Kitabı oku: «Gamer», sayfa 2

Yazı tipi:

Auf einem kleinen Tisch neben dem Sofa liegt ein Gameboy erster Generation.

»Du hast wieder meine Batterien leergespielt«, höre ich das Quäken meiner Schwester im inneren Ohr. Sollte sie doch froh sein, dass ich endlich ihre Super-Mario-Land-Level geschafft hab, an denen sie schon seit Tagen dran war. Und ein Jahr später das überhebliche »Du kannst ihn haben. Ich bin jetzt eh zu alt dafür«, als sie mir den Gameboy aufs Bett geschmissen hat, und ich ihn wie einen kostbaren Schatz aufhob, die gespeicherten Spielstände löschte und alle von vorn anfing. Bis er dann auch bei mir irgendwann in der untersten Schublade verschwand.

Vor mir auf dem Boden eine Playstation. Bekamen wir damals zu Weihnachten. Sozusagen ein Familiengeschenk. Meine Mutter, meine Schwester und ich selig zusammen auf der Couch: erst Tetris, dann Herkules, Autorennen, die Demo-DVD. Und mein Vater wohlwollend daneben. Ohne zu wissen, dass das alles in ein paar Jahren vorbei sein würde. Aber vorher sollten wir uns noch hunderte Male um den ersten Controller streiten. Und gegen die Mutter im Tetriswahn verlieren.

Auf einem anderen Tisch entdecke ich das Sega Master System, das ich als Kind immer wenig erfolgreich gegen die Nintendospieler in meiner Nachbarschaft verteidigte. Ihr hattet vielleicht Super Mario, aber wir hatten dagegen Super Boy.

Nur Erinnerungen. Gestorbene Zeit. Ich logge mich mit dem Handy ein, ändere die Kontonummer in meinem Account, keine Zeit für Sentimentalitäten. Rufe kurz darauf die Seite erneut auf und ändere die Kontonummer, zurück zu meiner.

Dann sehe ich mich um, wie sich die Halle nach und nach füllt. Die unterschiedlichsten Leute. Aber alle fasziniert von der Leinwand vorne, wo geprangert steht: viertausend Euro Jackpot. Der Schriftzug spiegelt sich in ihren Pupillen wieder. Heute mal nicht in Points, klingt mehr in richtiger Währung. Und ist doch nur eine Zahl wie jede andere auch. Als Hintergrund ein bewegliches Bild vom Meer, einzelne Wellen bewegen sich, spülen zum Strand und wieder zurück. Rechts unten Pixelfehler: Eine Welle vermischt sich mit einer zweiten, als rechteckige Einheiten, die sich übereinander schieben und wieder zurück.

»Krasse Idee, oder? Dass man überhaupt mal so gezockt hat, irgendwie kaum vorstellbar.«

Ein Typ Mitte zwanzig setzt sich neben mich. Schwarze Sturmfrisur, Dreitagebart. Ich schüttle den Kopf und fühle mich schrecklich alt. Die Halle füllt sich langsam. Mit neuen Gesichtern und denen, die man schon Jahre kennt, vom Sehen, mit denen man gealtert ist und doch nie miteinander gesprochen hat, außer das Nötigste. Und Croc mittendrin, der mir immer wieder zugrinst, sich dann umdreht und das macht, was er immer macht: Leute manipulieren.

Wenig später füllt sich die Halle immer mehr – und dann geht es los. Croc steht vorne auf der Bühne, begrüßt kurz die Leute. Es handle sich zwar um originale Konsolen, aber alle seien miteinander verbunden, sodass man auch jederzeit auf den großen Monitoren die einzelnen Spiele übertragen könne. »Wer stirbt, fliegt. Dann kann nur noch euer Partner weitermachen. Falls ihr einen habt.« Er wirft einen Blick zu mir, und ich sehe ihm direkt in die Augen, schaue nicht weg. »Und wenn auch seine Leben aufgebraucht sind, ist es für euch vorbei. Wenn am Ende zwei übrig bleiben, machen wir hier vorne weiter. Wie normal, ohne die Retrokonsolen.«

Zwei sollen am Ende übrig bleiben? Ich sehe mich um, die Halle ist noch voller als sonst. Wie lange sollen wir denn durchzocken? Egal. Ich nehme mir den Gameboy direkt neben mir, schalte ihn ein. Keine einzelnen Spiele, die ich einstecken muss, nur eins als Stellvertreter, mit dem ich direkt auf alle zugreifen kann. Doch nicht so old school wie angekündigt. Auch hier kann ich mich mit meinen Daten einloggen. Meine Hände umgreifen den Gameboy, wie damals: Fühlt sich gut an. Ein Stück Kindheit. Doch so viel älter; die Finger stumpf geworden, könnte die Nägel mal wieder lackieren, aber warum noch? Viertausend Euro Jackpot ist alles, an das ich denke. Was ich damit wieder gutmachen könnte.

