Kitabı oku: «"Ein Wort, ein Satz…"», sayfa 2
SAFIYE CAN
Werkbegriff und Werkberufung
I
Manches geschieht ohne Planung, sondern einfach nur, weil es genauso sein soll, wie es am Ende vorliegt. Meine ersten drei Lyrikbände sind so geworden, wie sie sein mussten. Am vierten arbeite ich gerade. Wenn ich an einem Gedichtband arbeite, denke ich immer auch darüber nach, wie er die Menschen erreichen soll, aber auch, was in zwanzig, dreißig Jahren mit dem Buch sein wird. Das liegt vielleicht auch daran, dass ich beim Schreiben eines jeden einzelnen Gedichtes stets die LeserInnen vor dem geistigen Auge habe. Und dies nicht deshalb, weil es mich etwa motivierte, vielmehr geschieht das von selbst.
Ich begann Gedichte zu schreiben, wie man das üblicherweise so macht, in Pubertätstagen, verfasst für die beste Freundin, den Großvater, und stellte irgendwann fest, dass ich längst nicht mehr für einen Bekanntenkreis schrieb und dass ich beim Schreiben die (mir zwar vertrauten, aber doch) unbekannten LeserInnen vor Augen habe. Sie kamen ganz so, wie einem plötzlich eine gute Idee in den Sinn kommt, unerwartet, unangemeldet. Und sie blieben; ich kann sie mir nicht wegdenken.
Sobald ich schreibe, und das geschieht – samt Klängen und Rhythmen – freilich erst im Kopf, sind sie als stumme BegleiterInnen dabei. Der Unterschied zwischen diesem Publikum von heute zu dem von früher ist der, dass es sich bei Ersterem nicht nur um zeitgenössische LeserInnen handelt, sondern auch um solche, die heute noch nicht auf der Welt sind. Das muss merkwürdig klingen.
Ich habe mir bei all meinen Büchern und Herausgeberschaften etwas gedacht. Allen liegt eine Konzeption zugrunde und alle sind, wenn man es sehen mag, politisch.
Jeder Titel flog mir zu und jeder Titel ist gut überlegt und erwogen. Was auf dem Cover steht, wird man auch im Inhalt wiederfinden, und zwar in jedem einzelnen Gedicht und Beitrag. (Das ist vielleicht auch meiner Erziehung geschuldet: Wenn man jemandem etwas verspricht, dann soll man es auch halten.)
Ich verfolge mit allen meinen Büchern, auch mit meinen Prosabeiträgen, das Ziel, den Leser für Lyrik zu gewinnen. Mein Motto lautet: Lest Gedichte!
Dies ist das erste Mal, dass ich nach meinem Werkbegriff gefragt werde, und ich möchte antworten, indem ich innerhalb meiner Lyrikpublikation bleibe. Zur Lyrik fühle ich mich hingezogen und berufen.
Mein erster Lyrikband trägt den Titel Rose und Nachtigall. Liebesgedichte. Was an Liebesgedichten ist politisch, könnte man fragen. Deutschland leidet an Poesielosigkeit. Neben meiner naturgegebenen oder selbsternannten Mission, der Lyrik mehr Popularität zu verschaffen, verfolge ich mit diesem Buch vor allem zwei Anliegen:
1. Die Adaption der Metapher ›Rose und Nachtigall‹, die zwar schon bei Goethe und Heine vorkommt, aber in der deutschsprachigen Literatur nicht weiter übernommen wurde und weitestgehend unbekannt blieb. Was sehr schade ist, denn nicht umsonst ist sie seit Ende des 11. Jahrhunderts / Anfang des 12. Jahrhunderts bis heute in vielen anderen Sprachräumen ein häufig verwendetes Sprachbild (Songtexte inbegriffen). Die Erläuterung der Metapher halte ich für selbstverständlich, da sie dem Band den Titel gibt und aus einem anderen Sprachraum kommt. LeserInnen haben einen Anspruch auf diese Erläuterung.
a) Diese Metapher ist populär wie keine zweite Metapher im arabischen Sprachraum und steht stellvertretend für tiefe Liebe schlechthin. Ein Buch voller Liebesgedichte Rose und Nachtigall zu nennen, erschien mir geradezu folgerichtig. Mit Verwunderung, aber auch etwas enttäuscht, musste ich damals feststellen, dass es diesen Titel auf Deutsch noch nicht gab.
b) Bei Liebesgedichten das Wort ›Rose‹ im Buchtitel zu verwenden, bedeutet allerdings auch, ein Risiko einzugehen. Manch eine oder einer wird das Buch mit dem Gedanken gar nicht erst aufgeschlagen haben: Mehr Kitsch geht sicherlich nicht.
