Kitabı oku: «Deutsche Geschichten», sayfa 8

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THOMAS MANN (1875 – 1955)


Thomas Mann wird am 6. Juni 1875 als Sohn des Speditionskaufmanns Heinrich Mann und seiner Frau Julia geb. Bruhns in Lübeck geboren. Schon als Schüler entdeckt er seine Passion für das Schreiben. Nach dem Tod des Vaters zieht die Familie 1894 nach München. Mit seiner ersten Novelle »Gefallen« debütiert Thomas Mann als Schriftsteller. 1901 erscheint sein größtes Prosawerk »Die Buddenbrocks«, für das er 1929 den Nobelpreis für Literatur erhält.

1905 heiratet er Katia Pringsheim. Drei seiner sechs Kinder – Erika, Golo und Klaus – werden ebenfalls bedeutende Schriftsteller. 1912 erscheint die Erzählung »Tod in Venedig«. Den Ersten Weltkrieg kommentiert Mann in seinen »Betrachtungen eines Unpolitischen«. 1924 entsteht »Der Zauberberg«. 1930 hält er in Berlin seine »Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft«, in der er die NSDAP scharf kritisiert. 1933 geht er zunächst in die Schweiz und 1938 in die USA, wo er sich immer wieder kritisch mit der Lage in Deutschland auseinandersetzt – u. a. in rund 60 Radioreden »Deutsche Hörer« über die BBC.

1952 kehrt Thomas Mann nach Zürich zurück, wo er 1955 stirbt. Sein umfangreiches Werk zeichnet ihn als einen der bedeutendsten deutschen Erzähler des 20. Jahrhunderts aus.

THOMAS MANN

DEUTSCHE ANSPRACHE

EIN APPELL AN DIE VERNUNFT

Meine geehrten Zuhörer, – ich weiß nicht, ob ich auf Ihr Verständnis rechnen darf für den vielleicht phantastisch anmutenden Schritt, den ich unternahm, indem ich bitten ließ, mich heute abend anzuhören. Dieser Schritt könnte als Anmaßung und Narretei aufgefaßt werden, er könnte – ich mag es kaum aussprechen – dahin verstanden werden, als gäbe es hier jemanden, der nach der Rolle des praeceptor patriae griffe und den neuen Fichte spielen möchte … Wir wollen solche lächerlichen Vermutungen ausscheiden. Aber, sehen Sie, ich soll morgen in der Singakademie, als Gast des Verbandes Deutscher Erzähler, eine Vorlesung halten, etwas aus einem neuen Roman zum besten geben, der mich beschäftigt, und das kann vielleicht künstlerisch lustig werden, es kann die Leute interessieren und zerstreuen und mir Ermunterung eintragen, in meinem heiter-eigensinnigen poetischen Unternehmen fortzufahren, – gut. Und doch fragte ich mich, ob es sich lohne, ob es auch nur anständig und irgendwie vertretbar sei, unter den heutigen Umständen nach Berlin zu kommen, um ein Romankapitel vorzulesen und, etwas Lob und Kritik in der Tasche, die beide, wie alles steht, doch nur das Produkt einer recht geteilten Aufmerksamkeit sein können, wieder nach Hause zu fahren.

Ich bin kein Anhänger des unerbittlich sozialen Aktivismus, möchte nicht mit diesem in der Kunst, im Nutzlos-Schönen einen individualistischen Müßiggang erblicken, dessen Unzeitgemäßheit ihn fast der Kategorie des Verbrecherischen zuordnet. Auch wenn man wohl weiß, daß die Epoche, da Schiller das »reine Spiel« als den höchsten Zustand des Menschen feiern konnte, die Epoche des ästhetischen Idealismus, eben als Epoche vorüber ist, braucht man der aktivistischen Gleichung von Idealismus und Frivolität nicht zuzustimmen. Form, gebe sie sich noch so spielerisch, ist dem Geiste verwandt, dem Führer des Menschen auch zum gesellschaftlich Besseren; und Kunst die Sphäre, in der der Gegensatz von Idealismus und Sozialismus sich aufhebt.

