Kitabı oku: «Die Naturforschenden», sayfa 6
MÄNNCHEN UND WEIBCHEN, FRAUEN UND MÄNNER IN DER EVOLUTIONSTHEORIE
Ein zentrales Problem, das Royer nicht nur mit Darwin, sondern in Frankreich auch mit Broca und allen übrigen Theoretikern in Konflikt brachte, betraf die Frage, welche Rolle im Prozess der Evolution die Weibchen im Tierreich respektive die Frauen bei den Menschen spielen. Diese Frage durchdrang Royers gesamtes philosophisches Werk. Es ist auch diese Frage, die Royer zugleich hoch aktuell und auch problematisch erscheinen lässt.
Um Royers Position zu verstehen, ist es wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass die Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts massgeblich zur Legitimation der gesellschaftlichen und politischen Diskriminierung von Frauen beitrugen. «Der Charakter wissenschaftlicher Männer ist in vieler Hinsicht antifeminin», hielt etwa Darwins Vetter Francis Galton, einer der bedeutendsten Vererbungsforscher seiner Zeit, 1874 fest.32 Im selben Sinn äusserte sich sein Genfer Zeitgenosse Alphonse de Candolle, ein eminenter Botaniker: «Die [geistige] Entwicklung der Frau hört früher auf als jene des Mannes […]. Ausserdem ist der weibliche Geist oberflächlich.»33 Diese weit ins 18. Jahrhundert zurückreichenden Ansichten erhielten mit Darwins Konzept der «sexuellen Selektion» eine neue wissenschaftliche Grundlage. Mit der sexuellen Selektion erklärte Darwin das Paarungsverhalten tierischer und pflanzlicher Arten. Seine Grundannahme war, dass die Männchen eine aktive Rolle bei der Eroberung der Weibchen sowie im Konkurrenzkampf mit anderen Männchen einnahmen, während die Weibchen eine passive Rolle bei der Begattung sowie eine pflegende Rolle bei der Aufzucht spielten. Dieser Mechanismus habe bewirkt, so Darwin in seinem Werk über die «Abstammung des Menschen», dass sich die Geschlechter körperlich und geistig immer weiter voneinander entfernten: «So wurde der Mann der Frau schliesslich überlegen.»34
Abb. 7: Royers Zeitgenossen: Charles Darwin (links), Paul Broca (rechts) und Carl Vogt (unten).
Dagegen schrieb Royer in origineller Weise an. Sie teilte zwar mit ihren männlichen Zeitgenossen die Ansicht einer «erworbene[n] Unterlegenheit»35 von Frauen gegenüber Männern. In wichtigen Punkten wich Royer jedoch von ihren männlichen Kontrahenten ab. Während diese die biologische Ungleichheit für unveränderlich und kategorial hielten, hatten sie für Royer «nichts Schicksalhaftes, nichts Absolutes».36 Dies hatte mit ihrer lamarckistischen Lektüre Darwins zu tun. Royer glaubte, dass Menschen und Tiere auch solche körperlichen oder mentalen Eigenschaften an ihre Nachkommen weitervererben konnten, die sie erst nach ihrer Geburt erworben hatten. Daraus leitete sie eine Evolutions- und Geschlechtertheorie ab, die aus drei Phasen bestand. Bei den frühesten Vorfahren des Menschen hätten sich Männchen und Weibchen körperlich und geistig kaum voneinander unterschieden. Zu einer geschlechtlichen Differenzierung sei es erst durch die Verknappung der natürlichen Lebensressourcen gekommen, was den Konkurrenzdruck zwischen den frühsten Urmenschen erhöht habe. In dieser zweiten Phase des Evolutionsprozesses habe sich eine geschlechtliche Arbeitsteilung zum Schutz des eigenen Nachwuchses und damit zur Erhaltung der eigenen Art als Selektionsvorteil herausgebildet. In körperlicher Hinsicht sei es zu einer Rückbildung der männlichen Brustdrüsen gekommen respektive zu einer Spezialisierung der Frauen auf das Stillen ihres Nachwuchses.37 Männer hätten