Kitabı oku: «Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren»
Erfahrungsorientierte Bildungsforschung
Band 8
Im Bildungsbereich werden täglich vielfältige Aktivitäten initiiert, Prozesse in Gang gesetzt und Aufgaben bearbeitet. Wenig ist darüber bekannt, wie sie vollzogen werden. Die Reihe „Erfahrungsorientierte Bildungsforschung“ erschließt einen in den Bildungswissenschaften vernachlässigten Bereich, indem sie den Erfahrungen
nachspürt, die sich in Bildung und Erziehung zeigen. Die einzelnen Bände machen die Erfahrungsmomente pädagogischen Handelns versteh- und erfahrbar. Über verdichtete Beschreibungen (z. B. Vignetten, Anekdoten) werden Erfahrungsdimensionen erschlossen, welche zum Überdenken der eigenen pädagogischen Erfahrungen
beitragen können.
Herausgegeben von Evi Agostini, Markus Ammann, Siegfried Baur, Hans Karl Peterlini, Michael Schratz und Johanna F. Schwarz
Impressum
© 2021 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck
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ISBN 978-3-7065-6113-6
Satz: Studienverlag/Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig
Umschlag: Maria Strobl – www.gestro.at
Umschlagfotos: Silke Pfeifer
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Vasileios Symeonidis /Johanna F. Schwarz (Hg.)r
Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren
Potential und Grenzen der Vignetten- und Anekdotenforschung in Annäherung an das Phänomen Verstehen
Inhaltsverzeichnis
Cover
Impressum
Titel
Dem Phänomen Verstehen auf der Spur Einführung und Vorwort
Vasileios Symeonidis, Johanna F. Schwarz
Literaturverzeichnis
1. Grundlagen
Szenisches Verstehen
Käte Meyer-Drawe
1. Einfall und Motivation
2. Szenisches Verstehen
3. Eine andere Empirie
Literaturverzeichnis
Verstehen und Beschreiben.
Zur phänomenologischen Deskription in der qualitativen Empirie
Malte Brinkmann
1. Verschiebungen: Verstehen in der qualitativen Sozial- und Bildungsforschung
2. Hermeneutische Theorien des Verstehens: Schleiermacher, Dilthey, Gadamer, Buck
3. Probleme des hermeneutischen Verstehens
4. Ausgang, Zugang, Durchgang: Das Phänomen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
5. Sagbares und Unsagbares: Signifikative Differenz
6. Phänomenologische Deskription: mit der Sprache gegen ihre Grammatik
7. Phänomenologische Reduktion
8. Variation von Perspektiven – Einlegen von Sinn
9. Geteiltes Verstehen als Antworten
10. Schluss
Literaturverzeichnis
Schule als Erfahrungsraum für pädagogisches Verstehen
Sondierungen lernseits von Unterricht
Michael Schratz
1. Den Sinn von Schule im Unterricht erfahren
2. Die Wirkmacht der Tiefenstrukturen von Unterricht
3. „Welches Lernen wollen wir eigentlich?“
4. Erfahrungen wirken, aber wie!?
5. Ausblick
Literaturverzeichnis
2. Methodologische Annäherungen an Phänomene des Verstehens
Anders wahrnehmen und anderes verstehen am Beispiel der Vignettenforschung ‚Nah am Werk‘
Evi Agostini, Agnes Bube
1. Kunstvermittlung ‚Nah am Werk‘ und Vignettenforschung
2. Projektbeginn: Forschung im Sprengel Museum Hannover
2. 1. Vignette und Vignetten-Lektüre zum Aufforderungscharakter von Ding, Welt und Anderen
Beispielvignette: What Could Make Me Feel That Way A von Richard Deacon
2. 2. Durch Kunst anders wahrnehmen und anderes verstehen
3. Projektfortführung: Praxisforschung an der Universität Wien
3. 1. Forschungsbezogen lehren – wahrnehmungsorientiert lernen
3. 2. Über Lernen, Lehren und Forschen neu und anders wahrnehmen hin zu einer professionellen pädagogischen Wahrnehmung
Beispielvignette: Maraika und Der Pfau von Natalija Gontscharowa
Vignette: Sanela und der erste Schnee
Vignette: Beni und der erste Schnee
4. Fazit: Anders wahrnehmen und anderes verstehen
Literaturverzeichnis
Szenisches Mitfühlen als Sprache des Unterdrückten
Auslotung performativer Verstehensmöglichkeiten am Beispiel einer Vignette – ein Versuch
Daniela Lehner, Hans Karl Peterlini
1. Theoretische Begründung: Verstehen und (Nicht-)Verstehen
2. Szenisches Verstehen und performative Phänomenologie
3. Vignette und Vignettenlektüre: Kaputte Städte oder Schöne Städte
3. 1. Vignette – Kaputte Städte oder Schöne Städte
3. 2. Nachstellen der Vignette im Workshop
3. 3. Nachgängige Gedanken der Teilnehmenden des Symposiums
3. 4. Lektüre und Deutungen der Vignette
4. Abschlussgedanken
Literaturverzeichnis
Miterfahrung als Schlüssel zum Verstehen.
