Kitabı oku: «Die Naturforschenden», sayfa 5
LOKALKUNDE FERNAB DER WISSENSCHAFTLICHEN ZENTREN
Nach zehnjährigem Aufenthalt in Zürich kehrte Brügger 1870 in seinen Heimatkanton zurück und unterrichtete in den folgenden 28 Jahren als Kantonsschullehrer in Chur Naturgeschichte und Geografie. Während dieser Zeit war er ein aktives Mitglied in der Naturforschenden Gesellschaft Graubündens, von 1873 bis 1879 deren Vizepräsident. Insgesamt hielt Brügger an den Vereinsversammlungen über 50 Vorträge.54 Das Themenspektrum, das von botanischen Raritäten des naturhistorischen Museums über Wanderheuschrecken, Föhnwind und Fischerei bis hin zu Steinkohlevorkommnissen reichte, zeugt von seinem breiten Interessenhorizont.55 Aufgrund dieser vielseitigen wissenschaftlichen Tätigkeit wurde Brügger «zur alten Schule der Naturforscher» gerechnet.56 Der spätere Präsident der Naturforschenden Gesellschaft Graubündens schrieb anlässlich Brüggers Tod 1899, der Verstorbene sei «der beste Kenner unseres schönen Bündnerlandes» gewesen und «weit umher als solcher bekannt, viel citiert und consultiert».57
Die «alte Schule» der Naturforscher war in den neuen wissenschaftlichen Institutionen kaum vertreten. Die Berufswissenschaftler in akademischen Zentren wie Zürich grenzten sich zunehmend gegen Forscher ohne Hochschulanbindung ab. Während Brüggers floristische Beiträge, an denen er jahrelang gearbeitet hatte, in Graubünden Anerkennung fanden, lautete das Urteil der Botaniker an den Universitäten ganz anders. Die meisten seiner Beschreibungen von Pflanzenarten galten in akademischen Kreisen als Irrtümer.58 Die heftige Kritik ging nicht spurlos an Brügger vorbei. Er lebte zurückgezogen und fuhr in seiner Freizeit unentwegt fort, botanische, zoologische, klimatologische und historische Materialien zum Kanton Graubünden zusammenzutragen. Das als Synthese seiner grossen Pflanzensammlung geplante Werk «Die Flora des Kantons Graubünden» vollendete er nie. Zu einem erfolgreichen Abschluss brachte er hingegen ein Projekt, das seine historischen und meteorologischen Interessen kombinierte. In sechs Bänden gab Brügger von 1876 bis 1888 im Selbstverlag die «Natur-Chronik der Schweiz insbesondere der rhätischen Alpen» heraus, eine Auflistung der Wetterereignisse in Graubünden vom 11. bis zum 18. Jahrhundert. Dem ersten Band stellte er das Motto voran: «Der Meteorolog ist nichts als Geschichtsschreiber der Witterung: er hat es nur damit zu thun, die Gesetze der vergangenen Ereignisse aufzusuchen.»59 Während also die Meteorologische Zentralanstalt in Zürich Ende der 1870er-Jahre ihren primären Arbeitsbereich der Klimastatistik um die Wetterprognostik erweiterte, ging Brügger der Meteorologie nunmehr in Form einer Naturgeschichte nach. In Zürich würdigte man seine mühevollen Recherchen für die «Natur-Chronik», aber gleichzeitig hielt man ihm vor, dass er diese Materialsammlung nicht wissenschaftlich weiterverarbeitet habe.60 Die Praktiken der «alten Schule der Naturforschung», die hauptsächlich im Sammeln, Beschreiben und Auflisten bestanden, reichten in den wissenschaftlichen Zentren nicht mehr zur Anerkennung. Der Institutionalisierungsprozess führte Ende des 19. Jahrhunderts schliesslich zur Aufteilung der Naturforschung in akademische Wissenschaft einerseits und untergeordnete Hobbytätigkeit andererseits.