Als ich Super Mario Land 2 wähle, bin ich ganz im Früher versunken. Diesmal ohne die genervten Zwischenrufe meiner Schwester, blende auch die Halle um mich herum aus. Bekomme nur noch kurz mit, wie der Typ neben mir die PS2 startet, Kopfhörer überstülpt und den kleinen Monitor vor sich fixiert.

Die Fingergriffe sind erst vorsichtig, dann geübt. Ich weiß genau, wann ich springen muss, was ich bei welchem Endgegner tun muss, um ihn sofort besiegen zu können. Kann genug Extraleben sammeln, um zwischendurch ein paar Mal draufzugehen. Die Unterwasserlevel waren schon immer am schwierigsten, den Fischen auszuweichen und nicht sofort zu schrumpfen. Aber ich komme gut durch. Und die Zeit verfliegt. Einmal schaue ich mich in der Halle um und sehe einige, die nur noch die großen Bildschirme am Rand und vorne beobachten, weil sie selbst schon raus sind. Mit Super Mario Land 2 habe ich ein gutes Spiel gewählt.

Plötzlich werde ich mittendrin von einer Sirene gestört. Ich schalte auf Pause und sehe auf: Mein Name steht auf dem großen Bildschirm, mit sechs anderen. Wir sind die letzten. Ich spiele weiter, sterbe vor lauter Druck sofort, danach ein zweites Mal. »Reiß dich zusammen«, flüstere ich mir zu, bevor ich einen neuen Versuch starte. Nur noch fünf Namen. Und ausgerechnet jetzt habe ich alle Welten durch und mache in Marios Schloss weiter. Aber es läuft. Dann folgt der Endboss, sitzt dort auf seinem Thron, genauso wie damals. Noch vier Namen. Ich springe auf meinen Gegner, er hält inne, blinkt, trifft mich danach, und ich schrumpfe. Jetzt alles oder nichts. Kann ausweichen. Springe und treffe ihn ein zweites Mal. Dann ein drittes Mal. Er läuft weg, ich bekomme eine Möhre, Flügel, und renne hinterher. Auch er kann nun fliegen. Diesmal springe ich fast dreimal hintereinander auf ihn, ohne Schaden zu nehmen. Ein letztes Mal, er kann nun schießen. Ich schiele kurz auf die Anzeigetafel vorne: Noch drei Namen. Drücke kurz auf Pause, um erneut durchzuatmen. Dann geht es los, erst springe ich auf ihn, wieder blinkt er auf, laufe auf die andere Seite und weiche zu spät aus. Werde kleiner. Dann treffe ich ihn erneut auf dem Kopf. Einmal noch, die Sirene geht los, ich erschrecke, sterbe: Egal. Mein Name steht dort oben, der andere ist in seinem Spiel vor mir gestorben.

Crocs Stimme dröhnt durch die Halle. »Cat und Boy231 stehen im Finale. Kommt nach vorne.« Ich stehe langsam auf, suche meinen Gegner: Ein Mann um die vierzig steht auf, sieht mich an, grinst und schlendert gemächlich zur Bühne. Ich folge ihm, versuche, genauso locker zu wirken, dabei zerreißt es mich innerlich. Ich fühle mich alt und müde und will eigentlich nur noch schlafen.

Boy231 und ich verschwinden kurz hinter der Bühne, um unsere Anzüge anzuziehen, setzen uns dann auf die Liegen. Die Zuschauer stimmen ab, welches Spiel wir spielen: Bomberman. Im ersten Moment freue ich mich, da ich das selbst oft genug gezockt habe, aber als ich das Grinsen meines Gegners sehe, verschwindet meine Freude. Das wird ein harter Battle.

Setzen unsere Helme auf und die Realität verschwimmt. Crocs Stimme nur noch über Kopfhörer. Dann beginnt die erste Runde. In 3D renne ich vor die viereckigen Steine, lege meine Bomben und verstecke mich, bevor ich die nächsten zünden kann. Das Labyrinth wird freier, ich kann die Schritte meines Gegners hören, lege eine Bombe und renne. Kurz bevor sie hochgeht, verschwinde ich um die Ecke. Eine zweite Bombe geht hoch, direkt neben mir. Dann noch eine: Sein erster »Win«. Mein Herz rast, eine kleine Anzeige in der Ecke zeigt mir, dass sie Mittel in mein Blut spritzen. Jetzt nicht, denke ich, reiße das Kabel raus, das meinen Anzug mit der Liege verbindet. Will keine Beruhigungsmittel, nichts, was mich vernebeln könnte. Ein paar Bomben und Tode später liegen wir im Gleichstand. So geht es hin und her, bis Croc durch die Kopfhörer ruft: »Letzte Runde. Jetzt entscheidet sich, wer gewinnt.« Ich werde unruhig, die Angst wird größer.

