige. Wir haben den Neo-Machiavellismus in dieses Jahrhundert eingeführt; die anderen, die konterrevolutionären Diktaturen, sind plumpe Kopien. Wir waren Neo-Machiavellisten im Namen der universalen Vernunft – das war unsere Größe; die anderen im Namen nationaler Romantik – das war ihr Anachronismus. Deshalb werden wir letzten Endes von der Geschichte absolviert werden, sie nicht …

Aber im Augenblick denken und handeln wir auf Kredit. Da wir alle Konventionen und Regeln der Tennismoral über Bord geworfen haben, ist unsere einzige Richtlinie die der logischen Konsequenz. Wir stehen unter dem furchtbaren Zwang, unsere Gedanken bis in ihre letzte Konsequenz zu Ende zu denken und zu Ende zu handeln. Wir segeln ohne Ballast; daher ist jede kleinste Drehung am Steuerrad eine Frage von Leben und Tod.

Vor kurzem wurde unser führender Agrarchemiker B. mit dreißig seiner Mitarbeiter erschossen, weil er die Meinung verfocht, daß Stickstoffdünger dem Kalidünger überlegen sei. Nummer Eins war für Kali; daher mußten B. und die dreißig als Saboteure liquidiert werden. In einer staatlich zentralisierten Landwirtschaft ist die Alternative Stickstoff oder Kali von ungeheurer Bedeutung; sie kann den Ausgang des nächsten Krieges entscheiden. Wenn Nummer Eins recht behält, wird ihm die Geschichte die Absolution erteilen und die Hinrichtung von 31 Menschen eine bloße Bagatelle sein. Wenn er unrecht hat …

Darauf allein kommt es an: wer objektiv recht hat. Aber die Tennismoralisten regen sich über ein ganz anderes Problem auf; nämlich ob B. subjektiv in gutem Glauben handelte, als er Stickstoff empfahl. Handelte er in gutem Glauben, dann muß er nach ihrer Ethik freigesprochen werden und damit die Möglichkeit haben, weiter Stickstoff zu propagieren, auch wenn das Land daran zugrunde geht …

All dies ist natürlich kompletter Unsinn. Für uns existiert die Frage des subjektiven guten Glaubens nicht. Wer unrecht hat, muß bezahlen; wer recht behält, wird freigesprochen. Dies ist das Gesetz des historischen Kredits; dies war unser Gesetz.

Die Geschichte hat uns gelehrt, daß man ihr mit einer Lüge oft besser als mit einer Wahrheit dient; denn der Mensch ist träge und muß jedesmal vierzig Jahre lang durch die Wüste geführt werden, ehe er die nächsthöhere Stufe seiner Entwicklung erreicht. Er muß durch die Wüste getrieben werden mit Drohungen und Lockungen, mit erfundenen Schrecken und erfundenen Tröstungen, auf daß er sich nicht vorzeitig zur Ruhe setzt und sich mit der Anbetung goldener Kälber vergnügt.

Wir haben die Geschichte gründlicher als die anderen gelernt. Was uns von allen anderen unterscheidet, ist unsere logische Konsequenz. Wir wissen, daß die Geschichte Tugend nicht belohnt und Verbrechen ungestraft läßt; daß jedoch jeder Mißgriff Konsequenzen trägt und sich bis ins siebente Glied rächt. Wir haben daher unsere Kräfte darauf konzentriert, Mißgriffe zu vermeiden und im Keim zu ersticken. Niemals in der Geschichte war so viel Macht über die Zukunft der Menschheit in so wenigen Händen konzentriert wie hier. Jede falsche Idee, die zur Tat wird, ist hier ein Verbrechen an den kommenden Generationen. Daher strafen wir falsche Ideen, so wie andere Verbrechen strafen: mit dem Tode. Man hielt uns für verrückt, weil wir jeden Gedanken zu Ende dachten und zu Ende handelten. Wir wurden mit der heiligen Inquisition verglichen, weil wir, wie die Inquisitoren, uns ständig der Bürde der Verantwortung für die überindividuelle Zukunft bewußt waren. Wir glichen den großen Inquisitoren, indem wir dem Keim des Übels nicht nur in den Taten, sondern in den Gedanken unserer Mitmenschen nachspürten. Wir erkannten dem Individuum keine private Sphäre zu, nicht einmal im Innern seines Schädelraums. Wir lebten unter dem Zwang, alles logisch zu Ende zu denken. Unser Denken war mit solcher Hochspannung geladen, daß die geringste Reibung zu tödlichen Kurzschlüssen führte. Daher mußten wir aneinander verbrennen.