2. Das Setzen politischer Zeichen. Für die Lesenden ist es so: Wenn eine Dichterin Liebesgedichte schreibt, ist das eigentlich die normalste Sache der Welt. Für den deutschsprachigen Literaturbetrieb allerdings ist dies gar nicht so selbstverständlich.
a) Ein Gedichtband aus dem 21. Jahrhundert, der aus Liebesgedichten besteht, ist ein ungewöhnliches Phänomen – Bände mit Liebesgedichten gibt es eigentlich nur noch, wenn bei verstorbenen Dichterinnen Liebesgedichte aus allen Bänden zu einem Band zusammengestellt werden. Ungewöhnlicher bis (ich meine?) nicht da gewesen ist es, wenn es sich hierbei zudem um ein Debüt handelt.
b) Eine Dichterin, die einen bis mehrere Migrationshintergründe und keinen deutschen Namen hat, deren Debüt aus deutschsprachigen Liebesgedichten besteht und in dem das Thema Migration, Heimat, Herkunft, Darstellung von Leidenswegen anhand diverser Traditionen und Religionen, an denen sie gelitten hat, oder Ähnliches ausbleibt, ist unüblich, wenn nicht gar unerhört. Dies wird auch der Grund gewesen sein für die vielen Absagebriefe. Wenn unseresgleichen Bücher publiziert, Prosa oder Lyrik, wird angenommen, dass dabei Migrationsthemen behandelt werden. Du kannst dich nicht mit deinem nichtdeutschen Namen einfach so auf dieselbe Stufe stellen wie deine deutschen KollegInnen. Das Land ist nicht so weit.
Mein Debüt ist ein Statement, ich wollte ein Zeichen setzen. Und die LeserInnen haben geantwortet: Sie haben das Buch zum Lyrikbestseller katapultiert. Auch sie haben, ohne ein politisches Wort auszusprechen, eine politische Antwort gegeben.
Ich hoffe, dass auch noch in vielen Jahren meine Gedichtbände Menschen glücklich machen. Sie sollen sie informieren, motivieren und das höchste aller erreichbaren Ziele: berühren. Selbstverständlich auch diejenigen, die noch nicht geboren sind. Es liegt in der Natur der Dinge, dass man nicht allen begegnen kann. Aber umarmen kann man sie dennoch. Mit Versen.
II
Jedes Buch einer Autorin / eines Autors steht immer in einem bestimmten Verhältnis zu einem vorherigen Buch; sie stammen schließlich aus einer Feder und sind – ohne eine Art Fortsetzungsroman sein zu müssen – die erweiterte Gedanken-, Traum und /oder Wunschwelt des Schreibenden. Auch in meinen Büchern findet man einen roten Faden, der sich durch alle Bände zieht, und dennoch wird jeder einzelne neu und unabhängig von allem zuvor Geschriebenen sein.
Meine Gedichtbände sind stets in Kapitel eingeteilt und schließen ab mit einem Langgedicht, das sozusagen die Hauptschlagader des Buches ist und auch immer der Titelgeber des Buches selbst. Diese Einteilungen können etwa aufführen, wie verschiedenartig Lyrik schreibbar ist z. B. in Form von Gedichtcollagen, visueller Poesie u. v. m. Das ist mir wichtig und arbeitet gegen den im deutschen Sprachraum nach wie vor festgefahrenen und weitverbreiteten Gedanken von einfältig-langweiliger Poesie, Schnulzgedichten oder durchweg verschlossener, nicht zugänglicher Lyrik.