ihren Bewegungsradius bei der Nahrungssuche und im Kampf gegen Konkurrenten ausgeweitet, was eine Zunahme ihrer Körperkraft und ihrer Intelligenz zur Folge gehabt habe. Frauen hätten demgegenüber ihre mütterlichen und häuslichen Instinkte ausgeprägt. Die feministische Pointe dieses Arguments ist, dass die natürliche Asymmetrie zwischen den Geschlechtern kein primäres Merkmal der menschlichen Art ist, sondern ein gesellschaftlich erworbenes, sekundäres Merkmal. Die biologischen Geschlechterunterschiede sind so gesehen nicht statisch. Sie sind vielmehr dem naturhistorischen Wandel unterworfen und können sich in Zukunft wieder ändern, sprich: zurückbilden. Genau darauf lief Royers Argumentation hinaus. Die «zivilisierten Rassen» befänden sich nämlich, so Royer, an der Schwelle zu einer dritten Phase des Evolutionsprozesses, in welcher die Geschlechterasymmetrien nicht mehr notwendig und sogar kontraproduktiv seien. Anstelle von Körperkraft und Härte bei Männern sowie Häuslichkeit und Vorsicht bei Frauen verlange das Leben in modernen Industriegesellschaften zunehmend die Entwicklung von geistigen und sozialen Fähigkeiten beiderlei Geschlechter. Um das Leben in Städten harmonisch zu gestalten, müssten Männer Körperkraft und Intelligenz mit Emotionalität verbinden, Frauen Schönheit mit Stärke, Zärtlichkeit mit Intelligenz.38 Biologisch war dies in Royers Konzeption denkbar, weil Mädchen und Knaben sowohl die Merkmale ihrer Mütter als auch jene ihrer Väter erbten. Männer hatten, so gesehen, auch weibliche Dispositionen (daher beispielsweise die Brustwarzen) und umgekehrt. Damit beide Geschlechter ihre jeweils männlichen und weiblichen Dispositionen entfalten können, müssten jedoch die rechtlichen und sozialen Benachteiligungen der Frauen aufgehoben werden. Nur so könnten sie im Wettbewerb mit den Männern ihre schlummernden männlichen Dispositionen zu Intelligenz, Mut und Aktivität entwickeln und an ihre Töchter weitervererben. Die biologischen Geschlechterasymmetrien waren für Royer also durchaus in der Natur verwurzelt. Sie waren jedoch nichts Urtümliches, sondern eine sekundäre naturgeschichtliche Erscheinung, die notwendig war, um den Zustand der Zivilisation zu erreichen, in welchem sie nun zum Verschwinden gebracht werden sollten.
DIE WEISSE FRAU ALS HÜTERIN IHRER «RASSE»
Dass Royer den menschlichen Geschlechtskörper als etwas Androgynes und Wandelbares verstand, ist ein Gedanke, der auch in aktuellen Geschlechtertheorien Resonanz findet.39 Royers Geschlechtertheorie hatte jedoch eine problematische Kehrseite. Die tiefste Wahrheit über die Natur des Menschen war für Royer nämlich die Hierarchie zwischen menschlichen «Rassen». «Der erste Blick, den wir auf die Gesamtheit der lebenden Menschheit werfen», schrieb Royer in ihrem evolutionstheoretischen Hauptwerk von 1869, «zeigt uns diese in grosse Rassen unterteilt, sehr ungleich in ihren Fähigkeiten, in ihren gesellschaftlichen Organisationsweisen, in ihren körperlichen Eigenschaften, in ihrer Vorherrschaft und geografischen Ausbreitung auf dem Planeten […]. An der Spitze der Reihe hebt sich die weisse – auch arische oder indoeuropäische – Rasse ab […].»40