Dennoch gibt es Stunden, Augenblicke des Gemeinschaftslebens, wo solche Rechtfertigung der Kunst praktisch versagt; wo der Künstler von innen her nicht weiter kann, weil unmittelbarere Notgedanken des Lebens den Kunstgedanken zurückdrängen, krisenhafte Bedrängnis der Allgemeinheit auch ihn auf eine Weise erschüttert, daß die spielend leidenschaftliche Vertiefung ins Ewig-Menschliche, die man Kunst nennt, wirklich das zeitliche Gepräge des Luxuriösen und Müßigen gewinnt und zur seelischen Unmöglichkeit wird. So war es vor sechzehn Jahren, als der Krieg ausbrach, mit dem für alle Wissenden so viel mehr begann, als ein Feldzug; so war es in den Friedensjahren danach und dann vor zwölfen, als Deutschland nach verbrecherischem Dauermißbrauch aller seiner Kräfte durch die, die sich seine Führer nannten, zusammenbrach und mit Müh und Not von Männern, die sich die Aufgabe nicht erträumt hatten und ihrer gerne überhoben gewesen wären, das Reich, die deutsche Einheit in der Form gerettet wurde, wie wir sie von unseren Vätern ererbt haben. So ist es heute wieder, nach Jahren, in denen Gutmütige an Erholung, an die langsame Rückkehr gemächlicherer und gesicherterer Zustände glauben mochten, während doch das durch den Krieg zerschlagene und mit Füßen getretene Wirtschaftssystem der Welt keineswegs geheilt war, noch seiner Heilung entgegensah, sondern in einer Unordnung zurückgeblieben war, die durch eine archaische und blinde Tributpolitik der den Frieden diktierenden Staaten verschärft wurde. Nun geht eine neue Welle wirtschaftlicher Krisis über uns hin und wühlt die politischen Leidenschaften auf; denn man braucht nicht materialistischer Marxist zu sein, um zu begreifen, daß das politische Fühlen und Denken der Massen weitgehend von ihrem wirtschaftlichen Befinden bestimmt wird, daß sie diese in politische Kritik umsetzen, wie wenn ein kranker Philosoph seine physiologischen Hemmungen ohne ideelle Korrektur in Lebenskritik umsetzte. Es heißt wohl zuviel verlangen, wenn man von einem wirtschaftlich kranken Volk ein gesundes politisches Denken fordert.

Die Reichsregierung hat einen Finanzreformplan aufgestellt, der Ersparnisse am Verwaltungsapparat vorsieht und im Auslande mutig und wirksam, ja vorbildlich genannt wird, geeignet, die Kreditwürdigkeit des Reiches zu heben. Das mag tröstlich sein. In Deutschland aber findet man, daß ein Staats- Finanzprogramm noch kein Wirtschaftsprogramm ist und daß diese »Vorlage zur Sanierung der Reichsfinanzen und zur Gesundung der deutschen Wirtschaft« nur allenfalls zur Hälfte ihren Namen mit Recht trägt. Was haben Vorschläge zur notdürftigen Ordnung des Reichshaushaltes für kommende Budgetjahre denen zu geben, die mit Augen voller Grauen den nächsten Monaten, diesem Winter der Arbeitslosigkeit, der Aussperrung, des Hungers und des Unterganges entgegenstarren, einem Winter, der droht, die Verzweiflung von Millionen zu vollenden und alle politischen Folgerungen und Folgen der Verzweiflung eines Volkes zu zeitigen? Wie es steht, spürt jeder irgend Empfindliche. Steinschwer wie in den dunkelsten Jahren der Kriegs- und Nachkriegszeit liegt der Druck auf jeder Brust und verhindert das heitere Atmen. Die Kraft der Gemeinschaft und Schicksalsverbundenheit bewährt sich; es gibt kein Einzelglück, wenn das Elend die Stunde regiert. Wir alle sind hineingezogen in den Wirbel aus Not und leidvoller Erbitterung, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Wessen Teil in helleren Tagen die freie Pflege des Übemützlichen war, sieht sich verstört und gelähmt; denn wie soll er freimütig und menschlich vertrauensvoll wirken in einem zerrissenen und zerspaltenen Volk, dem der Haß, das kranke Erzeugnis der Not, jede Unbefangenheit des Blickes raubt? Kein Wunder vielleicht und keine unbegreifliche Regung, wenn es ihn unter solchen Umständen treibt, über Dinge, von denen man nicht mehr sagen kann, daß sie irgendjemandem »fern liegen«– denn sie brennen uns allen auf den Nägeln –, zur Gemeinschaft, oder doch zu der Gemeinschaftsschicht, die ihn hervorgebracht hat, der er sich gesellschaftlich zugehörig und geistig verbunden fühlt, zu sprechen, als führe er ein Selbstgespräch. Ich bin ein Kind des deutschen Bürgertums, und nie habe ich die seelischen Überlieferungen verleugnet, die mit einer solchen Herkunft gegeben sind; von der Sympathie breiter deutscher bürgerlicher Gesittung war meine Arbeit getragen, von dem sittlichen Vertrauen jenes Deutschland also, das immer noch für die innere Haltung, das geistige Gesamtbild Deutschlands entscheidend ist; und es heißt nur Vertrauen gegen Vertrauen setzen, wenn ich mich mit meinem bedrängten Selbstgespräch an das deutsche Bürgertum wende, nicht als Klassenmensch – das bin ich nicht –, auch nicht als Parteigänger irgendeines politisch-wirtschaftlichen Interessenbundes – ich gehöre keinem an. Sondern auf jener geistigen Ebene möchte ich mich mit Ihnen finden, auf welcher selbst der Begriff deutscher Bürgerlichkeit eigentlich angesiedelt ist und die deutsch-bürgerlicher Denkungsart wenigstens bis gestern noch natürlich war. Wie wenig hätte ich mich der Exzentrizität meines Schrittes zu schämen, wenn diese Begegnung im geringsten, mit irgendeinem Wort beitragen könnte zu jener Besinnung, die mir noch immer als etwas Deutscheres erscheint als die schrille Parole, die heute zur Rettung und Wiedererhebung des Vaterlandes ausgegeben wird: als die Parole des Fanatismus. –