Vom Potential der phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung zur Annäherung an ein komplexes Phänomen
Gabriele Rathgeb, Johanna F. Schwarz
1. Verstehen als Assimilation und Zerstörung des Fremden
2. Verstehen und Verständigung
3. Phänomenologische Vignetten- und Anekdotenforschung
3. 1. Vignetten – Instrumente zur Erfassung von Erfahrungsdimensionen von Bildungsphänomenen in medias res und in statu nascendi
3. 2. Anekdoten – Instrumente zum Erfassen erzählter und erinnerter Erfahrung in Bildungskontexten
4. Abschließende Bemerkungen: Zugang zu fremden Erfahrungen durch Vignetten und Anekdoten
Literaturverzeichnis
Words of wellbeing: Using vignettes to capture meaningful moments in an African context
Irma Eloff
1. Introduction
2. Background to the project
3. Capturing vignettes on student wellbeing
Vignette 1
Vignette 2
4. The questions
How much of what the researcher observes is because of his or her own professional background?
Should a vignette researcher focus on one individual only?
Is it best to capture observation notes in the mother language of the researcher, or in the language in which the vignette will be written?
5. Conclusion
References
Erinnerte Erfahrung reflektieren
Anekdote und Erinnerungsbild als Reflexionsinstrumente in der Lehrer*innenbildung
Silvia Krenn
1. Über das Reflektieren für den Lehrberuf
2. Theoretische Annäherung an das Reflektieren
Handelt es sich bei der Reflexion um ein Werk des Verstandes?
Richtet sich die Reflexion auf Vergangenes?
Beinhaltet Reflexion Kritik und eine Bewertung in richtig und falsch, gut oder schlecht?
3. Trennung von Ereigniserzählung und reflexiver Auslegung
4. Erinnerungsbild und Anekdote – Erzählungen erinnerter Ereignisse
4. 1. Das Erinnerungsbild
Beispiel eines Erinnerungsbildes
4. 2. Die Anekdote
Beispiel Anekdote
5. Die Lektüre – reflexive Zugriffe auf erzählte Ereignisse
5. 1. Lektüre des Erinnerungsbildes – Fokus: Bildende Erfahrung
6. Abschließende Bemerkungen
Literaturverzeichnis
3. Phänomene des Verstehens in der Lehrer*innenbildung
Blickwechsel. Wahrnehmen – Beobachten – Verstehen.