Mit ihren rassentheoretischen Ansichten stand Royer nicht alleine da. In einem schweizerischen Zusammenhang lässt sie sich als Vertreterin eines radikalen, säkularisierten Rassismus einordnen, den sie mit ihrem Genfer Kollegen Carl Vogt teilte. Auch er war ein atheistischer Verfechter des Evolutionsgedankens. Im Unterschied zu Royer glaubte er nicht, dass alle «Rassen» aus demselben «Stamm» hervorgegangen seien, sondern unterschied mehrere Wurzeln (Polygenismus). Ähnlich wie Royer sah er die Rassen in einem zutiefst hierarchischen Verhältnis. Afrikaner «erinnerten» ihn etwa «unwiderstehlich an den Affen».41 Andere Naturforscher teilten zwar Darwins These von der Wandelbarkeit der Arten, hielten jedoch aus religiösen Überzeugungen am Gedanken der göttlichen Schöpfung fest. Auch sie teilten die Menschheit in verschiedene «Rassen» ein, sahen diese jedoch als Variationen innerhalb derselben Art. Sprachlich äusserten sie sich zurückhaltender und setzten sich vor allem für den «Schutz» der vom Untergang bedrohten «Naturvölker» ein.42 Einen Spezialfall bildete der Neuenburger Naturforscher Louis Agassiz, der Lehrer Carl Vogts. Er lehnte den Darwinismus aus religiösen Gründen ab, vertrat jedoch ähnlich wie Vogt einen polygenetischen Rassismus, den er im Unterschied zu Royer und Vogt jedoch nicht so sehr in seinen Publikationen, sondern in privaten Äusserungen ausbreitete.43
In Royers Konzeption war die Hierarchie zwischen den «Rassen», im Unterschied zu jener zwischen den Geschlechtern, nicht nur fundamental und unüberwindbar, sondern auch weit grösser als in den Augen ihrer Zeitgenossen. Strichen diese vor allem die Nähe «primitiver Rassen» zu Primaten hervor, betonte Royer:
«Es lässt sich sogar ohne Furcht behaupten, dass ein Mincopie [Bewohner der Andamanen], ein Buschmann, ein Papua oder sogar ein Lappländer [geistig] nicht nur näher mit einem Affen, sondern auch näher mit einem Känguru verwandt ist als mit einem Descartes, einem Newton, einem Goethe oder einem Lavoisier.»44
Wenn wir Royers Geschlechtertheorie mit ihrer Rassentheorie kombinieren, lässt sich ihre Position als eine Art feministischen Rassismus oder rassistischen Feminismus charakterisieren. Der Fluchtpunkt von Royers Denken bildete stets der «Fortschritt» der weissen «Rasse». Anders als bei ihren männlichen Kollegen spielten Frauen in diesem Prozess jedoch nicht nur eine passive und nebensächliche, sondern eine aktive, ja die zentrale Rolle, wie sie in einer Passage über sexuelle Verbindungen («Blutsmischung») zwischen unterschiedlichen «Rassen» erläuterte:
«Der Widerwille gegen die Blutsmischung zeigte sich zuerst bei den überlegenen Rassen und zwar stärker bei den Weibchen als bei den Männchen. Bis zum heutigen Tag ist es eine universelle Tatsache, dass Kreuzungen zwischen der weissen Rasse und minderwertigen Rassen aus Verbindungen zwischen dem Weissen und der Negerin, der Inderin oder der Australierin hervorgehen; nur in Ausnahmefällen – etwa in Fällen von Gewalt – findet man Beispiele von Mischungen zwischen der weissen Frau und Männern anderer Rassen.»45
Die Gründe, weshalb sexuelle Verbindungen zwischen europäischen Männern und farbigen Frauen häufiger waren als umgekehrt, waren politischer und kultureller Art: Gerade zum Schutz des weissen Überlegenheitsanspruchs wurde der Kontakt zwischen europäischen Frauen und farbigen Männern auf den Plantagen und in Handelsstädten in Übersee durch die Kolonialmächte eingeschränkt.46 Royer erklärte sich diese Tatsache jedoch biologisch, mit einem angeblich angeborenen «Widerwillen» weisser Frauen gegenüber farbigen Männern. Die weisse Frau sorgte in ihrer Konzeption also für die «Reinheit» und angebliche Überlegenheit ihrer «Rasse».
Abb. 8: Im hohen Alter wurde Clémence Royer in Frankreich mehrfach geehrt. Dieses Porträt entstand 1902 kurz vor ihrem Ableben. Es zeigt sie mit dem roten Band der französischen Ehrenlegion.