Der Ausgang der Reichstagswahlen, meine geehrten Zuhörer, kann nicht rein wirtschaftlich erklärt werden. Wenn es nach dem bisher Gesagten den Anschein hatte, als wäre das meine Meinung, so bedarf das Gesagte der Korrektur. Auch vor dem Auslande wäre es weder klug, noch entspräche es den inneren Tatsachen, wenn man die Dinge so einseitig darstellte. Das deutsche Volk ist seiner natürlichen Anlage nach nicht radikalistisch, und wäre das Maß von Radikalisierung, das nun wenigstens für den Augenblick zutage getreten ist, nur eine Folge wirtschaftlicher Depression, so wäre damit allenfalls ein Anwachsen des Kommunismus, aber nicht der Massenzulauf zu einer Partei erklärt, die auf die militanteste und schreiend wirksamste Weise die nationale Idee mit der sozialen zu verbinden scheint. Es ist nicht richtig, das Politische als ein reines Produkt des Wirtschaftlichen hinzustellen; sondern um einen Seelenzustand zu deuten, wie den, den unser Volk jetzt auf eine die Welt verblüffende Weise an den Tag gelegt hat, ist es notwendig, die politische Leidenschaft, zutreffender gesagt, das politische Leiden heranzuziehen, und wenn es nicht klug und nicht würdig wäre, auf das Ergebnis vom 14. September stolz zu sein und vor dem Auslande darauf zu trumpfen, so mag man es immerhin schweigend seine Wirkung nach außen tun lassen als eine Warnung, ein Sturmzeichen, eine Mahnung, daß einem Volke, welches zum Selbstgefühl so viel Anlaß hat wie irgendeines, nicht auf beliebige Zeit das zugemutet werden kann, was dem deutschen in der Tat zugemutet worden ist, – ohne aus seinem Seelenzustand eine Weltgefahr zu machen.