BERNHARD C. SCHÄR
EVOLUTION, GESCHLECHT UND RASSE
Darwins Origin of Species in Clémence Royers Übersetzung
Der Ausgangspunkt jeglicher Politik muss lauten: «Die Menschen sind von Natur aus ungleich.»1 So formulierte es Clémence Royer 1862 im Vorwort ihrer Übersetzung von Charles Darwins Werk «On the Origin of Species» (Deutsch: Über die Entstehung der Arten). In diesem epochenmachenden Buch präsentierte der Engländer 1859 erstmals seine Theorie über die Geschichte der Natur. Nicht Gott würde Tiere und Pflanzen erschaffen, sondern die «natürliche Selektion». Im Wettbewerb um beschränkte natürliche Ressourcen überlebten jene Arten, die am besten an die Umwelt angepasst seien. Dadurch würden sich die Arten beständig weiterentwickeln und verändern.2
Die französische Philosophin Clémence Royer (1830-1902) übersetzte Darwins Werk in der Stadtbibliothek Lausanne ins Französische. Sie fügte dem Buch nicht nur zahlreiche Kommentare in Fussnoten, sondern auch ein 60-seitiges Vorwort bei. Dieses sorgte in der französischsprachigen Welt für ähnlich viel Wirbel wie Darwins Theorie selbst. Der Grund hierfür war, dass Royer «mehr noch als Herr Darwin», wie sie in ihrem Vorwort erklärte, «viele Hypothesen»3 wagte:
«[D]as Gesetz der natürlichen Selektion zeigt, auf den Menschen angewendet, in überraschender und zugleich schmerzhafter Weise, wie falsch unsere bisherigen politischen und gesellschaftlichen Gesetze wie auch unsere religiöse Moral gewesen sind.»4
Die Moral «unserer christlichen Ära» zeichne sich durch eine «Übertreibung dieses Mitleids, dieser Wohltätigkeit, dieser Brüderlichkeit» gegenüber Schwachen, Kranken und Armen aus. Diese würden «schwer auf den Schultern der Gesunden lasten» und «drei Mal mehr Platz an der Sonne beanspruchen als gesunde Individuen!»5
«Was folgt aus diesem exklusiven und unklugen Schutz für die Schwachen, die Kranken, die Unheilbaren, selbst für die Bösartigen, für alle, die gegenüber der Natur in Ungnade gefallen sind? Nichts anderes, als dass das Übel, unter dem sie leiden, dazu tendiert, bis in alle Ewigkeit fortzubestehen und sich zu vervielfältigen; dass dieses Übel sich vergrössert anstatt sich verkleinert; und dass es sich auf Kosten des Guten vermehrt.»6
Jahre bevor der Begriff Eugenik erfunden wurde, 7 war Royer 1862 eine der ersten Intellektuellen, die solche Schlussfolgerungen aus Darwins Theorie ausformulierte. Obschon sie dies nicht explizit schrieb, legten ihre Äusserungen nahe, dass es im «Kampf ums Dasein» besser sein könnte, Schwache, Kranke und Pflegebedürftige sterben zu lassen oder ihre Fortpflanzung zu verhindern.
Mit dieser Haltung verkörperte Royer einerseits wesentliche Merkmale des zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Denkens. In einer Zeit, als Frauen in Europa nicht nur von politischen Ämtern, sondern auch von Universitäten ausgeschlossen waren, war Royer aber andererseits eine Ausnahmeerscheinung. Sie war eine der wenigen Frauen in der französischsprachigen Welt, die sich auf Augenhöhe mit den grössten Theoretikern ihrer Zeit intellektuell duellierten. Sie vertrat in diesen Debatten einen pointiert feministischen Standpunkt.8 Dieser unterschied sich nicht nur von den vielfältigen Theorien ihrer Zeitgenossinnen (und erst recht von den Theorien all ihrer männlichen Zeitgenossen), sondern auch von den feministischen Theorien ihrer Nachfolgerinnen. Während etwa Royers Landsfrau Simone de Beauvoir fast ein Jahrhundert später proklamierte, dass man nicht als Frau geboren, sondern durch die Gesellschaft zu einer solchen gemacht werde, 9 hielt Royer an der Auffassung fest, dass Menschen entweder als Männer oder als Frauen geboren würden und von Natur aus ungleich seien. Das Originelle an Royers Argument war jedoch, dass gerade diese natürliche Ungleichheit der Grund sei, weshalb Frauen (zumindest solche der «weissen Rasse», wie wir sehen werden) dieselben Rechte und Chancen wie Männer erhalten sollten. Royer entwickelte diese Sichtweise in einer feministischen Evolutionstheorie. Von ihren männlichen Zeitgenossen wurde diese allerdings weitgehend ignoriert, weshalb Royer nach ihrem Tod schnell in Vergessenheit geriet.10 Im 20. Jahrhundert flackerte die Erinnerung an sie zunächst periodisch in feministischen Zeitschriften wieder auf.11 Als sich ab den 1980er-Jahren die Frauen- und Geschlechtergeschichte etablierte, erschienen zwei wissenschaftliche Biografien – eine von der französischen Philosophin Geneviève Fraisse und eine von der amerikanischen Wissenschaftshistorikerin Joy Harvey.12
Abb. 1: Die Bibliothek in Lausanne um 1900.