Ich fluche, ein bisschen blöd, dieses Spiel für einen Battle zu nehmen, wenn es immer gleich abläuft. Trotzdem konzentriere ich mich auf die Bomben, auf Boy231. Kalter Schweiß fließt mir an den Schläfen und zwischen den Brüsten hinunter, mein Herz pocht so laut, dass ich glaube, alle in der Halle könnten es hören. Mein Blick verschwimmt, ich blinzle, um das Labyrinth richtig sehen zu können. Mir wird übel, und in meiner Brust schmerzt es, doch ich lege weiter Bomben. Mein Gegner stirbt. Danach ich. Der nächste Tod entscheidet. Ich lege eine Bombe, der Schmerz wird unerträglich. Ich greife mit der Hand auf Herzhöhe, verstecke mich gleichzeitig hinter einer Mauer. Höre noch, wie die Bombe hochgeht – und mein Gegner mit ihr: sich einfach ins Nichts auflöst. Jemand reißt mir den Helm vom Kopf, Leute applaudieren von weit her. Ich starre weiter in die virtuelle Welt, die schon nicht mehr da ist, sehe nur die drei Buchstaben meines Nicknames riesig auf allen Monitoren, aber kann sie nicht mehr deuten. Eine Hand nimmt meine, zieht mich von der Liege, die andere ruht immer noch auf meiner Brust. Ein Geräusch, als ob etwas reißt. Ich kann es nicht hören, nur spüren. Der Boden unter mir gibt nach – oder bin ich es, die nachgibt? Alles wird leicht, ich falle.

*

»Hallo Mama. Ich bin’s.«

»Miriam. Dass du anrufst!« Kann mir lebhaft vorstellen, wie meine Mutter jetzt ins Wohnzimmer läuft, meinem Vater mit Fuchtelbewegungen deutlich zu machen versucht, wer am anderen Ende der Leitung ist – und kläglich scheitert.

»Also erzähl, wie geht’s dir?« Kein rauer Ton, keine Frage, warum ich so lange nicht angerufen hab, mich nicht gemeldet hab. Keine Vorwürfe. Nur ehrliches Interesse. Ich antworte nicht, schlucke, muss mich kurz fangen. »Ich wollte euch besuchen kommen.«

»Ja, gern. Wann kommst du?«

»Jetzt?«

»Ich setz schon mal Kaffee auf.«

»Und sag mal, steht die alte Konsole noch auf dem Dachboden?«

Nur noch das Tuten im Hörer. Und ich nehme die nächste Bahn. Und danach vielleicht weiter hoch zur Küste. Oder gen Süden. Oder mal wieder zu den echten Greifarmautomaten, bei denen der Rost nicht nur virtuell ist.

Start New Game?


Butterfly

Christian Günther

Level 1

Ein Rudel Wölfe fegt durchs Unterholz, wirbelt eine Wolke aus grauem Laub auf. Ihm folgt ein Krieger mit Haar so schwarz wie Pech, zwei Schwerter auf dem Rücken, purpurne Bänder an Armen und Beinen. Die Augen blutrot und orange, leuchtend im Aschewald.

Butterfly Wozniak war ein ganz normales Mädchen. Mit zerbrochenen Träumen in einer dunklen Stadt. Ein Engel mit gestutzten Flügeln. Cinderella, die auch den zweiten Schuh verloren hat und nun barfuß durch ihr Leben geht. Zumindest sah sie sich selbst so.

Hätte sie an diesem Morgen gewusst, dass Danny tot war, wäre sie gar nicht zur Arbeit gegangen. So aber schlich sie durch Dunstschwaden, neben sich den Lärm des Verkehrs. Ihr Gesicht kränklich blass im surrenden Schein der Leuchtfassaden. Pfützen, aufgeplatzte Müllsäcke. Mechanisch blieb sie vor dem abgenutzten Automaten stehen, der ihr jeden Morgen ihren kochend heißen Crema in einen Plastikbecher spuckte. Dazu fiel ein in Folie verpackter Glückskeks aus dem Ausgabeschacht, den sie in die Tasche ihrer Jacke stopfte, ohne darüber nachzudenken. Ein dröhnender Müllwagen näherte sich, sprühte einen Nebel aus Reinigungsmitteln über den Gehweg, der sich sofort in weißen Schlieren auf den Boden legte und mit den öligen Pfützen mischte. Butterfly rief dem automatischen Wagen einen halbherzigen Fluch hinterher und wischte über ihr lilafarbenes Regencape. Zum Glück war sie vorbereitet. Und um sich aufzuregen, war sie sowieso zu müde.