Eine weitere Idee für alle Bände war zudem, nach dem Langgedicht am Buchende deren Übersetzung ins Englische abzudrucken, an der ich mit dem Übersetzer arbeitete, um möglichst viele Menschen im Land, aber auch außerhalb davon, zu erreichen, die der deutschen Sprache gar nicht oder nicht ausreichend mächtig sind. Englisch ist nun einmal die dominierende Weltsprache.
Bei jedem Vorhaben steht die Authentizität der Gedichte im Vordergrund. Gedichte, die sich quasi von alleine schreiben, weil sie sich einem aufdrängen, sind die besten Gedichte.
Meine Texte entstehen aufgrund eines inneren Drangs, sie zu schreiben. Ich würde sagen, das Gedicht kommt von alleine zu mir. Ich dränge mich dem Gedicht nicht auf. Werde ich angefragt, zu einem bestimmten Thema zu dichten, fällt mir dies schwer, wenn es nicht mein Thema ist, und ich lehne ab. Es sei denn, das Thema zündet sofort. Auch dann kommt das Gedicht ganz von alleine; so als wartete es die ganze Zeit darauf, dass jemand sagt: Schreib! Los! Um die Freiheit im Schreiben von Texten beizubehalten, entstehen sie zuerst, ohne dass ich mir Gedanken über das große Ganze mache.
Die Gedichte kommen zu mir, aber ich arbeite sehr lange an ihnen. So lange, dass es fast an Selbstzerstörung grenzt. Ich verabschiede oder distanziere mich auch nicht von meinen Büchern. Sie sind bei Lesungen dabei. Auch wenn ein aktuelles Buch auf dem Markt ist, lese ich meist aus allen. Die Gedichte werden schließlich nicht alt, sie altern nicht.
Und in Zukunft?
Mein zweiter, Diese Haltestelle hab ich mir gemacht, und vor allem mein dritter Lyrikband, Kinder der verlorenen Gesellschaft, sind inhaltlich politischer. Ich weiß, dass ich auch in Zukunft diese Richtung verfolgen werde, weil es Themen gibt, die bearbeitet werden wollen und müssen. Aufgrund ihrer Natur sind manche so gewichtig, dass sie einen langen Reifeprozess benötigen.
Die Freiheit jedoch, ich sprach es an, bleibt das A und O beim künstlerischen Schaffen. Die Kreativität will kein aufgezwängtes Korsett tragen. Und sollte ich einmal einen Roman schreiben, wird auch das aus Liebe zur Lyrik geschehen.
Die Quintessenz meines Beitrags ist also folgende: Meine Bücher sind durchdacht, und doch fügen sie sich aus Einzelteilen zusammen, sodass am Ende ein Buch vorliegt, das so ist, wie es sein sollte, noch bevor ich es mir erdachte.
DANIELA DANZ
Das Geschriebene / das zu Schreibende
Wer wäre ich geworden, wenn 1990 das Land, in dem ich aufgewachsen bin, nicht aufgehört hätte zu existieren? Ich frage mich das oft, habe geradezu einen Hang zu solchen Fragen: Wer wäre ich als Mann, wer vor zweihundert Jahren, wer von einem Wissen her, das ich nicht habe, einem Wissen zum Beispiel um den Zeitpunkt meines Todes? Und diese Fragen umgeben mich in Ringen: Wer wären meine Kinder in einer anderen genetischen Kombination oder ohne die erzieherischen Eingriffe ihrer Eltern und nächst dieser Frage: Wie wäre mein Werk ohne seine praktischen Bedingungen? Und auch diese Frage wächst in Ringen um mich herum: Wie hätte Hölderlin geschrieben, hätte er einen Verlag und einen Literaturbetrieb wie ich gehabt? Hätte er jene sprachliche Radikalität von einer abgesicherteren Position aus erreicht? Oder welches Vokabular hätte Celan benutzt, wenn er nicht auf einem Außenposten der deutschen Sprache, in der Bukowina, das Sprechen erlernt hätte?