Auf den materiellen und geistigen Riesenkomplex von Ursachen einzugehen, aus denen die Kriegskatastrophe erwuchs, ist dies nicht der Augenblick. Geführt wurde Deutschland in diesem Krieg von einem Herrschaftssystem, das auf die historisch naivste Weise sein eignes Lebensinteresse mit dem des Volkes gleichsetzte und in dem Kampf um sein Fortbestehen es mit dem Volke, dem Lande zum Äußersten kommen ließ. Gegen dies Herrschaftssystem, das sich in der Welt verhaßt gemacht hatte, richtete sich angeblich und nach der Überzeugung der Völker in der Tat der kriegerische Tugendmut unserer Gegner, ein demokratischer Tugendmut, dessen Propagandamittel überwältigend waren und der, von aller materiellen Überlegenheit abgesehen, die deutsche Widerstandskraft im Laufe der Jahre erdrückte. Diese demokratische Moralität, die während des Krieges den Mund so voll genommen hatte und den Krieg als Mittel zu betrachten schien, eine neue, bessere Welt zu schaffen, hat bei Friedensschluß nur sehr bruchstückweise Wort gehalten und sich durch die Wirklichkeit, die psychischen Nachwirkungen der Kriegswut und durch den Machtrausch des Sieges in einem Grade verderben lassen, daß es dem deutschen Volke aufs äußerste erschwert war, an den moralischen und historischen Sinn seines Unterliegens und an die höhere Berufung der anderen zum Siege zu glauben. Der Versailler Vertrag war ein Instrument, dessen Absichten dahin gingen, die Lebenskraft eines europäischen Hauptvolkes auf die Dauer der Geschichte niederzuhalten, und dieses Instrument als die Magna Charta Europas zu betrachten, auf der alle historische Zukunft sich aufbauen müsse, war ein Gedanke, der dem Leben und der Natur zuwiderlief und der schon heute in aller Welt kaum noch zum Schein Anhänger besitzt. Das Leben und die Vernunft selbst haben die Unantastbarkeit dieses Vertrages schon heute widerlegt, und wenn man französische Nationalisten klagen hört, er sei nach zwölf Jahren durchlöchert wie ein Sieb, so beweist das eben nur die Unmöglichkeit des Unmöglichen und spricht für die Mittel, die von deutscher Seite angewandt worden sind, um diese natürliche Unmöglichkeit zu erweisen. Daß er für die Weltvernunft bei weitem noch nicht durchlöchert genug ist, wird auch außerhalb Deutschlands von Einsichtigen unter der Hand kaum bestritten; aber das deutsche Volk wird solcher Einsicht nicht gewahr, es hält sich notwendig an die Tatsachen, von denen es umgeben ist, und fühlt sich als Hauptopfer ihres Widersinns. Fast müßig schon, es auszusprechen, und doch notwendig, es immer wieder zu sagen: es ist kein haltbarer Zustand, daß inmitten von lauter bewaffneten und auf ihren Waffenglanz stolzen Völkern Deutschland allein waffenlos dasteht, so daß jeder, der Pole in Posen, der Tscheche auf dem Wenzelsplatz, ohne Scheu seinen Mut daran kühlen kann; daß die Erfüllung des Versprechens, die deutsche Abrüstung solle nur der Beginn der allgemeinen sein, immer wieder ad calendas graecas vertagt wird und jede Unmutsäußerung des deutschen Volkes gegen diesen Zustand als eine zu neuen Rüstungen auffordernde Bedrohung aufgefaßt wird. Diese Ungerechtigkeit ist die erste, die man nennen muß, wenn man dem deutschen Gemütszustand gerecht werden will; aber es ist nur zu leicht, fünf, sechs andere aufzuzählen, die sein Gemüt verdüstern, wie die absurden Grenzregelungen im Osten, das niemandem heilsame, auf das vae victis stumpfsinnig aufgebaute Reparationssystem, die völlige Verständnislosigkeit des jakobinischen Staatsgedankens für die deutsche Volksempfindlichkeit in der Minderheitenfrage, das Problem des Saargebietes, das keines sein dürfte, und so fort.

Das sind die außenpolitischen Reizungen und Leiden, von denen der deutsche Gemütszustand bestimmt ist. Es kommen tiefe, wenn auch unbestimmte und ratlose Zweifel innerpolitischer Art hinzu, Zweifel also daran, ob die im westeuropäischen Stil parlamentarische Verfassung, die Deutschland nach dem Zusammenbruch des feudalen Systems als das gewissermaßen historisch Bereithegende übernahm, seinem Wesen vollständig angemessen ist, ob sie seine politische Sittlichkeit nicht in gewissem Grade und Sinne entstellt und schädigt. Diese Sorgen einer volkspersönlichen, politischen Sittlichkeit sind um so quälender, als im Grunde niemand konkrete Vorschläge zum Richtigeren und Angemesseneren zu machen weiß, und vorderhand kein Schluß übrig bleibt als der, daß, solange es dem Deutschtum nicht gelingt, aus seiner eigensten Natur in politicis etwas Neues und Originales zu erfinden, man genötigt sei, aus dem Historisch-Überlieferten das Persönlichste und damit Beste zu machen, zumal kein Kenner des Deutschtums zweifelt, daß die bisher unternommenen Versuche, den demokratischen Parlamentarismus zu überwinden, der ost- und der südeuropäische, die Diktatur einer Klasse also und die des demokratisch erzeugten cäsarischen Abenteurers, der Natur des deutschen Volkes noch viel blutsfremder sind als das, wogegen zu einem Teile seine Geste vom 14. September sich richtete.