Die trübe Sonne versteckte sich hinter den Wolken, als wollte sie nicht mehr auf diese hässliche Stadt scheinen, die sich täglich dreckiger und kaputter aus der Dunkelheit schälte. Butterflys Nacht war kurz gewesen, der frühe Morgen war kalt. Frühschicht. Wahrscheinlich die Spätschicht als Bonusrunde dazu, schließlich hatte Danny alle anderen Bedienungen schon gefeuert. Ein blauhaariger Typ saß auf einem Plastikstuhl mitten auf dem Bürgersteig, das Gesicht rot im Widerschein des Screens, den seine bunt tätowierte Hand umklammerte. Die Augen zuckten unruhig umher, während sein linker Daumen hektisch den Touchscreen bearbeitete.

Butterfly ging an ihm vorbei, kickte eine Pappschachtel beiseite, sah auf die Uhr. Spät dran. Sie eilte zum Diner. Nicht, weil sie die Laune ihres Chefs fürchtete oder weil sie Angst hatte, ihren Job zu verlieren. Nein, das hatte sich geändert. In den letzten Wochen hatte sie den Laden schleichend übernommen, während ihr Boss nur noch körperlich anwesend war, seinen fetten Körper kaum mehr hinter dem Tisch in der Ecke hervorhievte. Seit einer Woche fand sie ihn jeden Morgen dort vor, ohne dass er das Diner in der Nacht verlassen hätte. Eingeklemmt hinter dem Kunststofftisch, umrahmt von zerknüllten Verpackungen und verkrusteten Tellern. Wenn er die Einnahmen sah, die die Tageskasse hergab, zuckte er mit den Schultern, grunzte, holte sich einen Kaffee und verzog sich an seinen Tisch mit dem eingebauten Schirm, um wieder online zu gehen. Dass immer weniger Geld hereinkam, bemerkte er gar nicht, es schien ihn auch überhaupt nicht zu kümmern. Dafür wuchs das Bündel an Scheinen, das Butterfly zu Hause, hinter der Plast-Wand ihrer winzigen Küche, versteckte. Jeden Tag ein bisschen. Sie musste aufpassen, durfte nicht übertreiben. Wenn der Boss etwas mitkriegte, war es vorbei. Oder wenn ihr Freund Zed das Versteck fand. Auch wusste sie nicht, wie lange sich ihr Boss noch so seltsam verhielt – jeden Tag konnte er aus seinem Zustand aufwachen. Jeden Morgen, wenn sie das Diner betrat, fürchtete Butterfly, er wäre wieder der Alte, mürrisch, jähzornig und nur darauf konzentriert, ihr an den Arsch zu fassen. Doch ständig war er online, vertieft in seine neue Leidenschaft. Das ging nicht nur ihm so, immer mehr Verlierer hingen vor Bildschirmen und waren auf der Jagd nach Schätzen. Der neuste Scheiß. Satellitenverbindung, mobiles Terminal, et voilà, willkommen in den Ruinen des alten Internets. Seit Jahren lebte die Welt ohne, nachdem die Menschen es mit all der Macht, mit der sie es aufgebaut hatten, wieder zerstörten. Kein großer Knall, sondern ein leiser, digitaler Tod. Daneben hatten Kriege getobt, wahrscheinlich brauchten die Leute ein Ventil, mussten Blut und Zerstörung sehen können, statt nur gelöschten Daten nachzuweinen.

Jetzt hoffte jeder auf den großen Wurf, auf sensationelle Funde, die er dann zu Geld machen konnte. Die meisten brachten nur Müll zutage, Fragmente alter Pornos, Chat-Protokolle oder völlig uninteressante Log-Dateien, die schon zum Zeitpunkt ihrer Entstehung niemanden interessiert hatten. Die wertvollen Funde wie noch funktionierende Kreditkartendaten oder vergessene Kontoinformationen waren wohl äußerst selten, wenn es sie überhaupt gab. Butterfly wollte ihre Zukunft nicht auf einer so vagen Hoffnung aufbauen. Sie musste zäh sein, um sich aus ihrer üblen Lage zu befreien und wieder fliegen zu können. Aber die Legenden, die sich um solche Funde rankten, um die Millionen, die manch einer mit ihnen gemacht hatte, die waren es, die die Leute an die Schirme fesselten. Auch Zed war auf den Zug aufgesprungen. Hatte sich einen alten Rechner besorgt und hing jetzt den ganzen Tag in der Bude. Faselte davon, dass er wie ein Schatztaucher durch Fragmente einer verlorenen Zeit glitt und ihre Geheimnisse ans Tageslicht holte. Dass er sie reich machen würde, ganz einfach. Aber das lag wohl eher an dem Sniff, den er sich reinzog. Immerhin schlug er sie nicht, solange er damit beschäftigt war.