SCHLUSS
Damit entpuppt sich Royer als gleichermassen faszinierende und ambivalente Denkerin. Sie schrieb in origineller Weise gegen die naturwissenschaftliche Begründung der Diskriminierung von Frauen an. Anders als spätere Generationen von Feministinnen entlarvte sie angeblich biologische Unterschiede und Hierarchien zwischen den Geschlechtern jedoch nicht als Ausdruck der kulturellen Machtausübung in einer männlich dominierten Gesellschaft. Sie versuchte stattdessen eine alternative, eine feministische Biologie zu entwerfen. Die problematische Kehrseite ihrer Philosophie war der Rassismus, der kein Nebenprodukt, sondern vielmehr konstitutiv für ihren Feminismus war. Ihre Vorstellung von Emanzipation umfasste nicht alle Menschen, sondern primär bürgerliche europäische Frauen wie sie selber. Sie sah die Menschheitsgeschichte als einen Überlebenskampf zwischen der «zivilisierten» europäischen «Rasse» und allen anderen «Rassen». Die Emanzipation der europäischen Frauen stellte für sie eine Notwendigkeit im ureigenen Interesse der «weissen Rasse» dar. Nur mit der Emanzipation der Frauen könne diese ihren Zustand der «Zivilisation» und damit ihre Überlegenheit über alle anderen «Rassen» bewahren. Hierzu müsse jedoch auch gegen Bedrohungen im Inneren vorgegangen werden, gegen die «Schwachen, Kranken, Unheilbaren und Bösartigen», wie sie im Vorwort zu ihrer Darwin-Übersetzung nahelegte.
Royer entwickelte diese Gedanken nicht in isolierter Abgeschlossenheit, sondern im regen Austausch mit Wissenschaftlern aus der Schweiz und dem Ausland. Der Fall beleuchtet damit auch ein Stück Geschichte der intellektuellen und gebildeten Schweiz. Er illustriert, dass Rassentheorien und eugenische Theorien keinesfalls aus dem Ausland in die Schweiz «importiert» wurden, sondern dass die Schweiz als Knotenpunkt innerhalb weitverzweigter wissenschaftlicher Netzwerke selber ein Standort war, wo solche Theorien produziert wurden.
SERGE REUBI
FÜR BASEL UND DIE WISSENSCHAFT
Fritz und Paul Sarasin in Ceylon
Als die Vettern Fritz (1859-1942) und Paul Sarasin (1856-1929) zu Beginn der 1880er-Jahre in Ceylon weilten, führten sie – inspiriert durch ihren Mentor Karl Semper in Würzburg sowie durch die Situation vor Ort – umfangreiche zoologische Untersuchungen durch. Sie wollten nicht nur die Embryologie von Pachydermen (Dickhäutern) studieren, sondern ebenso Süsswasser-Mollusken, Seeigel, Amphibien und die Weddas, ein Volk, das sie selbst als primitiv betrachteten. Dieses ehrgeizige Unterfangen ist allerdings gar nicht so heterogen, wie es uns heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, erscheinen mag. Im Gegenteil ist es bezeichnend für eine gewisse Vorstellung und Praxis der Forschung, die Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreitet war und die Arbeiten der beiden Sarasin-Vettern stark beeinflusst hat. Gleichzeitig zeigt sich darin aber auch, wie sehr die Praktiken der schweizerischen Naturforschung von gewissen Eigenheiten der sozioökonomischen Milieus geprägt sind, aus denen die Naturforscher der damaligen Zeit hervorgegangen sind. Diese Praktiken, die Historikerinnen und Historiker aus Gewohnheit, Zweckmässigkeit oder Verbundenheit mit der Einrichtung, in der diese Forschenden tätig waren, als «gelehrt» bezeichneten, können und müssen aus verschiedenen Blickwinkeln und im Zusammenhang mit den vielfältigen Funktionen betrachtet werden, denen sie dienten. Die Forschungspraktiken von Fritz und Paul Sarasin stützten sich nämlich sowohl auf wissenschaftliche Vorgaben, wie sie auch in anderen Ländern anzutreffen waren, als auch auf lokal geprägte gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Gegebenheiten. Und genau um diese letzteren Punkte geht es hier. Einerseits sollen die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bedingungen untersucht werden, die in Basel Ende des 19. Jahrhunderts den Aufbau exotischer Gelehrtensammlungen ermöglicht haben, und andererseits soll analysiert werden, inwiefern ihr Zusammenspiel eine bestimmte Art der Forschung geprägt hat.
PATRIZIER, VIELSEITIGE GELEHRTE UND NATURFORSCHER
Der 1856 geborene Paul und sein um drei Jahre jüngerer Vetter Fritz Sarasin entstammten dem Basler Patriziat, mit dem sie ihre Vorstellung von Wissenschaftspolitik teilten. Gleichzeitig waren sie aber auch die etwas späten Erben einer gewissen humboldtschen Forschungstradition, deren Spuren in ihren Praktiken zu erkennen sind. Diese beiden Traditionen haben ihre Tätigkeit als Gelehrte und Bürger zutiefst geprägt.