Es gehört nicht viel psychologische Kunst dazu, meine geehrten Zuhörer, um diese außen- und innenpolitischen Leidensmotive als die Ursachen zu erkennen, die neben der wirtschaftlichen Mißlage die sensationelle Wahlkundgebung des deutschen Volkes bestimmt haben. Es hat sich eines grell plakatierten Wahlangebotes zum Ausdruck seiner Gefühle bedient, des sogenannten nationalsozialistischen. Aber der Nationalsozialismus hätte als Massen-Gefühls-Überzeugung nicht die Macht und den Umfang gewinnen können, die er jetzt erwiesen, wenn ihm nicht, der großen Mehrzahl seiner Träger unbewußt, aus geistigen Quellen ein Sukkurs käme, der, wie alles zeitgeboren Geistige, eine relative Wahrheit, Gesetzlichkeit und logische Notwendigkeit besitzt und davon an die populäre Wirklichkeit der Bewegung abgibt. Mit dem wirtschaftlichen Niedergang der Mittelklasse verband sich eine Empfindung, die ihr als intellektuelle Prophetie und Zeitkritik vorangegangen war: die Empfindung einer Zeitwende, welche das Ende der von der Französischen Revolution datierenden bürgerlichen Epoche und ihrer Ideenwelt ankündigte. Eine neue Seelenlage der Menschheit, die mit der bürgerlichen und ihren Prinzipien: Freiheit, Gerechtigkeit, Bildung, Optimismus, Fortschrittsglaube, nichts mehr zu schaffen haben sollte, wurde proklamiert und drückte sich künstlerisch im expressionistischen Seelenschrei, philosophisch als Abkehr vom Vernunftglauben, von der zugleich mechanistischen und ideologischen Weltanschauung abgelaufener Jahrzehnte aus, als ein irrationalistischer, den Lebensbegriff in den Mittelpunkt des Denkens stellender Rückschlag, der die allein lebenspendenden Kräfte des Unbewußten, Dynamischen, Dunkelschöpferischen auf den Schild hob, den Geist, unter dem man schlechthin das Intellektuelle verstand, als lebensmörderisch verpönte und gegen ihn das Seelendunkel, das Mütterlich-Chthonische, die heilig gebärerische Unterwelt, als Lebenswahrheit feierte. Von dieser Naturreligiosität, die ihrem Wesen nach zum Orgiastischen, zur bacchischen Ausschweifung neigt, ist viel eingegangen in den Neo-Nationalismus unserer Tage, der eine neue Stufe gegen den bürgerlichen, durch stark kosmopolitische und humanitäre Einschläge doch ganz anders ausgewogenen Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts darstellt. Er unterscheidet sich von diesem eben durch seinen orgiastisch naturkultischen, radikal humanitätsfeindlichen, rauschhaft dynamistischen, unbedingt ausgelassenen Charakter. Wenn man aber bedenkt, was es, religionsgeschichtlich, die Menschheit gekostet hat, vom orgiastischen Naturkult, von der barbarisch raffinierten Gnostik und sexualistischen Gottesausschweifung des Moloch-Baal-Astarte-Dienstes sich zu geistigerer Anbetung zu erheben, so staunt man wohl über den leichten Sinn, mit dem solche Überwindungen und Befreiungen heute verleugnet werden, – und wird zugleich des wellenhaften, fast modischephemeren und, ins Große gerechnet, bedeutungslosen Charakters eines solchen philosophischen Rückschlages inne.