Ein Ausstellungskonzept im Workshop-Format
Silke Pfeifer
1. Das Wissen auf die Bühne bringen
2. Staging Knowledge im schulischen Unterricht und in der Lehrer*innenbildung
3. Arbeit mit Bildern und sprachliche Verknüpfung
4. Workshop Blickwechsel. Wahrnehmen – Beobachten – Verstehen
5. Workshop-Ergebnisse
6. Resümee und Ausblick
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Keine Ahnung! – Ein Werkstück verstehen lernen
Ein Lehrbeispiel für die Lehrer*innenbildung in der Berufsbildung
Anja Thielmann
1. Einleitung
2. Verstehenszugänge
3. Vom Üben und Verstehen
4. Phänomenologisch orientierte Vignettenforschung
Vignette – Rocco
Vignettenlektüre als Deutungszugang
Verstehensorientierte Vignettenlektüre
5. Implikationen für Lernen und Lehren
6. Abschließende Bemerkungen
Literaturverzeichnis
Kritische Ereignisse in Schulpraktika: Über die Anstrengung, pädagogische und didaktische Dimensionen im Schulkontext zu verstehen
Vassiliki Papadopoulou, Vasileios Symeonidis
1. Einführung
2. Forschungsergebnisse aus der Lehrer*innenbildung
3. Das Schulpraktikum an der Universität von West-Mazedonien
4. Kritische Ereignisse aus den Praktikumstagebüchern angehender Lehrer*innen an der Universität von West-Mazedonien
5. Ergebnisse und Diskussion
6. Vom Verhältnis von CIT zur in Österreich entwickelten phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung
7. Schlussfolgerungen
Literaturverzeichnis
Lernseitsorientierte Fallstudien als Instrument zur Sichtbarmachung studentischen (Nicht-)Verstehens im Lehramtsstudium
Mishela Ivanova
1. Einleitung
2. Beschreibung, Erfassung und Förderung pädagogischer Kompetenzen
3. Lernseitsorientierte Fallstudien im Rahmen der Lehrer*innen-Bildung an der Universität Innsbruck
4. Überlegungen zum Untersuchungsdesign
5. Darstellung der Ergebnisse
Rollenwechsel von Schüler*in zu*r Lehrer*in
Überidentifikation mit der Lehrer*innenrolle bei gleichzeitiger Ausblendung der Schüler*innenperspektive
Konstruktion eines Rollenverständnisses, das Lehrpersonen als unfehlbar und unantastbar proklamiert
Tendenz zur lehrseitigen Betrachtung des Unterrichts
Verortung von Unterrichtsstörungen und ihrer Ursachen ausschließlich auf Seiten der Schüler*innen
Externe Attribuierung
Negative Menschenbildannahmen und transmissive Überzeugungen
6. Fazit
Literaturverzeichnis
4. Interdisziplinäre Perspektiven auf Phänomene des Verstehens
Embodied Cognition, Affekt und Verstehen
Zur Herleitung eines (literaturbezogenen) Verstehensmodells aus der Philosophie der Verkörperung
Johannes Odendahl
1. Einleitung
2. Verstehen als mentaler Modellbau: Zu einer kognitionspsychologischen Konzeption des Textverstehens
3. Verstehen als körpergebundenes Phänomen: Ansätze der Embodied Cognition
4. Fortspinnungen von Johnsons ‚verkörpertem‘ Kognitionsbegriff: Zur Rolle von Subjektivität, Affekt und Emotion für das Verstehen
5. Eine modellhafte Veranschaulichung
6. Didaktische Folgerungen
6. 1. Zum Verhältnis von (,pragmatischem‘) Handlungs- und (,referentiellem‘) Sprachverstehen
6. 2. Affektives Verstehen als Richtungsgeber für Bildungsprozesse
7. Resümee und Ausblick
Literaturverzeichnis
Verstehende Diagnostik
Pädagogische Erfahrungen mit Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Erkrankungen im Kontext von Schule und Behinderung
Thomas Hoffmann
1. Intellektuelle Behinderung und psychische Erkrankung
2. Deprofessionalisierungsfallen
3. Methodische und methodologische Grundsätze
3. 1. Pädagogisches Handeln
3. 2. Außensicht
3. 3. Innensicht
3. 4. Theoretische Rekonstruktion
4. Zusammenfassung und Schluss
Literaturverzeichnis
Führen als responsives Geschehen
Dem Phänomen ‚Führen‘ auf der Spur
Niels Anderegg
1. Führung und Lernen
2. Netzwerktheorie von Harrison White
3. Führen phänomenologisch betrachtet
Vignette
4. Führen als responsives Geschehen
5. Abschließende Bemerkungen
Literaturverzeichnis
Potenziale und Grenzen von „Oral History“ im Kontext biographischer Rekonstruktionen