Ich war einer von ihnen. Ich habe gedacht und gehandelt, wie ich mußte; ich habe Menschen zerstört, die mir nahestanden, und anderen Macht verliehen, die ich nicht mochte. Die Geschichte hat mich auf meinen Platz gestellt; ich habe den Kredit, den sie mir einräumte, erschöpft; wenn ich recht behalte, habe ich nichts zu bereuen, wenn ich unrecht habe, werde ich bezahlen.

Aber wie kann man in der Gegenwart entscheiden, wem die Zukunft recht geben wird? Wir versehen das Amt von Propheten ohne deren Gabe. Anstelle von Visionen bedienten wir uns der logischen Deduktion; aber wenngleich wir alle von denselben Prämissen ausgingen, sind wir jeder zu andern Resultaten gelangt. Beweis stand gegen Beweis, und schließlich mußten wir denn doch beim Glauben unsere Zuflucht suchen – beim axiomatischen Glauben an die Richtigkeit der eigenen Beweisführung. Dies ist der entscheidende Punkt. Wir haben allen Ballast über Bord geworfen; nur ein einziger Anker hält uns fest: der Glaube an uns selbst. Geometrie ist die reine Verkörperung der menschlichen Vernunft; aber die Axiome Euklids können nicht bewiesen werden. Wer an sie nicht glaubt, dem stürzt das ganze Gebäude zusammen.

Nummer Eins glaubt an sich selbst, mit einem zähen, trägen, finstern, unerschütterlichen Glauben. Er hat die solideste Ankerkette von allen. Meine wurde in diesen letzten Jahren dünn gerieben …

Tatsache ist, daß ich nicht länger an meine eigene Unfehlbarkeit glaube. Daher bin ich verloren …

2

Am Tag nach dem ersten Verhör saß der Untersuchungsrichter Iwanoff mit seinem Kollegen Gletkin nach dem Abendbrot in der Beamtenkantine des Gefängnisses. Iwanoff war müde, er hatte das Bein mit der Prothese auf den Nebenstuhl gestützt und den Kragen seiner Uniform geöffnet. Er schenkte von dem billigen Wein ein, den die Kantine lieferte, und wunderte sich im stillen über Gletkin, der in seiner gesteiften Uniform, die bei jeder Bewegung knirschte, aufrecht auf seinem Sessel saß und nicht einmal seinen Revolvergurt abgelegt hatte, obwohl er ebenso müde sein mußte wie Iwanoff. Gletkin trank; die auffallende Narbe auf seinem kahlrasierten Schädel hatte sich leicht gerötet. Außer den beiden saßen nur noch drei Offiziere an einem entfernten Tisch in der Kantine; zwei spielten Schach, der dritte sah zu.

»Was ist mit Rubaschow?« fragte Gletkin.

»Er ist ziemlich mitgenommen«, antwortete Iwanoff. »Aber er ist immer noch der alte Logiker. Daher wird er kapitulieren.«

»Das halte ich für falsch«, bemerkte Gletkin.

»Doch«, sagte Iwanoff. »wenn er alles logisch zu Ende gedacht hat, wird er kapitulieren. Es kommt jetzt darauf an, daß man ihn in Ruhe läßt. Ich habe ihm Papier, Bleistift und Zigaretten bewilligen lassen, damit es mit dem Denken rascher vorwärts geht.«

»Das halte ich für falsch«, wiederholte Gletkin.