Als sie heute die Tür zum Diner aufschloss, war irgendwas anders. Sie trat ein, die Glocke an der Tür klingelte leise. So weit alles normal, die schlecht gewischten Tische mit Fetträndern, die Bänke mit zerschlissenen und bekritzelten roten Polstern. Der Tresen, dahinter die Küche. Ihre Schuhe klackerten laut über den Fliesenboden, als Butterfly den Raum durchquerte. Dann fiel ihr auf, was anders war: der Geruch. Unangenehm. Faulig. War die Kühlung ausgefallen? Sie schaltete das Licht ein. Strom war da.

Flackernd erwachten auch die Terminals an den Tischen zum Leben, ihre Schirme bekritzelt und verkratzt, darunter die übergroßen und knallbunten Icons, die zum Surfen im Newnet einluden. Eine saubere, staatlich kontrollierte und grenzenlos uninteressante Cyberwelt. Ignoriert und vergessen.

Dann sah sie Danny. Nach vorn auf den Tisch gesunken, auf dem Screen liegend, als wolle er seine Wange an ihn pressen, eine Liebkosung erzwingen. Doch das Auge, das zur Seite starrte, war tot. Kleine Fliegen schwirrten um ihn herum. Als Butterflys Gehirn den Geruch und seine Ursache begriff und in Zusammenhang brachte, kotzte sie ihren Takeaway-Kaffee auf die Fliesen.

Kurz darauf saß sie in der Küche, während vorne zwei Sanitäter und ein Polizist die Leiche bargen. Ob der Kerl wirklich ein Bulle war? Für Butterfly sah er eher aus wie ein Organhändler, Facetattoo, bulgarischer Imitat-Goldschmuck. Aber egal, Hauptsache, sie schafften Dannys Kadaver fort.

Sie war verunsichert, ihre Hand zitterte leicht, als sie ihren Kaffeebecher zur Hand nahm. Tee, sie sollte doch Tee trinken, wegen ihrem Magen. Und dem Kind. Sie spürte keine Trauer, kein Mitgefühl. Für sie war er immer nur der Fettsack gewesen, der sie bezahlte und ihr dafür ab und zu mal an den Arsch packen durfte. Egal. Wie sollte es jetzt weitergehen? Sie war sicher, dass das Diner nicht Danny gehört hatte, es musste also irgendwo einen Besitzer geben, der nun womöglich hier aufräumen wollte. Butterfly beschloss, erst einmal so weiterzumachen wie bisher. Jetzt konnte sie sich noch gründlicher an den Einnahmen bedienen. Umso schneller kam sie hier raus. Sie schnappte sich einen Lappen. Frühschicht.

»Wo ist Danny?« José kam kurz vor Mittag in den Laden.

»Tot.«

»Mhmm.« Er hörte gar nicht zu, schaute auf das Display seines Smartphones, während er sich die Jacke auszog. Akrobatisch, um nicht den Sichtkontakt zum Bildschirm zu verlieren.

Butterfly seufzte. »Hast dir jetzt auch diesen Scheiß besorgt?«

José löste seinen Blick von dem Gerät in seiner Hand und schaute sie unter seinem blondierten Schopf kritisch an. »Was?«

»Bist du jetzt auch so ein Spinner geworden?«, antwortete sie und deutete auf sein Phone.

»Ach so. Ja, haben jetzt alle. Ist aber scheiße, werd’s wieder löschen. Davon kackt mein altes Teil immer ab. Obwohl ich mir geile Zugänge besorgt hab.«

Butterfly nickte. »Will ich hier auch nich sehen. Du sollst kochen, sonst nix.«

José runzelte die Stirn. »Machst du jetzt auf Boss, oder was? Was is’n mit Danny?«

»Tot. War kein Witz.«

José schluckte. »Echt? Puh. Das ist schräg.«

»Schräg?«

»Ja, erst gestern sind zwei Leute in meinem Block draufgegangen.«

»Und?«

»Beim Surfen. Echt unheimlich. Die Kontaktnetze hingen ihnen noch am Schädel. Hirn gegrillt.«

»Und du hast das gesehen, oder hat dir das einer von deinen schlauen Freunden erzählt?«

Er beugte sich näher zu Butterfly. »Die hatten sich richtig krasse TLDs besorgt. .hk und .tw. Da gibt’s eine Menge zu holen. Nicht nur so zerfledderte Fragmente wie auf .de und so.«

»Du spinnst.«

»Ey, was weißt du denn schon? Kennst du dich aus? Wohl nicht, oder?«

Butterfly hielt ihm den ausgestreckten Mittelfinger ins Gesicht.