Abb. 2: Das Titelblatt von Clémence Royers erster Darwin-Übersetzung. Für die zweite französische Auflage von 1866 entfernte Royer auf Geheiss Darwins den Begriff «Fortschritt» im Untertitel. Für die dritte Auflage von 1869 entzog ihr Darwin seine Autorisation.
Das Hauptanliegen dieser Biografinnen war es, Royers Beiträge zur feministischen Theoriebildung und zur Biologie zu rekonstruieren und zu würdigen. Hier soll ein anderer Aspekt von Royers Denken ins Zentrum gerückt werden, der in der bisherigen Literatur zwar nicht ignoriert, jedoch nur am Rand behandelt wurde: der Rassismus. Dieser war sowohl für ihren Feminismus als auch für die von ihr mitgeprägte Darwin-Rezeption elementar.13 Zugleich lassen sich Einblicke in die Rolle der Schweiz als Drehscheibe zwischen den französischen, deutschen und englischen Wissenschaftsgemeinschaften gewinnen. Zentrale und bis heute einflussreiche Theorien des 19. Jahrhunderts wurden über die Schweiz ausgetauscht. Es handelt sich um Theorien der Evolution, der Rassen und der Geschlechter.
WESHALB ROYER?
Royers Weg zur Darwin-Übersetzerin war alles andere als geradlinig.14 Sie kam 1830 in Nantes zur Welt. Ihr Vater war Offizier und unterstützte die französische Monarchie. Royers Mutter stammte ebenfalls aus einer Offiziersfamilie. 1832 flohen die Royers in die Schweiz, da der Vater für seine Unterstützung der antirevolutionären Kräfte zum Tod verurteilt worden war. Die Familie liess sich für drei Jahre am Genfersee nieder. 1835 kehrte sie nach Paris zurück. Der Vater wurde vor Gericht begnadigt. Später zog die Familie in die Provinz, wo die junge Clémence ein katholisches Internat besuchte. Die Erfahrung scheint traumatisch gewesen zu sein. Royer bezeichnete sie später als intellektuelle «Vergewaltigung», was ihre späteren scharfen antireligiösen Attacken erklärt.15 Die Emanzipation von der katholischen Indoktrination erfolgte schrittweise. Während der 1848er-Revolution lebte Royer wieder in Paris, was ihren Wandel zur Republikanerin eingeleitet habe. Sie machte eine Ausbildung zur Lehrerin. Zwischen 1853 und 1855 unterrichtete sie in Grossbritannien Französisch und Musik. Zugleich lernte sie Englisch, was ihr später als Darwin-Übersetzerin zugute kommen sollte. Kaum nach Paris zurückgekehrt, erlebte Royer jedoch, wie die neue, konservative französische Regierung Gesetze gegen die Mädchen- und Lehrerinnenbildung erliess. Royer sah ihre Berufsaussichten schwinden. «Wie eine zweite Jeanne d’Arc, […] jedoch nur mit einer Schreibfeder bewaffnet, verliess ich Frankreich, der katholischen Kirche den Krieg erklärend», schrieb sie Jahre später im Rückblick auf ihr Leben.16 Sie liess sich ab Sommer 1856 zunächst im protestantischen Lausanne nieder, zog wenig später jedoch in das etwa zehn Kilometer weiter östlich gelegene Dorf Cully.
