Kitabı oku: «Gegendiagnose II», sayfa 7
Versteckt hinterm Mantel der Professionalität?
Auf den verschiedenen Veranstaltungen der Stimmenhören-Bewegung19 fällt mir immer wieder auf, dass die Mehrheit der Expert*innen durch Beruf weiterhin an ihren Machtpositionen festhält, auch wenn wir davon reden, Hierarchien aufzulösen. Wir benutzen eine akademische Sprache und wir sprechen, so wie wir das gewöhnt sind, über unsere Klient*innen anstatt über uns selbst. Unsere jahrelangen Ausbildungen haben uns verinnerlichen lassen, dass Theorien gültiger sind als persönliche Geschichten. Und wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir zugeben, dass wir davon auch profitieren, weil das unsere Machtposition festigt: wir sind auf der souveränen Seite. Wir wissen, was wahr und was falsch ist.
Aber gerade auf diesen Veranstaltungen geht es nicht darum, die professionelle Distanz zu wahren. Es geht darum, als Gemeinschaft zusammen zu kommen und uns gegenseitig dabei zu unterstützen, mit uns selbst besser klar zu kommen und auch das psychiatrische System zu verändern. So, wie es mir das vor vielen Jahren in der Trialoggruppe erging. Es ist ja so einfach, sich hinter dem Mantel der Professionalität zu verstecken, während wir die Expert*innen durch Erfahrung dazu auffordern, ihre intimsten Geschichten zu erzählen. Wie viel Lebendigkeit könnten wir zurückgewinnen, würden wir unseren Mantel nur ein bisschen öffnen und auch unsere Schwachpunkte mehr durchscheinen lassen? Wie oft haben wir uns schon gefragt, was eigentlich unser persönlicher Bezug zum sogenannten Wahnsinn ist? Warum wir uns ausgerechnet diesen Beruf ausgesucht haben? Geben wir es vor uns selbst zu, wenn wir unsicher oder ängstlich sind?
Hören wir auch ein bisschen Stimmen?
Wo sind wir selber ein bisschen merkwürdig oder spleenig, haben vielleicht bestimmte Ansichten, von denen wir denken, dass sie nicht von der Allgemeinheit geteilt werden? Meine Tante erzählte mir zum Beispiel vor ein paar Jahren, dass sie nach dem Tod ihrer Mutter einige Male deren Stimme hörte, die vom Armsessel im Wohnzimmer her ihren Namen rief. Erst durch ein Gespräch mit mir übers Stimmenhören fiel ihr das wieder ein und ihr wurde deutlich, dass sie das vorher nie jemandem erzählt hatte, vor Angst, ihr würde sowieso niemand glauben. Religiöse oder spirituelle Menschen erzählen von Gesprächen mit Gott oder von Visionen, die sie geängstigt und/oder ihnen weitergeholfen haben, oder einfach davon, in manchen Situationen die Anwesenheit von bestimmten Energien zu spüren. Manche Menschen haben ähnliches unter dem Einfluss von halluzinogenen Drogen erlebt.
Ist das nun schon eine Gehirnstoffwechselerkrankung? Oder nur einer von vielfältigen Versuchen, die komplexe und widersprüchliche Welt, in der wir leben, zu begreifen?
Literatur- und Quellenverzeichnis
Kearney, Anne 2018: Counselling, Class and Politics: Undeclared influences in therapy. 2nd Edition by Gillian Proctor. Manchester.
Proctor, Gillian 2017: The Dynamics of Power in Counselling and Psychotherapy. Manchester.
Smail, David 2005: Power, Interest and Psychology. Elements of a social materialist understanding of distress. Monmouth.