Wie ist es nun mit meinem Werk? Habe ich ein Werk, arbeite ich an einem Werk, werde ich ein Werk haben, es gehabt und erarbeitet haben? Ist ein Werk nur das Geschaffene oder auch das zu Schaffende? Wenn ich sage: mein Leben, dann meine ich das gegenwärtige und das zurückliegende, über das zukünftige weiß ich gnädigerweise nichts. Allerdings verlängere ich wie selbstverständlich die Linien des bisherigen in die Zukunft hinein, würde aber doch stocken, die berüchtigte Frage zu beantworten: Wo sehen Sie sich in zehn Jahren? In Bezug auf mein Werk gibt es solche Linien in die Zukunft nicht. Es gibt so etwas wie Reisepläne: Themen, für die ich gerne Zeit hätte. Aber ansonsten liegt hinter mir klar und deutlich der gekommene Weg, vor mir keine Spur. Rückblickend sehe ich zwei Linien, die der Prosa und die der Lyrik. Was die Linie der längeren Prosawerke betrifft, so besteht sie nur aus der Verbindung zwischen zwei Punkten, Türmer (2006) und Lange Fluchten
(2016). Das ergibt zwar eine Linie, aber eine, über die sich noch nicht viel sagen lässt. Das lyrische Werk hingegen besteht aus vier thematischen Bänden, die sich mit Fragen nach der ostdeutschen Provinz (Serimunt, 2004) befassen, mit dem Zusammenhalt und den Grenzen Europas im Osten (Pontus, 2009), der Problematik von Nation und Nationalismus (V, 2014) und jetzt mit dem ambivalenten Begriff der Wildnis (Wildniß, 2020) und unserer neuerlichen Affinität dazu. Es geht immer um Gesellschaft, darum, was sie zusammenhält und wie sie sich verortet. Da die Linie vom ersten Band bis zu dem, der gerade erschienen ist, sehr geradlinig verläuft, ließe sich erwarten, dass sie weiterführt. Aber wohin und was ist ein Gedicht und wie soll ich es schreiben? Fragen und Zweifel grundsätzlichster Art stehen in der ungespurten Landschaft vor mir herum.
Zurückkehrend zur Frage nach dem Einfluss der äußeren Bedingungen auf mein Schreiben, lassen sich nun, da die Linien gezogen sind, verschiedene Hypothesen aufstellen. Zum einen denke ich, dass die Themen, über die ich schreibe, weniger damit zu tun haben, welche Resonanz sie erfahren, ihre sprachliche Umsetzung hingegen schon mehr. Ich kann mir vorstellen, dass ich anders schreiben würde, wenn mir oft genug gesagt werden würde, dass das keiner lesen möchte, wobei mir da auch Grenzen gesetzt sind und ich müsste doch mit Hölderlins Worten bald kapitulieren: »Sollten aber dennoch einige solche Sprache zu wenig konventionell finden, so muß ich ihnen gestehen: ich kann nicht anders.« Auf meine Themenwahl hätte das aber sicher eher den Einfluss, dass ich gar nicht mehr schreiben würde oder für die Schublade. Sie ist zu geschätzten 60 Prozent von der gesellschaftlichen Situation, zu 30 Prozent von der privaten Situation und nur zu 10 Prozent davon abhängig, welche Erwartungshaltungen es an sie gibt. Alles in allem würde ich daraus aber keine Schlüsse auf mich als Autorin, sondern Schlüsse auf meine beruflichen Rahmenbedingungen ziehen. Die sind sehr gut und in meinen Augen die eines Menschen, der eine glückliche Kindheit hatte, womit ich natürlich die literarische Kindheit meine.