Das Patriziat, das aus einer Handvoll alteingesessener, reicher und eng miteinander versippter Bürgerfamilien bestand, dominierte das politische Leben in Basel de jure bis 1874. Aber auch danach blieb der Einfluss der Patrizierfamilien immens, und sie dominierten zumindest bis zum Ersten Weltkrieg nicht nur die Politik, sondern auch das juristische, wirtschaftliche und kulturelle Leben der Stadt.1 Die Sarasins zählten zu den bedeutendsten Mitgliedern dieser Führungsschicht. Sie stammten von hugenottischen Flüchtlingen ab, die seit ihrer Niederlassung in Basel im 17. Jahrhundert im Textilgeschäft tätig waren. Die Familie war wirtschaftlich und kommerziell äusserst erfolgreich, und schon bald übernahmen einige ihrer Mitglieder Ehrenämter in der Verwaltung des Stadtstaats. Fritz Sarasin – Enkel eines Regierungsrats und Mitglieds der Tagsatzung sowie Sohn des Bürgermeisters, der ebenfalls Mitglied der Tagsatzung gewesen war – ebenso wie sein Vetter Paul gehörten somit einer ehrwürdigen Tradition an, die ihnen nicht nur finanziellen Wohlstand brachte, sondern dank geschickten Heiratsstrategien auch einen privilegierten Platz im Netz der familiären Beziehungen sicherte, das die Machtverteilung in Basel regelte.2 Dank ihrer Zugehörigkeit zum Patriziat hatten sie einerseits Zugriff auf ein nahezu unerschöpfliches wirtschaftliches Kapital, sodass sie ihre Forschungen in völliger institutioneller und finanzieller Unabhängigkeit durchführen konnten. Andererseits war ihre Herkunft aber auch mit einem symbolischen Kapital verbunden, das es ihnen ermöglichte und sie dazu verpflichtete, verschiedene Ehrenämter in kulturellen und gelehrten Einrichtungen der Stadt zu übernehmen, die sie in der Folge nach ihren Interessen steuern konnten.3
Abb. 1: Fritz und Paul Sarasin als Mitglieder der Studentenverbindung «Zofingia» in Basel (undatiert).
Die beiden Vettern waren Naturforscher, gemässigte Darwinisten, 4 Materialisten, 5 aber vor allem Empiriker. Sie absolvierten mit Ausnahme eines Abstechers von Fritz Sarasin nach Genf, wo er bei Carl Vogt studierte, die gleiche naturwissenschaftliche Ausbildung mit Spezialisierung auf die Zoologie. Paul begann sein Studium in Basel, wo ihn aber nur gerade die Vorlesungen des Naturforschers Ludwig Rütimeyer und des Anthropologen Julius Kollmann zu fesseln vermochten. Schon bald wechselte er, gefolgt von Fritz, an die Universität von Würzburg, wo die beiden bei den renommiertesten deutschen Naturforschern studierten, darunter dem berühmten Zoologen Karl Semper, bei dem sie letztlich auch promovierten.6 Letzterer hat ihre Untersuchungsmethoden denn auch deutlich geprägt. So hatte sich Semper während fast zehn Jahren auf den Philippinen mit geologischen, zoologischen, meteorologischen und anthropologischen Fragestellungen beschäftigt, 7 während die Sarasins über drei Jahre zoologische, anthropologische und meteorologische Forschungen in Ceylon durchführen sollten. Alle drei bevorzugten die Feldforschung gegenüber den Aktivitäten der Salon-Gelehrten, beschäftigten sich lieber mit exotischer Naturgeschichte als mit der Erforschung von Europa und konzentrierten sich zwar auf die Zoologie, studierten daneben aber noch viele andere Objekte.
Abb. 2: Fritz und Paul Sarasin als Zoologen auf Ceylon, undatiert (1880er-Jahre). Um Elefantenembryos zu studieren, mussten Elefanten gejagt und getötet werden, ein Umstand, den der spätere Naturschützer Paul Sarasin bedauern sollte. Die Abbildung mit dem Elefanten als Trophäe weist darauf hin, dass die Elefantenjagd nicht nur eine wissenschaftliche Praxis, sondern auch ein Freizeitvergnügen war.