Mit dem Rücken zur Wand – Eine Autoethnographie zum Unbehagen in meiner professionellen, psychiatrischen Identität
Robin Iltzsche
Ich habe so lange geschwiegen, da wird es jetzt aus mir brechen wie eine Sturzflut, und sie werden […] sagen, das ist so schrecklich, das kann nicht wirklich passiert sein, das ist so schrecklich, das kann nicht die Wahrheit sein! Und doch, bitte. Es fällt mir immer noch schwer, mit klarem Kopf darüber nachzudenken. Es ist jedoch die Wahrheit, auch wenn es gar nicht passiert ist. (Ken Kesey – Einer flog über das Kuckucksnest – 1995/1962: 14)
Prolog20
Schon als Kind wusste ich, dass die Irrenanstalt in Arnsdorf ein dunkler, unheimlicher Ort war. Wir machten Späße darüber, wenn sich ein*e Mitschüler*in ›verrückt‹ verhielt: »Der kommst doch aus Arnsdorf, oder?« Späße, die aus der Gemeinheit gespeist sind, die gerade auch Kindern eigen sein kann. Späße, die auch unsere eigenen Ängste vor dem Wahnsinn und der Psychiatrie überdeckten21.
Der Mythos um die Irrenanstalt und eigentlich die ganze verrückte Stadt Arnsdorf blieb der einzige, entfernte Orbit, in dem die Psychiatrie meine Jugend umkreist, bis eine Freundin von mir unter der Last ihrer Welt zusammenbricht, mir in langen Gesprächen, in denen sie übergangslos von Lachen zu Weinen wechselt, das Leid und die Widersprüchlichkeit ihrer Existenz vor Augen führt. Ihr wird später in Arnsdorf eine Borderline-Störung diagnostiziert, womit ich damals nichts anfangen kann, außer dass meine Mutter schluckt, als sie es hört, und meint, dass es also wirklich etwas Ernstes sei. Ich besuche sie in Arnsdorf und stelle fest, wie viel besser es ihr in der Klinik geht – sie wirkt zwar blasser und erschöpfter als vorher, aber wir können wieder ›normal‹ miteinander reden. Die psychiatrische Anstalt, die bis dahin allein eine Quelle von Horrorgeschichten und gemeinen Witzen war, scheint jetzt ein steriler, ruhiger und neutraler Ort zu sein, eine Zufluchtsstätte, ein Rückzugsort und Schutzraum für Menschen in Krisen. Die Klinik in Arnsdorf sieht in Wirklichkeit gar nicht so anders aus, als beispielsweise die Herzklinik in Dresden, die ich gut kenne, da dort nicht nur meine Mutter schon lange als Krankenschwester arbeitet, sondern ich mir auch mal als Hilfskraft ein paar Mark dazuverdiene.
Zugang
Einige Jahre später studiere ich Psychologie und wähle aus Mangel an besseren Alternativen immer wieder die klinische Ausrichtung. So folge ich eher unbewusst einem Pfad, der mich immer näher an das psychiatrische Krankenhaus bringt, von dem sich meine infantilen und existentiellen Ängste nie vollständig gelöst haben. Damit nähere ich mich auch gerade der Krankenhausmaschinerie, die meine Mutter so verflucht, da sie unter der bürokratisierten, hierarchisierten und auf Leistung und Gewinn getrimmten Praxis ihrer Klinik leidet. In der es nämlich schon lang nicht mehr ›um den Menschen geht‹, wie sie sagt. Aber durch eigenen Antrieb und äußere Umstände politisch radikalisiert und mehr und mehr gesellschaftstheoretisch informiert, wähle ich den Angriff nach vorn (der in seinem Schatten vielleicht eine andersgeartete Abwehr und Rationalisierung mit sich führt) und entschließe mich, bestärkt durch intelligente und bewundernswerte, zum Teil kritische und zum Teil keifende Mitstreiter*innen, diesem Feld der Psychiatrie meine primäre akademische Aufmerksamkeit zu schenken. Während der Phase der anderthalbjährigen theoretischen und methodischen Einarbeitung, einer Bachelorarbeit zum Thema, erster ethnographische Probeversuche und dem Versuch sich mit anderen Gruppen zu vernetzen, habe ich mein erstes Bewerbungsgespräch in einer psychiatrischen Klinik, in der ich sowohl ein Praktikum als auch eine ethnographische Feldforschung machen will.