»Schon gut. Ey, sag mal – was is’n jetzt? Ich mein, wenn Danny tot ist? Wie geht das hier weiter?«

»Ich übernehm den Laden.«

»Ach du Scheiße.«

Level 2

Der Krieger trifft auf ein Tor, davor eine steinerne Brücke, grün von Moos. Das Tor wirkt winzig in der endlos hohen Mauer, deren grauer Fels irgendwo in den Wolken den Himmel durchbricht.

Das Fell der Wölfe dampft, sie keuchen und legen sich ins Laub, während der Krieger nur kurz verharrt, die Brücke und den Eingang in Augenschein nimmt und dann mit weiten Schritten im Dämmerlicht dahinter verschwindet. Als er den Torbogen durchschreitet, blitzen die Klingen der Schwerter auf, die er aus ihren Scheiden zieht.

Am Abend kamen die ersten Gläubiger. Eher so Mafiatypen, Schutzgeld kassieren. Sie waren zu zweit, ein bulliger Riese, sah aus wie ein russischer Boxer. Der andere war klein, trug einen Anzug, nach hinten gegeltes Haar. Einen fiesen Ausdruck in den Augen. José hatte sich nicht blicken lassen, seit sie mit Putzen angefangen hatte. Die Küche sah aus wie Sau, er war weg. Wahrscheinlich für immer.

»Wo ist Danny?«, fragte der Kleinere, während der andere sich hinter ihm in Position brachte. Wohl die Frage des Tages. Butterfly zuckte mit den Schultern.

»Hey Kleine, wo dein Boss ist, will ich wissen.«

Wo kamen diese Typen her? Was hatten sie mit Danny zu schaffen? Damit es mit dem Laden weiter gehen konnte, musste Butterfly sie loswerden. Irgendwie. Stoisch wischte sie weiter. Immer die gleiche Stelle. Ihre Hände zitterten schon wieder, sie umklammerte den Stiel des Wischmops, als hinge sie daran über einem Abgrund. Was wollten die? Schutzgeld? Butterfly wusste nicht, ob Danny welches zahlen musste. Aber sie wusste vieles nicht. Eigentlich hatte sie gar keine Ahnung, wie sie den Laden führen sollte, sie konnte nur Geld aus der Kasse greifen. Zum Lernen blieb ihr nur leider keine Zeit. Ein schmerzhafter Klumpen bildete sich in ihrem Magen, als der Kerl von hinten an sie herantrat. Eine Wolke von Zigarettenqualm und zu viel Moschus umgab ihn. Grob griff er in ihr Haar, riss es nach hinten. Ihre Augen wurden vom grellen Deckenlicht geblendet. Sie kreischte auf, versuchte, von ihm wegzukommen, doch er hielt ihren Kopf fest. Noch mehr Schmerzen. »Hör auf!«, rief sie. »Was wollt ihr? Danny ist nicht da.« Das war jetzt ihr Laden. Diese Arschlöcher würden ihn ihr nicht sofort wieder wegnehmen.

»Und wieso waren heute die Bullen hier? Verkauf mich nicht für blöd. Ihr Schlampen wisst doch immer am besten Bescheid, habt eure neugierigen Ohren überall.«

Butterfly überlegte, ob sie den Kerl schon mal gesehen hatte, konnte sich aber nicht erinnern.

»Na los, jetzt red schon.« Grob fasste er an ihre linke Brust, sein Mund war nun ganz dicht an ihrem Ohr. »Oder muss ich dafür netter zu dir sein?« Seine Zungenspitze berührte ihr Ohrläppchen. Butterfly zuckte zusammen. Bilder zuckten durch ihren Verstand, löschten alle Überlegungen aus. Übelkeit breitete sich in ihr aus. Mit voller Kraft stieß sie den Wischmop nach hinten. Nie wieder würde jemand sie so anfassen Der Kerl gab ein überraschtes Stöhnen von sich, als ihn der Stiel voll erwischte. Er lockerte den Griff in ihren Haaren, zog die Hand dann ganz weg und klappte zusammen. Er riss ein paar Haarsträhnen mit sich, Tränen schossen Butterfly in die Augen. Sie ließ den Mop fallen, stürmte am Tresen vorbei in die Küche. Hämmerte die Tür zu und legte den metallenen Riegel um. Durch das Fenster in der Tür konnte sie das dümmliche Gesicht des Muskelbergs sehen, das rot anlief. Er donnerte gegen die Tür, konnte aber nichts ausrichten. Butterfly rannte durch die Küche, riss Pfannen und Töpfe zu Boden. Griff instinktiv ihre Jacke mit Schlüsseln und Taser drin, zur Hintertür hinaus, nur weg.