Ein theoretischer und empirischer Beitrag zu den Phänomenen des (Nicht-)Verstehens von Einflüssen religiöser Aspekte auf die Lebensgestaltung
Alina Knoflach
1. Einleitende Problemstellung
2. Forschungsstand
3. Auswahl der Methode: Oral History
3. 1. Grenzen und Potenzial der Oral History
3. 2. Oral History als Methode um Erfahrungen zu verstehen, oder das (Nicht-)Verstehen zu erfahren
4. Auswahl der Kategorien und Interviewpartner*innen
4. 1. Mehrdimensionale Verstehensebene als forschungsmethodologisches Spezifikum
5. Geographische Kategorie
6. Wechselwirkung: soziale und religiöse Kategorie
7. Religiosität als sinngebender und identitätsstiftender Lebensaspekt
8. Religion als ritualisierter Einflussfaktor auf die Lebensgestaltung
9. Religion als Abbild individueller und historischer Entwicklungen
10. Gemeinsamkeiten in der Lebensgestaltung der fünf Interviewten unter dem Einflussfaktor der Religionen
11. Fazit
Literaturverzeichnis
Erfahrungsdimensionen des Phänomens häuslicher Gewalt verstehen lernen
Julia Ganterer
1. Häusliche Gewalt – Annäherung an einen schillernden Begriff
2. Zugang zum Phänomen
3. Schlussbetrachtung: Vignetten- und Anekdotenforschung als Medium zur Annäherung an ein schillerndes Phänomen
Literaturverzeichnis
Autorenspiegel
In memoriam
Prof. Vasiliki Karavakou.
In der gemeinsamen Zeit und in anregenden Gesprächen im
Rahmen des 4. Internationalen Symposiums der phänomenologischen
Vignetten- und Anekdotenforschung
„Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren“
im August 2019 durften wir dich als ausgezeichnete Forscherin,
geschätzte Kollegin und liebe Freundin kennenlernen.
Wir werden dir ein würdigendes Andenken bewahren.
Dem Phänomen Verstehen auf der Spur
Einführung und Vorwort
Vasileios Symeonidis, Johanna F. Schwarz
„Was aber heißt das: etwas zu verstehen?“ – diese Anspielung auf den titelgebenden Beitrag von Käte Meyer-Drawe zum Phänomen Wahrnehmung (vgl. 2020a, S. 13 ff) eröffnet die folgenden Überlegungen. Diese Frage thematisiert die Schwierigkeit, das Verstehen eindeutig bestimmen zu können und deutet die Vielschichtigkeit der Antwortmöglichkeiten an. Verstehen und Wahrnehmen sind eng miteinander verknüpft und das Verstehen beginnt im Bereich der Wahrnehmung: Indem wir mit unseren Sinnen und mit unserem Leib, Andere und Anderes auffassen und einen Bezug mit der uns umgebenden Welt herstellen, beginnen wir zu verstehen. Die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten für das Verstehen sind allerdings begrenzt; so sind es gerade leibliche, zeitliche, räumliche und relationale Artikulationsweisen von Verstehens- oder (Nicht-)Verstehenserfahrungen, die weitere Ausdrucksmöglichkeiten eröffnen.
Die phänomenologische Vignetten- und Anekdotenforschung ist in der Zuwendung zu Erfahrungsdimensionen von Bildungsphänomenen genuin geeignet, den sozusagen noch stummen (Verstehens-)Erfahrungen zum Ausdruck zu verhelfen, in den Grenzen, in denen sie sich zeigen und damit zugänglich werden für eine (wissenschaftliche) Betrachtung (vgl. Husserl zit. nach Waldenfels 2019, S. 9; Merleau-Ponty 1966). Inwiefern ist eine Aufmerksamkeit auf Erfahrung im Vorhaben, sich dem Phänomen Verstehen nähern zu wollen? Verstehen, wie Lernen, Wahrnehmen oder Vertrauen, sind komplexe Phänomen, die nur zugänglich werden in konkreter menschlicher Erfahrung. In dem, was uns an Verstehen gelingt und wie dieses misslingt, in dem was uns dabei widerfährt, was uns irritiert, herausfordert oder befremdet, zeigen sich wichtige Facetten, die ein so komplexes Phänomen bestimmen helfen. Es ist ein wenig so wie die hundert Bezeichnungen für Schnee, die den Inuit zugeschrieben werden. Die Vielfalt der Erscheinungsformen von Schnee sind nicht in einen Begriff zu fassen; die Benennung der subtilen Schattierungen von Schnee zusammengenommen ergeben ein vollständigeres Bild. In diesem Sinne tragen die Anstrengungen der Beitragenden in diesem Band aus den unterschiedlichen Arbeits-, und Forschungskontexten bei, vielfältige Bestimmungen dieses Phänomens zu erreichen.