Der impliziten Anrufung der ›ordentlichen Erscheinung‹ gehorchend wurde aus meinem Sidecut eine ordentliche Kurzhaarfrisur, ich war geduscht, rasiert und nicht in kaputter Baggy und Kapuzenpullover, sondern in Hemd und Hose gekleidet. Ich fühle mich dabei immer ein wenig unwohl, wenn ich mich so ›verkleiden‹ und als ›ordentliche‹ Person präsentieren muss.
Von einer Pflegerin am Empfang abgefangen, werde ich zum Warten auf eine Stuhlreihe vor das Büro geschickt, in dem ich meinen Termin habe. Warten ist das erste zentrale Ritual der Psychiatrie, das ich damit vor der Tür der Psychologin kennenlerne. Es ist ein Warten, das besonders auf Seiten der Patient*innen die quälende Last der Langeweile produziert. Es ist ein Warten, das das Vakuum zwischen den festgelegten Zeiten, der festgelegten Gespräche und der festgelegten Aktivitäten durch sein eigenes Nichts verkörpert – es beinhaltet vielleicht sogar den horror vacui, die Angst vor der Leere, der Leere und des Stillstands des eigenen Lebens.
Ohne zu wissen, ob ich nicht auch von selbst hereingebeten werden würde, ergreife ich selbst Initiative und klopfe pünktlich kurz nach 9 Uhr an die Tür. Eine adrette, ältere, brillentragende, weißhaarige Dame in weißem Kittel (die entweder versucht das Klischee ihrer Profession abzubilden oder an der sich dieses Klischee orientiert) begrüßt mich freundlich mit Nachnamen und bittet mich herein. Obwohl ich in unserem E-Mailverkehr den Eindruck gewonnen hatte, dass ich das Praktikum auf jeden Fall machen könne, inszeniert sie doch ein wirkliches Bewerbungsgespräch, indem sie immer wieder skeptisch abschätzend und irgendwie auch abschätzig mit mir meinen Lebenslauf, mein Bewerbungsschreiben und meine ›gesellschaftskritische Haltung‹, die ich in meinem Lebenslauf nicht versteckten wollte, diskutiert; gleichzeitig erwähnt sie von sich aus Widersprüche der Psychiatrie (gesellschaftliche Probleme nicht im Individuum lösen zu können) und zu kritisierende Zustände (die stetigen Kürzungen im sozialen Bereich sowie den Anspruch auf Effizienz der Behandlung auf Seiten der Krankenkassen). Dies ist ein Habitus der Selbstreflexion und Selbstkritik, den ich nicht erwartet habe, dem ich aber immer wieder in der Psychiatrie begegne; es gibt eine Art kollektives Gedächtnis, welches die Angriffe auf ihre Praxis und Profession konserviert (denn die Geschichte der Psychiatrie war immer schon eine Geschichte der Antipsychiatrie; Brink 2010, Foucault 2005), und ein Bewusstsein für die gesellschaftlich vorherrschenden Vorurteile gegenüber der psychiatrischen Institution (der »Stigmatisierung der Klinik«, wie es mal ein Arzt mir gegenüber bezeichnete).
Ihr war auch wichtig, noch einmal mit Nachdruck die Schwierigkeit der Arbeit mit »diesen Leuten« zu erwähnen und dies an die Frage zu koppeln, ob ich mir das auch zutrauen würde. Meines Erachtens lässt sich hier eine Beziehung zu der von Mentzos (1976) so bezeichneten »institutionalisierten Abwehr von Angst« herstellen. Die Psychiatrie übernimmt nicht nur die Aufgabe einer institutionellen Abwehr, sondern sie produziert und inszeniert auch einen angstbesetzten Raum, den Mythos von Arnsdorf, eine Drohkulisse, um für alle eine Abschreckung zu sein; um ein Ort zu sein, an dem niemand sein will und von dem alle wegwollen, wenn sie doch mal dort gestrandet sein sollten. Die Funktionalität für die Psychiatrie der Gegenwart liegt hier in ihrem Gegensatz zum Asyl, das sie gerade nicht mehr langfristig gewähren will; denn obwohl der moderne Mensch in einer Klinik geboren wird und in einer Klinik stirbt, so soll er doch nicht in einer Klinik wohnen. Die Klinik braucht die Unheimlichkeit, auch um nicht ›heimisch‹, um kein alternatives Heim zu sein. Ein weiteres grundsätzliches, immer wiederkehrendes Ritual der psychiatrischen Praxis wird ebenfalls in der Aussage der Psychologin deutlich. Es ist die Produktion einer Dichotomie zwischen Normalität und Wahnsinn, der Patient*innen (»dieser Leute«) und der Normalen (»uns«). Es ist wahrscheinlich auch dieses ›Othering‹, diese Distanzierung, Verfremdung und Exotisierung, die nicht nur das gesteigerte Interesse am Pathologischen, sondern auch die Angst vor selbigen hervorbringt.