»Du magst ihn nicht«, sagte Iwanoff, »du hast vor ein paar Tagen einen Auftritt mit ihm gehabt?«

Gletkin dachte an die Szene, als Rubaschow auf der Pritsche gesessen und sich in seiner Gegenwart den Schuh über die löchrige Socke gezogen hatte. »Das ist gleichgültig«, sagte er, »die Person ist gleichgültig. Ich halte die Methode für falsch. So wird er nie zu Kreuze kriechen.«

»Wenn Rubaschow kapituliert«, sagte Iwanoff, »tut er es nicht aus Feigheit, sondern aus Logik. Mit der harten Methode ist bei ihm nichts auszurichten. Der ist aus einem gewissen Material, das immer spröder wird, je mehr man darauf herumhämmert.«

»Das ist Gerede«, sagte Gletkin. »Menschen, die jedem physischen Druck gewachsen sind, gibt es nicht. Ich habe noch keinen gesehen. Die Erfahrung lehrt, daß die Widerstandskraft des menschlichen Nervensystems von Natur begrenzt ist.«

»Dir möchte ich auch nicht in die Hände geraten«, sagte Iwanoff lächelnd, aber mit einer Spur von Unbehagen. »Übrigens bist du die lebende Widerlegung deiner Theorie.«

Sein lächelnder Blick streifte die Narbe auf Gletkins Schädel. Die Geschichte der Narbe war allgemein bekannt. Als Gletkin während des Bürgerkriegs der Gegenseite in die Hände gefallen war, hatten sie einen glimmenden Kerzendocht auf seinem kahlrasierten Schädel festgebunden, um eine bestimmte Information von ihm zu erpressen. Die Seinen, die einige Stunden später die Stellung zurückeroberten, fanden ihn bewußtlos. Der Docht war bis zum Ende gebrannt; Gletkin hatte geschwiegen.

Er sah mit seinen ausdruckslosen Augen Iwanoff an: »Das ist auch Gerede«, sagte er. »Ich kroch nicht zu Kreuze, weil ich ohnmächtig wurde. Wäre ich noch eine Minute bei Bewußtsein geblieben, hätte ich gesprochen. Es ist eine Frage der Konstitution.«

Er trank sein Glas mit einer abgemessenen Bewegung aus; seine Manschetten knirschten, als er es wieder auf den Tisch stellte. »Als ich damals aufwachte, glaubte ich zuerst, daß ich gesprochen hätte. Erst die beiden Unteroffiziere, die mit mir befreit wurden, bestätigten das Gegenteil. Daraufhin bekam ich den Orden. Es ist eine Frage der Konstitution; alles andere sind Legenden.«

Iwanoff trank gleichfalls. Er hatte schon ziemlich viel von dem billigen Wein getrunken. Er zuckte die Achseln:

»Seit wann hast du deine berühmte Konstitutionstheorie? Schließlich, in den ersten Jahren gab es diese Methoden noch nicht. Damals waren wir noch voller Illusionen. Wir wollten die Straf- und Vergeltungstheorie abschaffen und Sanatorien mit Blumengärten für die asozialen Elemente errichten. Alles blauer Dunst.«

»Das glaube ich nicht«, widersprach Gletkin. »Du bist ein Zyniker. In hundert Jahren werden wir das alles haben. Jetzt müssen wir erst durch. Je schneller, um so besser. Illusion war nur, zu glauben, daß der Zeitpunkt bereits gekommen ist. Als ich hierher versetzt wurde, lebte ich auch in diesem Irrtum. Die meisten von uns, der ganze Apparat, bis hinauf. Wir wollten gleich mit den Blumengärten anfangen. Das war falsch. In hundert Jahren werden wir an die Vernunft und an den Gemeinschaftssinn des Häftlings appellieren können. Heute müssen wir uns noch an seine Konstitution halten und ihn, wenn es nötig ist, moralisch und physisch zerbrechen.«

Iwanoff fragte sich, ob Gletkin im Trunke sprach. Aber an seinem ruhigen und ausdruckslosen Blick merkte er, daß Gletkin nicht betrunken war. Iwanoff lächelte ihn etwas vage an. »Mit einem Wort«, sagte er, »ich bin der Zyniker und du bist der Moralist.«

Gletkin schwieg. Er saß steif auf seinem Stuhl, in seiner gestärkten Uniform; sein Revolvergurt roch nach neuem Leder.