In einem kleinen Bauernhaus mietete sie ein acht Quadratmeter grosses Zimmer. In dieser Kammer, hoch über dem Genfersee gelegen, begann schliesslich «die heroische Phase meines Lebens», hielt sie rückblickend fest: «Mein Leben erfuhr eine schicksalhafte Wendung. Ermöglicht wurde sie durch meine Begegnung mit der Bibliothek in Lausanne.»17
Abb. 3: Cully heute: In diesem Bauernhaus lebte Royer zwischen 1856 und 1859. Die Plakette unter dem Fenster ihrer damaligen Kammer wurde 1912 von der Waadtländer Freidenkervereinigung zu Royers zehntem Todestag angebracht. Auf ihr heisst es: «In Erinnerung an Clémence Royer 1856. Hier erwachte ihr Genie.»
EIN STRAUSS BLUMEN AUS DER WIESE DES WISSENS
Die Bibliothek in Lausanne gehörte zur Akademie, der späteren Universität, und war sehr gut bestückt. Royer las sich während rund dreier Jahre systematisch in die wichtigsten sozial- und naturwissenschaftlichen Theorien ihrer Zeit ein. Die Bücher liess sie sich per Post nach Cully schicken. Manchmal legte sie den elf Kilometer langen Weg auch zu Fuss zurück. Was die wissenschaftliche Lektüre für Frauen des 19. Jahrhunderts bedeuten konnte, reflektierte Royer 1859:
«Es gibt mehr als zehntausend Wörter, die Frauen niemals ausgesprochen gehört haben, deren Bedeutung sie nicht kennen. […] Auch ich selber war eine Zeit lang stark eingeschüchtert von der Wissenschaft. Ich fand sie langweilig und fad […] und glaubte, sie sei nutzlos. Es reichten jedoch einige anständig geschriebene Seiten, einige glückliche Erklärungen aus der Feder einiger weise gebildeter Personen, die die Nacht meines Geistes wie ein Blitz erhellten. Da wurde mir gewahr, dass die Männer der Wissenschaft ihr Wissen mit einem Hag voller Dornen umzäunt hatten. Auf der anderen Seite des Zauns ist dieser Garten jedoch voller Blumen. Also entschied ich, ein Loch in diesen Zaun zu hauen oder, falls nötig, über ihn hinüber zu springen.»18
Die Passage stammt aus einer der ersten öffentlichen Vorlesungen, die Clémence Royer ab 1859 in der Akademie in Lausanne für Frauen hielt. In der zitierten Gartenmetapher erklärte Royer ihren Zuhörerinnen: «Ich betrat die Wiese und pflückte einen Blumenstrauss. Diesen Strauss offeriere ich Ihnen heute.»19
Eine von Royers Zuhörerinnen war, wie ihre Biografin Joy Harvey vermutet, Marie Forel, eine gebildete Frau aus der Familie bekannter Westschweizer Naturwissenschaftler. Forel führte einen Salon, in dem die gebildeten Eliten der Stadt verkehrten. Dazu gehörten etliche republikanische Exilanten aus Frankreich, die an der Lausanner Akademie lehrten. Einer davon war der politische Ökonom Pascal Duprat (1815-1885), der Clémence Royers grosse Liebe werden sollte. Duprat war bereits verheiratet, lebte jedoch ab den frühen 1860er-Jahren bis zu seinem Tod 1885 mit Clémence Royer und einem gemeinsamen Sohn in wilder Ehe. Bereits ab 1858 begann Royer in der von Duprat herausgegebenen Zeitschrift «Le Nouvel Economiste» Rezensionen und später Artikel zu schreiben. 1860 schrieb der Kanton Waadt in Zusammenarbeit mit Duprats Zeitschrift einen Preis aus. Zu behandeln war die Frage, wie die Einkommenssteuer reformiert werden könne. Royers Arbeit erhielt den zweiten Preis und wurde als Buch publiziert. Damit wurde Royer international bekannt. Sie erhielt Einladungen zu wissenschaftlichen Konferenzen sowie zu Vorträgen in weiteren Städten in der Schweiz, in Frankreich und in Italien.20
«… ONE OF THE CLEVEREST AND ODDEST WOMEN IN EUROPE …»