In terms of theory of attachment würde man von einer sicheren Bindung sprechen (B-Typ), die es mir als Autorin bis jetzt immer ermöglicht hat, mich zuversichtlich nach meinen eigenen Gesetzen zu entfalten. Daran hat den größten Anteil die Gesellschaft, in die ich als Schreibende hineingewachsen bin – zum Beispiel in Kontrast zu der Gesellschaft, in die ich als Mensch hineingewachsen bin und von der ich mich, siehe oben, frage, auf welcher Seite der Schneide ich mit zunehmender Klarheit über die Widersprüche hinabgefallen wäre. Den zweitgrößten Anteil aber haben mein Verlag und mein Lektor als meine erste Bindungsperson. Bis heute erstaunt mich, mit welcher Unbeirrbarkeit sich beide schon gleich zu Beginn für mich entschieden hatten, als ich selbst mir über mein künftiges Werk, welchen Begriff ich gar nicht zu denken gewagt hätte, bewusst war. Und beide haben mir seither immer wieder Gelegenheit gegeben, mein Vertrauen darauf, dass ich dort eine Heimat habe, zu erneuern. Von hier aus also, again in terms of theory of attachment, erkunde ich als Autorin die Welt und schaffe mein Werk. Und, wie ein sicher gebundenes Kind, würde ich in Notsituationen als Autorin zuerst den Rat meines Lektors und meines Verlags suchen, eingedenk dessen, wie beide in den verschiedensten Lebenslagen für mich gesorgt haben. Mein Lektor hat mir darüber hinaus einmal das Schönste gesagt, was man einem Autor sagen kann. Die Sache war so, dass er einen persönlichen Widerstand gegen einen der Protagonisten meiner Bücher hatte und ich schließlich gefragt habe, warum der Verlag dann das Buch überhaupt veröffentlichen will, und er ganz schlicht geantwortet hat: »Weil es dein Buch ist.« Wenn mir so viel unbedingtes Vertrauen und Verlässlichkeit geschenkt wird, möchte ich meinerseits auch alles tun, damit es meinem Verlag mit meinen Büchern gut geht. Ich werde beim nächsten Thema und der nächsten Hauptfigur schon noch einmal überlegen, ob das etwas ist, das, wie auch immer, meinem Verlag guttut. Ich weiß aber auch, dass ich die Freiheit habe, wenn ich »nicht anders kann« als über dieses Thema oder jenen Charakter zu schreiben, ich das auch machen kann. Was für ein unglaubliches Glück, das mich inzwischen wirklich daran denken lässt, dass ich auf diese Weise ein Werk schaffen kann.
HEINRICH DETERING
Im Spiegel
Zwischen meinem ersten und meinem zweiten Gedichtband vergingen fünfundzwanzig Jahre. Die Veröffentlichung des Bändchens Zeichensprache im Jahr meines Abiturs gehörte zu einem kleinen Literaturpreis, den ich dank eines engagierten Deutschlehrers erhalten hatte. Nach diesem ermutigenden Anfang schrieb ich weiter Gedichte, veröffentlichte auch etwas in Zeitschriften und Anthologien. Aber es dauerte nur wenige Jahre bis zu der entmutigenden Ermahnung, dass so etwas den Berufsaussichten für akademische Literaturwissenschaftler sehr im Wege stehen werde. Ich weiß nicht, wie oft ich den Satz vom Schuster und den Leisten in diesen Studienjahren gehört habe – als wäre ich, gedichteschreibend, vom rechten akademischen Weg abgewichen und nicht vielmehr (wenn schon) im akademischen Umgang mit der Literatur vom lyrischen. Dass für mich beides zusammengehörte wie rechter und linker Fuß, empfand ich, aber ich konnte es nicht sagen. Ohne Vorsatz ergab es sich, dass ich meine Gedichte als Privatsache zu betrachten begann, als Teil einer Intimsphäre, die nur vertraute Menschen etwas anging.
Dass ein gleichaltriger Verleger – Literaturwissenschaftler wie ich, wir hatten uns in einem Hauptseminar über Lyrik-Rezensionen kennengelernt – eines Tages diese Gedichte las, professionell und produktiv kritisierte und veröffentlichen wollte, war der Anfang eines Comingout. Es entstand nicht so sehr aus den Worten als vielmehr aus den Objekten. Der Spiegel, vor dem ich zu sagen übte: »Ich bin ein Lyriker, und das ist auch gut so«, waren die ersten Druckfahnen, die er mir schickte, genau fünfundzwanzig Jahre nach dem ersten Bändchen. Die Bestätigung, die der Spiegel mir zurückgab wie eine Belohnung meines Mutes, war der fertige Band. Ich empfand etwas wie Verblüffung, als meine eigenen Verse mich von diesen Blättern fremd ansahen, in schöner Typografie und unter einem gemeinsamen Buchtitel, als Format und Einband festzulegen waren, als meine Gedichte in Beziehung traten zu anderen im selben Verlagsprogramm und ähnlicher Gestaltung. Das damalige Erstaunen spüre ich noch immer.