»Vor mehreren Jahren«, sagte Gletkin nach einer Weile, »wurde mir ein kleiner Bauer zum Verhör vorgeführt. Das war in der Provinz, noch zur Zeit der Blumengartentheorie, wie du sagst. Es ging bei den Verhören sehr vornehm zu. Der Bauer hatte sein Getreide vergraben; es war zu Beginn der Sozialisierung des Bodens. Ich hielt mich streng an die vorgeschriebene Etikette. ich setzte ihm freundlich auseinander, daß wir das Getreide für die Ernährung der wachsenden Stadtbevölkerung und für den Export brauchten, um die Industrie aufzubauen; also sollte er mir sagen, wo er das Getreide versteckt hatte. Der Bauer hatte, als man ihn in mein Zimmer führte, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, weil er Prügel erwartete. Ich kannte die Sorte, ich bin selbst vom Dorfe. Als ich, statt ihn zu prügeln, auf ihn einzureden begann, mit ›Sie‹ und ›Bürger‹, hielt er mich für schwachsinnig. Ich sah es seinen Augen an. Ich redete eine halbe Stunde auf ihn ein. Er machte den Mund nicht auf und bohrte abwechselnd in der Nase und im Ohr. Ich redete weiter, obwohl ich sah, daß er das Ganze für einen herrlichen Spaß hielt und überhaupt nicht zuhörte. Sein Gehör war für Argumente taub. Es war verstopft vom Ohrenschmalz vieler Jahrhunderte patriarchalisch-feudaler Verblödung. Ich hielt mich streng an die Etikette; es kam mir nicht einmal der Gedanke, daß es auch andere Methoden gibt …

Ich hatte damals täglich zwanzig bis dreißig solcher Fälle. Meine Kollegen gleichfalls. Die Revolution war in Gefahr, an diesen kleinen, fetten Bauern zugrunde zu gehen. Die Arbeiter waren unterernährt; in ganzen Distrikten mit armen Bauern herrschte Hungertyphus; wir hatten keine Devisen für den Aufbau der Kriegsindustrie und erwarteten von Monat zu Monat den Überfall. Zweihundert Millionen in Gold staken in den Wollstrümpfen dieser Kerle, und die halbe Ernte lag unter der Erde vergraben. Und bei den Verhören sagten wir ›Bürger‹ und ›Sie‹ zu ihnen, während sie uns mit ihren dumm-listigen Augen anblinzelten, das Ganze für einen herrlichen Spaß hielten und in ihren Nasen bohrten.

Das dritte Verhör meines Männchens fand um zwei Uhr nachts statt; ich hatte vorher achtzehn Stunden durchgearbeitet. Man hatte ihn geweckt; er war schlaftrunken und verängstigt und verriet sich. Von da an nahm ich meine Leute vorwiegend nachts dran … Einmal beklagte sich eine Frau, daß man sie vor meinem Zimmer die ganze Nacht lang hatte stehend warten lassen. Sie zitterte in den Beinen und war physisch fertig; mitten im Verhör schlief sie ein. Ich weckte sie, sie redete weiter, mit einer schlaftrunken-lallenden Stimme, ohne recht zu wissen, was sie sagte, und schlief wieder ein. Ich weckte sie wieder, und sie gestand alles und unterschrieb ungelesen das Protokoll, damit ich sie bloß schlafen ließ. Ihr Mann hatte zwei Maschinengewehre auf dem Heuboden versteckt und die Bauern in seinem Dorfe überredet, das Getreide zu verbrennen, weil ihm im Traum der Antichrist erschienen sei. Daß die Frau die ganze Nacht aufrecht hatte stehen müssen, war eine Schlamperei meines Sergeanten; von da an begünstigte ich Schlampereien; hartnäckige Fälle mußten bis achtundvierzig Stunden aufrecht an einem Fleck stehen bleiben; nachher war das Ohrenschmalz weg, und man konnte mit ihnen reden … «