Im Hof, nach rechts. An Müllcontainern vorbei, in die Nebenstraße. Sie rutschte aus, ruinierte ihre Strumpfhose am linken Knie. Dann hörte sie schon Schritte hinter sich. Wie schnell war denn dieser Kerl? Der Muskelberg raste um die Ecke, ihr schien es, als materialisiere er aus dem Nichts. Dem würde sie nicht entkommen. Entmutigt rannte sie noch einige Schritte, dann packte er sie und riss sie von den Füßen. Trug sie zurück nach drinnen.

Der Kerl im Anzug lehnte an einem der Tische. »Da ist sie ja wieder.« Ein schiefes, kaltes Grinsen. »Nun, wenn Danny nicht da ist, nehmen wir sie eben als Pfand mit. Ganz einfach.« Er trat auf sie zu, während der andere ihr die Hände hinter dem Rücken zusammendrückte. »Vielleicht kannst du dich ja in der Zwischenzeit nützlich machen.« Er presste sich an sie, rieb mit seiner Hand über ihren Schritt. Butterfly wurde wieder übel. Der Schmerz von damals, die Erinnerungen, die sie in ein dunkles Loch tief in ihrem Inneren vergraben hatte, brachen wieder hervor. Ihr Körper wurde hart wie Stein, sie konnte sich nicht rühren. Bitte nicht. Bitte nicht.

Sie musste die Tränen zurückhalten, presste die Lippen aufeinander. Der Riese zog sie zum Vordereingang. In diesem Moment flog die Tür auf, José kam hereingestürmt. »Hey Butterfly, immer noch hier? Hab noch was …« Weiter kam er nicht. Er verstummte, als er vom Display seines Telefons aufblickte und in das Gesicht des Riesen starrte. »Scheiße«, rief er noch, dann drehte er sich um und sprang zur Tür zurück. Der Muskelmann war irritiert, Butterfly spürte, wie sich sein Griff lockerte. Er wusste offenbar nicht, ob er sie weiter festhalten oder den unerwarteten Zeugen verfolgen sollte. Ein Schauer überlief sie, löste ihre Erstarrung. Sie trat nach hinten, traf mit dem Absatz sein Schienbein. Trat nochmal und nochmal zu, bis seine Hände sich ganz gelöst hatten. Dann stürzte sie vorwärts, folgte José in die Nacht. Dann bestand alles nur noch aus vorbeirasenden Lichtern, dem Brennen in ihrer Lunge und dem Knoten der Angst in ihrem Bauch.

Keuchend hockte Butterfly sich an eine Hauswand, als sie sicher war, dass die Typen ihr nicht weiter gefolgt waren. Sie hustete. Über ihr hing eine zerlumpte China-Laterne, der Geruch von gebratenem Hühnchen fettig in der Luft. Wie Pixel umschwirrten Mücken den Lampenschirm.

Butterfly weinte, ihre Tränen zeichneten schwarze Spuren aus Kajal auf die Wangen. Sie fror, steckte die Hände in die Taschen. Stieß auf etwas Knisterndes, zog den verpackten Glückskeks hervor, den sie am Morgen aus dem Kaffeeautomaten bekommen hatte. Sie wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht, schwarze Spuren blieben an der Regenjacke kleben.

Ihr Magen knurrte. Sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Ungeduldig riss sie die Verpackung auf und zerbrach den Keks. Sie stopfte die nach nichts schmeckenden Hälften in den Mund. Zurück blieb der kleine Zettel aus dem Inneren des Kekses. Na, du kleiner Bastard, was willst du mir über meine Zukunft sagen? Sie rollte ihn auseinander und las.

Nun ist es an DIR, lieber Leser, zu entscheiden – welche Nachricht findet Butterfly in ihrem Glückskeks?

»Folge dem Weg der Ratte« – dann lies beim gleichnamigen Abschnitt weiter.

»Betritt den Pfad des Schafs« – gehe zum Abschnitt mit diesem Titel.

Der Weg der Ratte

Level 3

Ein Labyrinth aus Dächern und Balken. Treppen aus Holz und Stein führen auf zugige Türme und in feuchte Keller. Knöcheltiefer Schlamm wechselt sich ab mit edlen Teppichen, die jeden Schritt verschlucken.