Der Verleger, der in dieser frühen Phase auch der Lektor war, half mir, den Satz, den ich beim Blick in die Druckfahnen für mich zu sagen geübt hatte, auch öffentlich zu wiederholen. Er tat es in Tat und Wort, mit der unwidersprechlichen Feststellung »You can’t have your cake and eat it« und mit der Ermutigung zu Fortsetzungen. So erschien 2004 mein zweiter Gedichtband; so folgten 2009 der dritte und dann noch drei weitere. Das Comingout war da schon Vergangenheit; aber das Erlebnis einer produktiven Rückkoppelung blieb.
Dieser Vorgang setzt sich aus einfachen Dingen zusammen, Alltagsgeschäften: Gesprächen mit dem Lektor, kritischen Nachfragen und Korrekturgängen, grafischen Vorschlägen, Farben und Formaten, Vorschautexten und Blurbs. Von Band zu Band wiederholte sich dabei die Erfahrung, die ich zuerst über den Druckfahnen gemacht hatte. Sie wurde sogar intensiver, und sie differenzierte sich aus. Der Blick auf das dreidimensionale Artefakt entwickelte ein Magnetfeld, in dem sich die einzelnen Gedichte zu Gruppen und die Gruppen zu Bänden zu ordnen begannen. Und noch etwas geschah in dem Maße, in dem aus dem einen Band eine Reihe wurde: Der Fortgang ermöglichte und verlangte eine Reflexion des Geschriebenen und des zu Schreibenden, die allmählich zu einer Art von Werkempfinden führte. Wo Ideen und Motive gewesen waren, Datensätze, Zettel und Kritzeleien, da wurde es Buch; wo ein einzelnes Buch gewesen war, entstand (klein, aber mein) eine Art Werk. Linien ergaben sich, die ich nicht geplant, aber doch offenkundig gezogen hatte, Ideen und Motive stellten sich ein, aus Zetteln und Daten der nächste Band. So wurde aus Einzelteilen eine Gestalt.
In einem Masterseminar in Göttingen sprach ich vor Kurzem von einem Gedicht der Annette von Droste-Hülshoff, Das Spiegelbild, und von derjenigen kindlichen Entwicklungsphase, die Jacques Lacan das »Spiegelstadium« nennt. Es ging also um die mit der Entdeckung des eigenen Spiegelbildes einhergehende Konstituierung des ersten Selbstbewusstseins, wenn aus lauter disparaten Einzelteilen und Impulsen das zusammenschießt, was der Spiegel als Gestalt zeigt, um Allmachtsfantasien eines Größenselbst und um die damit einhergehende, unausweichlich gleichzeitige Entfremdungserfahrung und Zerstückelungsangst.
Im Spiegel lautete anfangs des 20. Jahrhunderts der Titel einer jahrelang laufenden Kolumne im Litterarischen Echo, in der sich der junge Thomas Mann und andere Schriftsteller, die mich in meinem akademischen Dasein beschäftigten, im Spiegel ihrer Bücher ansehen und beschreiben sollten. Wenn ich so etwas entwickelt habe wie ein Werkempfinden, Werkbewusstsein, dann ist das »im Spiegel« geschehen: in der Reihe meiner erwachsenen Gedichtbände in ihrer Typografie, ihren Umschlägen, der Kontinuität des Formats; in all dem, was das Lektorat, die Herstellung, die Werbeabteilung, der Verleger mir, nein: meinen Texten als Spiegel vorhielt. Es ähnelt tatsächlich dem Spiegel Lacans, seinen Versprechen, auch seinen Schrecken. Einer seiner Leitbegriffe, das Wort »libidinös«, passt hierher.
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