Von Darwins «Origin of Species» dürfte Royer, wie ihre Biografin Joy Harvey vermutet, erstmals 1860 in Genf gehört haben, wohin sie Duprat begleitet hatte und wo sie Vorlesungen hielt. Im Unterschied zu den Pariser Naturwissenschaftlern reagierten die westschweizerischen relativ positiv auf das Werk des Engländers.21 Allen voran der deutsche Emigrant Carl Vogt (1789-1861). Der spätere Gründungsrektor der Universität Genf und Genfer Vertreter im schweizerischen Ständerat wurde zu einem der radikalsten Befürworter des Darwinismus.22 Wie genau Royer zur Übersetzerin Darwins wurde, ist nicht völlig klar. Bekannt ist, dass Darwin familiäre Verbindungen nach Genf hatte. Möglicherweise kam ihr Name auf diese Weise ins Spiel. Darwin hatte sich bis dahin vergeblich bei französischen Freunden um eine Übersetzung bemüht. Für Royer sprachen nicht nur ihre Englischkenntnisse, sondern auch der Umstand, dass sie einen französischen Verleger hatte, der bereits ihr Buch über die Einkommenssteuer publiziert hatte und bereit war, die Übersetzung herauszugeben. Ausserdem hatte sie nicht nur die naturwissenschaftlichen Referenzwerke gelesen, auf denen Darwins Theorie aufbaute, sondern auch das Werk des Nationalökonomen Thomas Robert Malthus (1766-1834), das für Darwins Theorie eine wichtige Rolle spielte.
Abb. 4: Porträt der jungen Clémence Royer, vermutlich aus den 1860er-Jahren.
Darwin schickte Royer am 10. September 1861 eine Kopie seines «Origin» zu. Royer arbeitete schnell. Die gedruckte Übersetzung erreichte Darwin weniger als ein Jahr später im Sommer 1862. Amüsiert, aber auch beeindruckt von Royers Stil sowie insbesondere von ihrem Vorwort und den zahlreichen Kommentaren in den Fussnoten, schrieb Darwin einem Freund in den USA: «Madlle [sic] Royer muss eine der klügsten und ungewöhnlichsten Frauen in Europa sein […]. Sie landet einige ausgefallene und guten Schläge […]».23 Ihr selber soll er geschrieben haben, dass er ein «verlorener Mann» gewesen wäre, hätte er sich so explizite Schlussfolgerungen zu formulieren getraut wie sie.
Die Zusammenarbeit zwischen Royer und Darwin dauerte bis 1869. Dann endete sie in einem Eklat. Bereits vorher hatte es verschiedene Schwierigkeiten gegeben. Ein Problem war, dass Royer als Frau keine formale universitäre Ausbildung absolvieren konnte. Als Autodidaktin und Theoretikerin fehlten ihr praktische Erfahrungen etwa beim Sezieren von Tieren im Labor. Dies führte zu Missverständnissen bei der Übersetzung. Um diese möglichst gering zu halten, sollte sich Royer eigentlich vom Westschweizer Zoologen Edouard Claparède (1832-1871) beraten lassen, der sich mit einer sehr positiven und informierten Besprechung von Darwins Werk hervorgetan hatte.24 Claparède war jedoch kränklich. Es sei ihm, wie er Darwin nach Erscheinen der französischen Erstauflage schrieb, nicht gelungen, Royers Drang nach Kommentierung und Weiterentwicklung einzudämmen.25
Dass Übersetzer nicht bloss Texte von der einen in die andere Sprache übertrugen, sondern auch ihre eigene Lesart und Weltsicht in sie hineinlegten, war im 19. Jahrhundert indes nichts Ungewöhnliches. Mit Darwins erster deutscher Übersetzung war ähnliches passiert.26 Was nun Royer betraf: Sie sah in Darwins Werk in erster Linie eine empirische Bestätigung ihrer eigenen antiklerikalen, evolutionstheoretischen Philosophie, die sie sich in der Bibliothek Lausanne insbesondere durch die Lektüre des zwischenzeitlich etwas in Vergessenheit geratenen Naturforschers Jean-Baptiste Lamarck (1744-1828) erarbeitet hatte. Royer sah in Darwin folglich einen Verbündeten, dessen