Vielleicht scheint es Ihnen kühn, meine geehrten Zuhörer, den radikalen Nationalismus von heute mit solchen Ideen einer romantisierenden Philosophie in Zusammenhang zu bringen, und doch ist ein solcher Zusammenhang da und will erkannt sein von dem, dem es um Verstehen und Einsicht in den Zusammenhang der Dinge zu tun ist. Es findet sich mehr zusammen, um die politische Bewegung, von der wir sprechen, die nationalsozialistische, vom Geistigen her zu stärken. Dazu gehört eine gewisse Philologen-Ideologie, Germanisten-Romantik und Nordgläubigkeit aus akademisch-professoraler Sphäre, die in einem Idiom von mystischem Biedersinn und verstiegener Abgeschmacktheit mit Vokabeln wie rassisch, völkisch, hündisch, heldisch auf die Deutschen von 1930 einredet und der Bewegung ein Ingrediens von verschwärmter Bildungsbarbarei hinzufügt, gefährlicher und weltentfremdender, die Gehirne noch ärger verschwemmend und verklebend als die Weltfremdheit und politische Romantik, die uns in den Krieg geführt haben.

Gespeist also von solchen geistigen und pseudogeistigen Zuströmen, vermischt sich die Bewegung, die man aktuell unter dem Namen des Nationalsozialismus zusammenfaßt und die eine so gewaltige Werbekraft bewiesen hat, vermischt sich, sage ich, diese Bewegung mit der Riesenwelle exzentrischer Barbarei und primitiv-massendemokratischer Jahrmarktsroheit, die über die Welt geht, als ein Produkt wilder, verwirrender und zugleich nervös stimulierender, berauschender Eindrücke, die auf die Menschheit einstürmen. Die abenteuerliche Entwicklung der Technik mit ihren Triumphen und Katastrophen, Lärm und Sensation des Sportrekordes, Überschätzung und wilde Überzahlung des Massen anziehenden Stars, Box-Meetings mit Millionen-Honoraren vor Schaumengen in Riesenzahl: dies und dergleichen bestimmt das Bild der Zeit zusammen mit dem Niedergang, dem Abhandenkommen von sittigenden und strengen Begriffen, wie Kultur, Geist, Kunst, Idee. Entlaufen scheint die Menschheit wie eine Bande losgelassener Schuljungen aus der humanistisch-idealistischen Schule des neunzehnten Jahrhunderts, gegen dessen Moralität, wenn denn überhaupt von Moral die Rede sein soll, unsere Zeit einen weiten und wilden Rückschlag darstellt. Alles scheint möglich, scheint erlaubt gegen den Menschenanstand, und geht auch die Lehre dahin, daß die Idee der Freiheit zum bourgeoisen Gerümpel geworden sei, als ob eine Idee, die mit allem europäischen Pathos so innig verbunden ist, aus der Europa sich geradezu konstituiert und der es so große Opfer gebracht hat, je wirklich verlorengehen könnte, so erscheint die lehrweise abgeschaffte Freiheit nun wieder in zeitgemäßer Gestalt als Verwilderung, Verhöhnung einer als ausgedient verschrienen humanitären Autorität, als Losbändigkeit der Instinkte, Emanzipation der Roheit, Diktatur der Gewalt. In Polen werden vor den Wahlen die Führer der Opposition verhaftet, und der Staatspräsident beschimpft das Parlament im Jargon eines Gassenjungen; in Finnland entführen und mißhandeln die Lappos Andersgesinnte; in Rußland denkt man den Hunger derjenigen, denen man die Lebensmittel entzog, um auf dem Weltmarkt Verwirrungsdumping damit zu treiben, mit dem Blute erschossener Gegenrevolutionäre zu stillen; die Geheimnisse fascistischer Kerker sind nicht ganz Geheimnis geblieben; von den Verbannungsinseln für Gegner des Systems weiß man auch, und noch besser kennt man die Mittel mechanischer Gewalt, mit denen Südtirol nationalisiert wird, Mittel, mit denen heute München und morgen Berlin italienisch gemacht werden könnte: Die Gewalt beweist sich selbst damit, sonst nichts, und das ist auch nicht nötig, denn alle Rücksichten außer ihr sind gefallen, die Menschheit glaubt nicht mehr an solche und ist also »frei« zu ausgelassener Gemeinheit.

Der exzentrischen Seelenlage einer der Idee entlaufenen Menschheit entspricht eine Politik im Groteskstil mit Heilsarmee-Allüren, Massenkrampf, Budengeläut, Halleluja und derwischmäßigem Wiederholen monotoner Schlagworte, bis alles Schaum vor dem Munde hat. Fanatismus wird Heilsprinzip, Begeisterung epileptische Ekstase, Politik wird zum Massenopiat des Dritten Reiches oder einer proletarischen Eschatologie, und die Vernunft verhüllt ihr Antlitz.