Überall in den Schatten und Winkeln scheinen Augen zu starren, dem Krieger mit Blicken zu folgen. Seine Miene bleibt unbewegt, seine Klingen teilen Vorhänge oder brechen Holzstützen, um ihm einen Weg zu bahnen. Tiefer hinein ins Dunkel, zum Herzen der Stadt.

Das einzige Licht in der winzigen Wohnung ging von dem Bildschirm aus, auf dem flackernde Videofragmente tanzten. Zed schlief im Sessel davor, leere Sniff-Packungen und Getränkedosen lagen herum. Butterfly nahm sich einen Augenblick, sah ihn an. Ein Bluterguss an ihrer Schulter pulsierte schmerzhaft, als wolle er sie daran erinnern, was Zed ihr angetan hatte. Ihr antat, immer wieder. Warum sie nicht längst gegangen war, konnte sie sich selbst nicht erklären. Doch ihre lähmende Angst war fort, sie hatte sie auf der Flucht vor den Geldeintreibern verloren.

Schnell packte sie ein paar Sachen in ihren Rucksack, riss die türkisfarbene Abdeckplatte von der Küchenwand und holte das Geld aus dem Versteck. Eilig stopfte sie es in eine Seitentasche, als sich eine Hand um ihre Schulter schloss. »Was soll das denn werden?« Zed starrte sie an, blickte zu der Öffnung in der Küchenwand, dann wieder zu ihr.

Sie wich ihm aus, packte weiter.

»Ich rede mit dir!« Er wurde laut. Gleich würde es losgehen. Butterfly nahm einen Pullover von der Sessellehne, packte ihn ein, zog den Reißverschluss zu und wandte sich zum Gehen. Zed holte aus und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Weiße Sterne tanzten vor ihren Augen. Sie biss sich auf die Lippe, bis sie Blut schmeckte. Dann griff sie in die Jackentasche, holte den Taser hervor, drückte ihn dem wutschnaubenden Zed vor den Bauch und drückte ab. Er gurgelte, taumelte unkontrolliert zurück und sackte stöhnend in sich zusammen.

Ohne einen Blick zurück verließ Butterfly die Wohnung. Sie bemerkte nicht, wie sich mehrere Männer von der anderen Treppe aus näherten. Männer, die Zed suchten.

Level 4

Ein Teich unter steinernem Himmel, Moos leuchtet, das Wasser tanzt. Seerosen blühen in zahllosen Farben. Acht Brücken, die hinüberführen, auf die Insel im Inneren. Darauf, leuchtend, wirbelnd und zu schön, um direkt hineinzusehen – das Herz der Stadt. Sein Pulsieren so grausam, ehrfurchtgebietend, alles unterwerfend, aber auch warm, empfangend, wie der Schoß einer Mutter.

Zum ersten Mal zögert der Krieger, bevor sein Schritt wieder an Entschluss gewinnt und ihn hinüberträgt, über eine der Brücken und hinein ins rot lodernde Herz.

Ständig musste sie fliehen, nirgends konnte sie länger als ein paar Tage Unterschlupf finden. Sicher, sie hätte das Terminal abschalten können oder es ganz loswerden. Teure Tarnsoftware besorgen, um ungesehen im Internet unterwegs zu sein. Aber zu nichts davon war sie in der Lage. Das billige Gerät, für das sie auf dem Schwarzmarkt den Großteil ihres Geldes ausgegeben hatte, war träge und auffällig. Trotzdem brauchte sie es – es war das, was ihr einen Weg hier raus ebnen konnte. Sie tat es für die kleine Future, die in ihrem Bauch heranwuchs. Butterfly hatte das System verstanden. Das System, mit dem die meisten der Sucher ins Internet gingen, wurde überwacht. Und wenn tatsächlich jemand etwas Bemerkenswertes fand, kamen sie und holten es sich. Meist überlebten die Sucher dieses Treffen nicht. Deshalb musste sie flink sein, kleine Funde sofort zu Geld machen, ständig unterwegs sein. Flucht in ihr neues Leben. Im Moment bestand es nur aus Bahnstationen, Plastikschalensitzen und Essen aus Automaten. Genaugenommen war sie obdachlos, aber sie hatte ein Ziel. Einen Ort zu finden, an dem sie ihre Tochter zur Welt bringen konnte. An dem die kleine Future aufwachsen und gedeihen konnte. An dem sie es besser hätte als ihre Mutter. Eine Hoffnung, so alt wie die Menschheit. Ein paar Monate hatte sie noch Zeit. Diese Zeit galt es zu nutzen. Schnell loggte sie sich wieder ein.

₺176,79
Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
358 s. 15 illüstrasyon
ISBN:
9783957770714
Yayıncı:
Telif hakkı:
Автор
İndirme biçimi:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

Bu kitabı okuyanlar şunları da okudu