Lehre sie mit ihrem Vorwort und ihren Kommentaren einer möglichst breiten französischen Leserschaft näherbringen wollte. Wie ihre beiden Biografinnen herausgearbeitet haben, wich Royers Lesart jedoch in zwei Punkten von Darwins Lehre ab. Der eine Punkt betrifft die Traditionslinie zu Lamarck. Tatsächlich hatte auch dieser bereits davon gesprochen, dass sich tierische Arten an die Umwelt anpassen könnten und sich in der Generationenfolge verändern würden. Lamarcks Ideen waren jedoch spekulativ gewesen. Vor allem aber übersah Royer, dass Darwin mit seinem Konzept der natürlichen Selektion einen fundamental neuen Mechanismus einführte, der den Artenwandel nicht nur postulierte und beschrieb, sondern auch – auf andere Weise als Lamarck – erklären konnte. Die zweite Differenz zu Darwin bestand darin, dass Royer – wie so viele andere auch – die Evolutionstheorie als (Natur-) Gesetze des Fortschritts verstand, «des Lois du Progrès», wie sie den Untertitel übersetzte. In Darwins Konzeption hatte der Evolutionsprozess jedoch keine eindeutige Richtung.27
Für die zweite französische Auflage verlangte Darwin etliche Anpassungen, so etwa den Verzicht auf den Begriff Fortschritt im Untertitel, und er löschte auch einen ihrer Fussnotenkommentare. Das Vorwort liess er jedoch stehen. Obschon er befürchtete, dieses schade der ohnehin harzigen Rezeption seiner Theorie in Frankreich, schätzte er an Royer, dass sie die wichtigsten Elemente seiner Lehre nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch ausgezeichnet erfasst hatte, wie er sich von französischen Freunden versichern liess. Für die dritte Auflage beging Royer jedoch in den Worten ihrer Biografin Joy Harvey den «enormen Fehler», 28 ein neues Vorwort zu verfassen, in dem sie Darwin direkt angriff. Die Kritik bezog sich nicht auf den «Origin», sondern auf Darwins neueste Theorie über die Vererbungslehre. Im historischen Rückblick betrachtet, handelt es sich um einen Nebenschauplatz.29 Für Darwin selber war dieser jüngste Baustein in seinem Theoriegebäude jedoch sehr wichtig, weshalb er ausserordentlich verärgert auf Royers Kritik reagierte. Dass Royer es zugleich versäumt hatte, Verbesserungen und Ergänzungen aus den aktuellsten englischen Neuauflagen in ihre Übersetzung einzuarbeiten, verstärkte seinen Ärger noch. Darwin weigerte sich deshalb, Royers dritte Auflage zu autorisieren, und veranlasste stattdessen eine Neuübersetzung durch einen anderen Autor.
Abb. 5: Lausanne in den 1860er-Jahren: die Seepromenade mit dem Hotel Beau Rivage. Gemälde von Rudolf Dickmann.
Abb. 6: Blick auf die Weindörfer Pully (im Vordergund) und Cully (im Hintergrund) am Genfersee und die Walliser Alpen. Gemälde von William-Henry Bartlett, 1835.
Auch nach der Beendigung der Zusammenarbeit blieb Clémence Royer die wohl einflussreichste Vermittlerin von Darwins Theorie in Frankreich. 1869 zogen sie und ihr Gefährte, Pascal Duprat, nach Paris, wo Royer als erste Frau in die Société d’Anthropologie aufgenommen wurde. Es handelte sich um die einzige Gelehrtengesellschaft Frankreichs, die sich ernsthaft mit Darwins Theorie auseinandersetzte. Sie wurde von einer Gruppe radikaler Denker rund um Paul Broca (1824-1880) geleitet. Auch der in Genf ansässige Carl Vogt gehörte ihr an. Nicht zuletzt unter Royers Einfluss akzeptierten die französischen Anthropologen Darwins Lehre allmählich.30 Mit ihrer Übersetzung prägte Royer die Darwin-Rezeption auch in Italien, Spanien und Lateinamerika, wo Französisch die führende Wissenschaftssprache war.31