Diese Vielfalt von Studienobjekten, die wir heute verschiedenen Disziplinen zuordnen, muss aus drei Gründen nicht erstaunen. Erstens wurden die Forschungsbereiche damals nur als Fachrichtungen betrachtet, die sich einzig durch ihren Gegenstand voneinander unterschieden, aber nicht durch das Denkverfahren, das sie für sich in Anspruch nahmen.8 Solche parallelen Forschungen waren übrigens im letzten Viertel des 19.Jahrhunderts gang und gäbe, wie dies etwa die Arbeiten von Alfred C. Haddon zeigen, der im Torres Strait gleichzeitig ethnografische und zoologische Studien durchführte, oder diejenigen von Franz Boas, der sich der Anthropologie, der Kartografie und der Meteorologie von Baffin-Land widmete.9 Genauer gesagt, beschränkte sich dieses «Denkverfahren» auf eine naturalistische Statistik nach humboldtscher Tradition, die die Gelehrten dazu aufforderte, die Wirklichkeit zu beobachten und bis ins kleinste Detail zu beschreiben.10 Damit wurde der Forschungsgegenstand umrissen, und gleichzeitig war es legitim, den einen oder andern Aspekt genauer zu untersuchen. Zweitens vertraten Fritz und Paul Sarasin ebenso wie ihr Basler Lehrer Rütimeyer ein breites Verständnis von Zoologie, zu der auch die Anthropologie gehörte, da der Mensch schliesslich auch ein Tier sei. Und schliesslich übernahmen sie wie die meisten deutschen Anthropologen des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine Vorstellung von Anthropologie, die sich in die Naturwissenschaft und nicht in die Geisteswissenschaft einreihte.
Als die beiden Gelehrten nach dreijähriger Feldforschung 1886 nach Europa zurückkehrten, liessen sie sich in Berlin nieder, um ihre mitgebrachten zoologischen und ethnografischen Objekte zu untersuchen. Dabei wurden ihre Arbeiten in den Berliner Gelehrtenkreisen unterschiedlich aufgenommen. Während die zoologischen Untersuchungen bei den Gelehrten des Naturhistorischen Museums11 auf Wohlwollen stiessen, war dies bei den anthropologischen und ethnografischen Arbeiten, die sie dem Kreis rund um den herausragenden deutschen Ethnologen Adolf Bastian und der renommierten Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU) vorstellten, weniger der Fall.12 Gewisse Grenzen ihrer Forschungen wurden ihnen zudem schnell einmal selbst bewusst. Als Rudolf Virchow, einer der bedeutendsten Anthropologen Ende des 19. Jahrhunderts, sie persönlich dazu aufforderte, nach Ceylon zurückzukehren und ihre Sammlungen zu erweitern, zögerten sie denn auch nicht lange. 1890 stellten sie eine zweite Expedition zusammen, um weitere Kulturgüter, Fotografien und Skelette zu sammeln, auf deren Grundlage sie später ihre umfassende Studie über die Weddas verfassten.13
Man könnte also sagen, dass das Vorhaben der Sarasin-Vettern auf zwei voneinander getrennten Pfeilern beruhte: zum einen auf einem Forschungsgegenstand, den sie aufgrund ihres Studiums bei europaweit bekannten Gelehrten erarbeitet und den Empfehlungen der herausragendsten Köpfe angepasst hatten, und zum andern auf ihrer familiären Herkunft, dank der sie sich einen über siebenjährigen Forschungsaufenthalt in Ceylon und Berlin überhaupt erst leisten konnten. Zwar betonten die Sarasins nach ihrer Rückkehr nach Basel immer wieder, dass ihr Beziehungsnetz zu Gelehrten auf wissenschaftlichen Grundlagen aufbaute. Aber die Tatsache, dass sie nicht nur wegen ihrer Verdienste Umgang mit der Crème de la Crème der europäischen Gelehrten hatten, sondern auch wegen ihres Wohlstands, weist darauf hin, dass die Situation wohl nicht ganz so eindeutig war. Eine sorgfältige Prüfung ihrer Praktiken zeigt denn auch, dass die Grenzen fliessend waren.
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