Der Anspruch, etwas verstehen zu wollen, kommt überhaupt erst mit dem Eintritt des Anderen als dem Fremden ins Spiel. Das Verstehen des Anderen ist in Ansätzen wahrnehmbar, weil wir es auf gewisse Weise bezeugen können. Wenn wir von Szenen ausgehen und das tun wir, wenn wir (Mit-)Erfahrung in Anekdoten und Vignetten verdichten, braucht es eine angemessene Sicht- und Deutungsweise, um dem Gehalt dieser Szenen näher zu kommen; sie gleichsam zu verstehen. Verstehen ist im Miterfahren von Erfahrungen ein weitreichender Aneignungsprozess. Dabei steht das pathische Moment – als Brüchigkeiten, Widerfahrnisse oder sinnliche Einschlüsse – im Vordergrund, weil das Affiziertwerden von etwas (Un-)Verstehbarem immer auch ein Ausgeliefertsein bedeutet. Der Umstand, dass ein Verstehen-Wollen oft einem Verfügen-Wollen gleichkommt, das gewaltsame Züge annehmen kann, und dass der Andere nicht verstehbar ist, erhöht die Komplexität dieses Phänomens. Erfahren, Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln sind Vollzüge, die nicht mit sich selbst beginnen, sondern immer schon verspätet sind. Für menschliches Verstehen gilt diese paradoxe Verspätung ebenso. Wenn wir uns unserem Verstehen ausdrücklich zuwenden, hat es bereits begonnen.
Käte Meyer-Drawe folgend wird im vorliegenden Band dem Szenischen Verstehen besondere Aufmerksamkeit zuteil. Schon das 4. Internationale Symposium der phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung „Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren“ im August 2019 an der Universität Innsbruck stand im Zeichen des Szenischen Verstehens, weil sich dieses in besonderer Weise mit dem trächtigen Erfahrungsgehalt der Szenen in Vignetten und Anekdoten verbinden lässt. Szenisches Verstehen ist ein Begriff, den Alfred Lorenzer aus psychoanalytischer Sicht geprägt und Wolfram Hogrebe philosophisch vertieft hat (vgl. Meyer-Drawe 2020b, S. 20). Dass wir uns nach vollständigem Verstehen oder Verstanden-Werden sehnen ist verständlich, aber szenisches Verstehen macht deutlich, dass sich dieses eher als Erahntes oder Vermutetes zeigt, denn als gesicherte Erkenntnis (ebd.). Es handelt sich um eine Art Schwelle zwischen Verstehen und (Nicht-)Verstehen, zwischen Verstanden-Werden und der Grenze des Verstehbaren (vgl. Peterlini 2020).
Hogrebe, so Meyer-Drawe, erinnert an die Herausforderung, (Verstehens-)Erfahrungen sprachlich adäquat zu artikulieren (vgl. 2020). Vignetten- und Anekdotenschreibende finden sich bei der Suche nach Sprachbildern, welche sinnliche Erfahrungen nicht in eindeutigen Begriffen aufgehen lassen, vor ähnliche Herausforderungen gestellt, wenn sie dem leiblich Wahrgenommenen zum Ausdruck verhelfen wollen. In der Einbeziehung von Blicken, Stimmlagen, Sprechmelodie, Sprechtempo, Sprechpausen, Gebärden, Gesten oder Mimik werden vielschichtige Erfahrungs- und Verstehensmöglichkeiten sichtbar. In den Szenen der Vignetten und Anekdoten werden verschiedenste Beziehungsgefüge deutlich; dies ist ein Verweis darauf, dass wir als leibliche Wesen in soziale Kontexte verstrickt sind, die unser Verständnis für uns selbst und andere maßgeblich bestimmen.