Zur Verabschiedung führt sie mich hinaus auf den Gang und in das Stationszimmer, das, wie ich später erfahre, von allen ›Stützpunkt‹ genannt wird und damit in mir eine, vermutlich ungewollt, militärische Assoziation wachruft. Hier händigt sie mir ein paar Informationsmaterialien aus, die gewöhnlich den Patient*innen gegeben werden. Vor allen Anwesenden betont sie noch einmal, dass diese aber auch für die »andere Seite« interessant wären und erklärt damit den Pflegerinnen, die mich und den Vorgang nur beiläufig beobachten, dass ich auf ›ihre‹ Seite und nicht auf die der Patient*innen gehöre.
Das Letzte, was ich sehe, als ich das Gelände dann verlasse, ist ein parkendes Polizeiauto in der Einfahrt für Notfälle, was ich irgendwie schon fast zu plakativ in seiner Symbolik finde. Das Polizeiauto, als Repräsentant des staatlichen Gewaltmonopols, steht ›versteckt‹ hinter dem Klinikgebäude und ist hier trotz der Unscheinbarkeit das Bindeglied verschiedener Sicherheits-, Ordnungs- und Kontrollsysteme.
Nun beginnt ein Warten, das sich für mich über ein ganzes Jahr erstreckt, das Warten auf den Beginn des Praktikums. Je nachdem wie dringlich sie erscheinen oder sie sich präsentieren, sind es für Patient*innen auf der Warteliste zwar häufig nur wenige Wochen bis Monate (so gab es z.B. während meines Praktikum mehrere Fälle in denen Patient*innen, die so bezeichnete ›Suizidkarte‹ ausspielten, das heißt ihnen wurde unterstellt, dass sie eine Suiziddrohung strategisch einsetzen, um die langen Wartezeiten zu umgehen), doch das Warten der Patient*innen in einer essentiellen Lebenskrise kennt eine eigenwillige Zeitlichkeit, das Warten auf Hilfe und Behandlung tickt nicht so gleichförmig und linear wie die Uhren an den Wänden der Klinik.
Eintritt
Ich hatte mir die Wochen vor dem Beginn meines Praktikums endlich mal wieder Urlaub gegönnt und temporär zu verdrängen versucht, dass ich in einer Psychiatrie arbeiten werden muss – vielleicht gleichermaßen der Angst vor der Anstalt als auch dem Unwillen geschuldet, ein weiteres Mal zum Praktikumsprekariat zu gehören und unentgeltlich arbeiten gehen zu müssen. Eine letzte Belohnung und den krönenden Abschluss dieser Ferien stellt ein Festivalbesuch dar und eng geplant, wie es sich ergeben hatte, bin ich erst morgens halb zwei wieder daheim angekommen.