Ist das deutsch? Ist der Fanatismus, die Glieder werfende Unbesonnenheit, die orgiastische Verleugnung von Vernunft, Menschenwürde, geistiger Haltung in irgendeiner tieferen Seelenschicht des Deutschtums wirklich zu Hause? Dürfen die Verkünder des radikalen Nationalismus sich allzuviel einbilden auf den Stimmungszulauf, den sie gefunden, und ist der Nationalsozialismus parteimäßig gesehen nicht vielleicht ein Koloß auf tönernen Füßen, der an Dauerhaftigkeit nicht zu vergleichen ist mit der sozialdemokratischen Massenorganisation? Nur der Fanatismus, so heißt es, kann Deutschland wieder aufrichten. Goethe schildert im Epilog zur Glocke das Verhalten eines großen Menschen zur widerstrebenden Umwelt und spricht:

»Von jenem Mut, der früher oder später

Den Widerstand der stumpfen Welt besiegt,

Von jenem Glauben, der sich stets erhöhter

Bald kühn hervordrängt, bald geduldig schmiegt,

Damit das Gute wirke, wachse, fromme,

Damit der Tag dem Edlen endlich komme.«

Wäre nicht dieser Mut dem Deutschen, von dem die Menschheit ein Bild der Rechtlichkeit, Mäßigkeit, geistigen Biederkeit im Herzen trägt, angemessener als das Berserkertum der Verzweiflung, als der Fanatismus, der heute deutsch und allein deutsch heißen will? Staatsmänner von echter Deutschheit, die als solche in aller Welt erkannt und geliebt wurden, haben diesen bald sich vordrängenden, bald geschickt sich schmiegenden Mut, den Mut der Geduld bewährt und viel mehr damit erreicht, als zu erreichen wäre, wenn wir der Welt zu ihrem mitleidigen Befremden das Schauspiel ekstatischen Nervenzusammenbruchs böten.

Nun ist freilich der Augenblick schon gekommen, wo der militante Nationalismus sich weniger militant nach außen denn nach innen erweist. Schon sucht er seine außenpolitische Unschuld und vernunftvolle Mäßigkeit der Welt zu beweisen, indem er erklärt, daß Deutschland keinen Krieg führen könne und daß unter seiner Herrschaft keine gewaltsame Veränderung nach außen versucht werden solle, versichert es, um sich weltmöglich zu machen. Sein Haß richtet sich nicht sowohl nach außen wie nach innen, ja, seine fanatische Liebe zu Deutschland erscheint vorwiegend als Haß, nicht auf die Fremden, sondern auf alle Deutschen, die nicht an seine Mittel glauben und die er auszutilgen verspricht, was selbst heute noch ein umständliches Geschäft wäre, als Haß auf alles, was den höheren Ruhm, das geistige Ansehen Deutschlands in der Welt ausmacht. Sein Hauptziel, so scheint es immer mehr, ist die innere Reinigung Deutschlands, die Zurückführung des Deutschen auf den Begriff, den der Radikal-Nationalismus davon hegt. Ist nun, frage ich, eine solche Zurückführung, gesetzt, daß sie wünschenswert sei, auch nur möglich? Ist das Wunschbild einer primitiven, blutreinen, herzens- und verstandesschlichten, Hacken zusammenschlagenden, blauäugig gehorsamen und strammen Biederkeit, diese vollkommene nationale Simplizität, auch nach zehntausend Ausweisungen und Reinigungsexekutionen zu verwirklichen in einem alten, reifen, vielerfahrenen und hochbedürftigen Kulturvolk, das geistige und seelische Abenteuer hinter sich hat wie das deutsche, das eine weltbürgerliche und hohe Klassik, die tiefste und raffinierteste Romantik, Goethe, Schopenhauer, Nietzsche, die erhabene Morbidität von Wagners Tristan-Musik erlebt hat und im Blute trägt? Der Nationalismus will das Fanatische mit dem Würdigen vereinigen; aber die Würde eines Volkes wie des unsrigen kann nicht die der Einfalt, kann nur die Würde des Wissens und des Geistes sein, und die weist den Veitstanz des Fanatismus von sich.