Dieser Band der Reihe Erfahrungsorientierte Bildungsforschung gliedert sich in vier Abschnitte. Im Abschnitt Grundlagen schafft Käte Meyer-Drawe mit ihrem Beitrag Szenisches Verstehen nicht nur ein zentrales Verständnis für die weiteren Beiträge, sie stellt auch einen deutlichen Konnex zur phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung her. Malte Brinkmann untersucht in einer grundlagentheoretischen und methodologischen Perspektive das Verhältnis von Verstehen und Beschreiben, wobei er hermeneutische und phänomenologische Zugänge dazu unterscheidet. Michael Schratz diskutiert Schule als Erfahrungsraum für pädagogisches Verstehen und betont die Bedeutung von bildenden Erfahrungen für das Verstehen schulischer Tiefenstrukturen.
Im zweiten Abschnitt des Buches – Methodologische Annäherungen an Phänomene des Verstehens – zeigen Evi Agostini und Agnes Bube am Beispiel eines Projektes im Bereich von Universität und Museum, wie die phänomenologische Vignettenforschung dazu beitragen kann, anders wahrzunehmen und anderes zu verstehen. Daniela Lehner und Hans Karl Peterlini schreiben von der Ermöglichung eines leiblichen Ausdrucks unausdrücklicher Erfahrungen (von Unterdrückung) durch performatives, szenisches Nachspielen einer Vignettenszene. Gabriele Rathgeb und Johanna F. Schwarz erörtern die Bedeutung der Miterfahrung in der Vignetten- und Anekdotenforschung als Schlüssel für die Annäherung an das Phänomen Verstehen. Irma Eloff erörtert methodologische Fragen beim Einsatz der Vignettenforschung zur Erfassung psychologischer Erfahrungen zu student wellbeing in Südafrika. Silvia Krenns Beitrag zu Erinnerungsbild und Anekdote als Instrumente zur produktiven Reflexion in der Lehrer*innenbildung leitet über zum dritten Teildes Bandes.
Im Abschnitt Phänomene des Verstehens in der Lehrer*innenbildung stellt Silke Pfeifer das Ausstellungs- und Vermittlungsformat Staging Knowledge in seiner Wirkmächtigkeit für die Anwendung in der Lehrer*innenbildung vor. Anja Thielmann erörtert Potential und Grenzen der Vignetten- und Anekdotenforschung für Erfahrungen des Verstehens oder Nicht-Verstehens im Bereich der Berufsbildung. Zur Untersuchung pädagogischer und didaktischer Phänomene an der Universität von West-Mazedonien verknüpfen Vassiliki Papadopoulou und Vasileios Symeonidis die Critical Incident Technique (CIT) mit der phänomenologischen Vignettenforschung. Mishela Ivanova untersucht die Wirkmächtigkeit lernseits orientierter Fallstudien für die Annäherung an studentische Verstehensprozesse.
Der vierte und abschließende Teil des Buches stellt Interdisziplinäre Perspektiven auf Phänomene des Verstehens vor. Johannes Odendahl zeigt die Grenzen eines kognitionspsychologischen Verstehensmodells auf, wie es derzeit die deutschdidaktische Theoriebildung bestimmt, und skizziert am Leitfaden der Embodied Cognition einen leib- und emotionsbezogenen Verstehensbegriff mitsamt einigen didaktischen Konsequenzen. Thomas Hoffmann entwirft ein Rahmenmodell Verstehender Diagnostik und votiert für einen pädagogisch produktiven Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Erkrankungen. Niels Anderegg nähert sich dem Phänomen Führung aus phänomenologischer und netzwerktheoretischer Sicht. Alina Knoflach erörtert anhand des forschungsmethodologischen Zugangs der Oral History Phänomene des (Nicht-)Verstehens in Bezug auf religiöse Lebensführung. Julia Ganterer widmet sich dem Thema häusliche Gewalt und fokussiert dabei unterschiedliche Erfahrungsdimensionen.
Was aber heißt das: etwas zu verstehen? Genau lässt sich das immer noch nicht sagen, aber die Beiträge dieses Bandes werfen wesentliche Schlaglichter auf unterschiedlichste Facetten dieses rätselhaften Phänomens aus den verschiedensten Bildungs- und Forschungskontexten. Sollten Sie, geschätzte Leser*in, angeregt sein, die Fragestellungen weiterzudenken, ist die Übung gelungen.