Schon auf der siebenstündigen Rückreise befinde ich mich in einem unwirklichen Zustand, psychiatrisch ausgedrückt: in einem Zustand der Derealisation und Depersonalisation. Gerade war ich noch in einer ausgelassenen und glücklichen Stimmung, habe viel getanzt und gelacht, habe alte Freund*innen getroffen und neue gemacht. Ich war eingetaucht in die Atmosphäre befreit feiernder Menschen, die sich ein paar Tage einer bunten, liebesüberströmten Heilen-Welt-Illusion hingeben. Hier waren die Menschen geschminkt und verkleidet. Sie waren so, wie sie sein wollten oder gerne wären, zwanglos und unkontrolliert, empathisch und solidarisch, hatten gedopte Körper, die nicht müde wurden, und Gedanken und Gefühle, die kurzzeitig wahrnehmen konnten, was Anderen verborgen blieb. Es war die Zelebration des kollektiven Ausnahmezustands. Es war ein Festival der Sinne und der Sinnlichkeit, mit vielerlei Unsinn und noch mehr Bedeutung. Doch nun sitze ich im Bus, auf dem Weg ins Praktikum, auf dem Weg in die Psychiatrie. Ich habe Angst vor der Psychiatrie, da sie mir wie eine Inversion des Festivals erscheint, eine schrecklichere Heterotopie22: ein einfarbiger, klinischer Ort, ein Ort mit viel Leid, Trauer und Gewalt, ein Ort mit geschlossenen Türen, klaren Regeln und einer hierarchischen Ordnung, ein Ort an dem die Andersartigkeit und der Ausnahmezustand Anzeichen von individuellen Krankheiten sind, ein Ort in dem ebenfalls viele Drogen konsumiert werden, aber aus ganz anderen Gründen und mit ganz anderen Folgen, ein Ort an dem auch die zwischenmenschlichen Beziehungen so zentral scheinen und doch häufig gerade durch einen Mangel, durch Machtverhältnisse und Abhängigkeiten gekennzeichnet sind.
Doch neben dieser zugrundeliegenden surrealen Stimmungslage läuft eigentlich alles nach Plan. Ich stehe um 7 Uhr auf, frühstücke, verkleide mich mit meinem Hemd, suche mir ein Notizbuch aus dem Schrank, um meine Feldnotizen machen zu können und radele pünktlich los. In der Klinik angekommen erhalte ich im Sekretariat einen Schlüssel für die Offenheit ausstrahlenden, aber stets abgeschlossenen Milchglastüren der Klinik. Ich werde gebeten, draußen Platz zu nehmen und einen kurzen Moment auf die morgendliche Klinikkonferenz zu warten. Dort soll auch entschieden werden, zu welcher Station ich zugeteilt werde. Das erhöhte meine Aufregung, da ich lieber in einem eins-zu-eins-Gespräch erfahren hätte, ›sie werden der Station XY zugeteilt‹, als in einer Gruppe über mich reden zu lassen. Damit erfahre ich mehr als einen psychiatrischen Initiationsritus, denn das Reden in Gruppen, über andere und über sich selbst, ist ein weiteres zentrales Ritual in der Klinik. Auf Seiten der Professionellen werden so Informationen ausgetauscht, Einschätzungen validiert und mehr oder weniger kollektiv Entscheidungen getroffen, auf Seiten der Patient*innen ist die Gruppe währenddessen immer ein Art ›Versuchsraum‹, in der die Interaktion mit Anderen für die ›richtige‹ Welt geübt werden kann und auch ein Korrektiv, das durch beständige Rückmeldungen die Wahrnehmung der Patient*innen korrigiert, lenkt und formt (die Gruppe, die Klausner 2015: 142, als »das Rückgrat der modernen Psychiatrie-Reform« bezeichnet). Als die Psychologin, die auch das Bewerbungsgespräch vor einem Jahr geführt hat, in den Gang kommt, begrüßt sie mich mit den Worten »Hallo Herr Iltzsche. Sie können sich doch noch an mich erinnern? Gut. Kommen sie rein. Setzen sie sich irgendwo hin.« Ich setze mich natürlich nicht irgendwo hin, sondern begebe mich hinter die U-Form der Konferenztische, da ich sehe, dass hinter den Tischen, an der Wand, noch eine weitere Reihe aus Plastikstühlen und Hockern steht, auf denen auch schon ein paar jüngere Personen sitzen, die zum Teil auch keinen Kittel tragen. Die Sitzung geht für mich viel zu schnell, um mehr zu verstehen, als dass hier anscheinend alle Neuzugänge und Entlassungen besprochen werden, die über das Wochenende stattgefunden haben. Kurz vor Abschluss der Sitzung werde ich als »neues Mitglied des Teams auf Station XY« vorgestellt, wozu ich unbeholfen aufstehe und in die Runde lächele.