Am Ende der Politik Stresemanns stand und steht die friedliche Revision des Versailler Vertrages mit bewußter Zustimmung Frankreichs und ein deutsch-französisches Bündnis als Fundament des friedlichen Aufbaus Europas. Das deutsche Volk, das Frankreich nicht einmal im Kriege gehaßt hat, ist, welchen Anschein auch die Dinge im Augenblick gewonnen haben mögen, zu diesem Bündnis bereit. Ich sage das nicht, weil ich es wünsche, weil ich die französische Literatur bewundere oder aus solchen persönlichen Gründen, sondern einfach, weil mein deutsches Gefühl es mir sagt. Und Franzosen, die ihr Volk so gut kennen, wie ich das meine zu kennen glaube, versichern für die andere Seite dasselbe. Bei allen Diskussionen freilich über das Schicksal Europas, allen Versuchen, die Starrheit der internationalen Lage zu lösen, stellt Frankreich die These der Sicherheit in den Vordergrund, der unbestreitbar kostbaren Sicherheit Frankreichs. Nun, meine geehrten Zuhörer, ich bin mir wohl bewußt, daß die Wände dieses Saales Ohren haben und daß vielleicht auch Franzosen, aus allgemeiner Achtung vor deutschem Geistesleben, auf meine Worte hören. Und darum will ich es aussprechen: Die beste, die wirklichste Sicherheit Frankreichs ist die seelische Gesundheit des deutschen Volkes. Daß diese Gesundheit gestört ist durch eine allgemeine politische und wirtschaftliche Krise, die aber für Deutschland durch unweise Friedensbedingungen aufs gefährlichste verschärft wird, sieht die Welt. Darum lasse Frankreich mit sich reden, wie es sich zwischen gesitteten und vernunftvollen Völkern geziemt, über die schlimmsten Punkte eines Vertrages, geboren aus einer Gemütsverfassung, die nicht danach angetan war, echte Verträge zu zeitigen, eines Vertrages, dem Dauerlosigkeit von Anbeginn an der Stirne geschrieben stand.

Jeder Außenpolitik, meine geehrten Zuhörer, entspricht eine Innenpolitik, die ihr organisches Zubehör darstellt, mit ihr eine unauflösliche geistige und sittliche Einheit bildet. Wenn ich der Überzeugung bin – einer Überzeugung, für die es mich drängte nicht nur meine Feder, sondern auch meine Person einzusetzen –, daß der politische Platz des deutschen Bürgertums heute an der Seite der Sozialdemokratie ist, so verstehe ich das Wort »politisch« im Sinn dieser inneren und äußeren Einheit. Marxismus hin, Marxismus her, – die geistigen Überlieferungen deutscher Bürgerlichkeit gerade sind es, die ihr diesen Platz anweisen; denn nur der Außenpolitik, die der deutsch-französischen Verständigung gilt, entspricht eine Atmosphäre im Inneren, in der bürgerliche Glücksansprüche wie Freiheit, Geistigkeit, Kultur überhaupt noch Lebensmöglichkeit besitzen. Jede andere schlösse eine nationale Askese und Verkrampfung in sich, die den furchtbarsten Widerstreit zwischen Vaterland und Kultur und damit unser aller Unglück bedeuten würde.

Wir verabscheuen diesen krankhaften und zerstörerischen Widerstreit. Der Friede nach außen ist eins mit dem inneren Frieden. Das letzte Wort des Reichsanwalts in Leipzig, als er die Verurteilung der jungen Offiziere gefordert hatte, lautete: »Ich wollte die Angeklagten nicht kränken.« Nein, nicht um Kränkung geht es, auch hier und heute nicht. Der Name voll Sorge und Liebe, der uns bindet, der nach Jahren einer halben Entspannung uns heute wieder wie 1914 und 1918 im Tiefsten ergreift, uns Herz und Zunge löst, ist für uns alle nur einer: Deutschland.

QUELLE: Thomas Mann: Essays, Band 3: Ein Appell an die Vernunft 1926 – 1933; © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1994


Arbeitslosenschlange beim Stempeln im Hof des Arbeitsamtes Hannover, Frühjahr 1932

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25 mayıs 2021
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608 s. 65 illüstrasyon
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9783954623525
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