Die beiden Schachspieler in der anderen Ecke des Saales warfen ihre Figuren um und begannen eine neue Partie. Der dritte von ihrem Tisch war bereits gegangen. Iwanoff beobachtete Gletkin; er sprach so gleichgültig und ausdruckslos wie immer.

»Die Kollegen machten ähnliche Erfahrungen. Es war die einzige Möglichkeit, Resultate zu erzielen. Man hielt sich an die Etikette: kein Häftling wurde mit dem Finger angerührt. Aber es wurde nicht verhindert, daß sie zufällig zusahen, wie ihre Mitgefangenen erschossen wurden. Die Wirkung davon ist teils psychisch, teils physisch. Die Haftordnung sieht aus Gründen der Hygiene Duschen und Bäder vor. Daß der Warmwasserhahn manchmal gar nicht, manchmal allzugut funktionierte, lag an den Schwierigkeiten des Aufbaus; die Temperatur der Bäder bestimmte das Gefängnispersonal. Es waren alte Genossen, man brauchte ihnen keine Instruktionen zu erteilen, sie verstanden, um was es ging: genau um Sein oder Nichtsein der Revolution … «

»Hör schon auf«, sagte Iwanoff.

»Du hast gefragt, wie ich zu meiner Konstitutionstheorie gekommen bin, und ich erkläre es dir«, sagte Gletkin. »Es kommt darauf an, daß man sich die zwingende Logik der Entwicklung stets vor Augen hält, sonst ist man ein Zyniker, wie du. – Es ist spät, und ich muß jetzt gehen.«

Iwanoff trank sein Glas aus und schob die Prothese auf dem Nachbarstuhl zurecht; er hatte wieder rheumatische Schmerzen im Stumpf. Er ärgerte sich, daß er das Gespräch begonnen hatte.

Gletkin bezahlte. Als der Kantinenkellner gegangen war, fragte er, im Begriffe, sich zu erheben: »Was ist also mit Rubaschow?«

»Ich habe dir meine Meinung gesagt«, antwortete Iwanoff. »Man soll ihn in Ruhe lassen.«

Gletkin stand auf. Seine Stiefel knarrten. Er stand vor dem Stuhl, auf dem Iwanoffs Bein ruhte. »Ich bezweifle nicht seine vergangenen Verdienste«, sagte er. »Heute ist er ebenso schädlich geworden wie mein fetter Bauer von damals; nur noch gefährlicher.«

Iwanoff sah von unten in Gletkins ausdruckslose Augen.

»Ich habe ihm vierzehn Tage Bedenkzeit gegeben«, sagte er. »Bis zum Ablauf dieser Frist wird er in Ruhe gelassen.«

Iwanoff hatte im dienstlichen Ton gesprochen. Gletkin war ihm unterstellt. Er salutierte und verließ mit knarrenden Schritten die Kantine.

Iwanoff blieb sitzen. Er trank noch ein Glas, zündete eine Zigarette an und blies den Rauch vor sich hin. Nach einer Weile stand er auf und humpelte zu den beiden Offizieren hinüber, um ihnen beim Schachspiel zuzusehen.

QUELLE: Arthur Koestler: Sonnenfinsternis, unveränderte Neuauflage, Elsinor Verlag, Coesfeld 2011; © Arthur Koestler 1940

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Litres'teki yayın tarihi:
25 mayıs 2021
Hacim:
608 s. 65 illüstrasyon
ISBN:
9783954623525
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