Nach der Klinikkonferenz folge ich den Ärzt*innen auf meine neue Station. Im Stützpunkt erhalte ich einen weißen Kittel (das sei so »besser, da man dich dann sofort einordnen kann«) und meine äußerliche Metamorphose gab mir auch einen innerlichen Kraftzuwachs. Der Kittel gab mir Selbstvertrauen, im Kittel war ich sicher. Ich war plötzlich ein Arzt, männlich, weise und sehr weiß.
Doch diese Sicherheit war fragil und kurzlebig. So beschlich mich besonders an diesem ersten Tag, wahrscheinlich unterstützt durch die kurzen und unregelmäßigen Schlafphasen der letzten Tage, mehrfach das skurrile Gefühl in einem Film zu sein. Ich erschrak dabei besonders in der Visite mit einem ›cannabisabhängigen‹ und ›depressiven‹ Patienten in meinem Alter, der ein paar Karrierezufälle weiter vielleicht auch ich hätte sein können.
Begegnung
Ungefähr vier Wochen später hänge ich gerade gelangweilt im Stützpunkt rum. Ich bin jeden Tag genervter von diesem Praktikum. Ich frage mich, wie ich mir so was nur selbst antun kann. Gibt es vielleicht irgendeinen masochistischen Trieb in mir oder erlebe ich eine dem kapitalistischen System geschuldete Entfremdung? Vermutlich beides. Aber es ist nicht mehr lang und ich halte das jetzt durch.
In den Stützpunkt kommt Frau Müller. Sie ist eine junge, hübsche Schülerin, die vorgestern aufgenommen wurde, da sie anscheinend während eines drogeninduzierten, psychotischen Schubs ihre ältere Schwester für eine Art Dämonin hielt und sie mit einem Küchenmesser angegriffen hat. Sie hat sich seitdem meist weinend auf ihrem Zimmer aufgehalten. Sie kommt zum Stützpunkt und will mit Herrn Schmitz, einem Assistenzarzt reden (ihre Mutter ist auch gerade zu Besuch und hält sich währenddessen weiterhin in ihrem Zimmer auf). Ich sitze im hinteren Teil des Stützpunktes und schaue immer mal rüber, was ihr anscheinend auffällt, da sie halb an Herrn Schmitz, halb an mich gerichtet zu erfahren verlangt, wer ich eigentlich sei. Ich gehe rüber und stelle mich als Herr Iltzsche und psychologischen Praktikanten auf der Station vor. Daraufhin bleibe ich bei ihnen stehen und schenke ihr zusammen mit Herrn Schmitz mein Gehör. Ich verstehe nicht alles, was sie erzählt. So spricht sie mehrmals irgendwas von Jesus, vor dem sie sich zu fürchten scheint, bis sich herausstellt, dass sie einen bärtigen Pfleger meint, der gerade im Flur vorbeigelaufen ist und in dem sie anscheinend Jesus wiedererkennt. Was sie aber eigentlich wissen will, ist, wie lange sie noch hierbleiben muss, da sie »hier unbedingt wieder raus« muss. Sie insistiert auf der Frage, was sie denn tun müsse, um wieder entlassen zu werden und beteuert, dass es ihr leidtut und sie ja auch nichts mehr anstellen wird. Der Arzt umgeht die Beantwortung der Frage geschickt, indem er ihr erzählt, dass »sie ja erst mal hier ist, damit sie wieder zur Ruhe kommen kann« und »ihr hier auch nichts Schlimmes passieren wird«. Anscheinend unbefriedigt von der Antwort, fragt Frau Müller an mich gewandt noch einmal, was sie denn tun muss, um entlassen zu werden. Ich erkläre ihr, dass es eigentlich nur zwei Gründe gibt, die es nach dem Gesetz erlauben, jemanden gegen seinen Willen in der Psychiatrie unterzubringen: der gesicherte Verdacht auf Fremd-oder Eigengefährdung. Sie erklärt sofort, dass beides nicht vorliegt, aber muss sogleich feststellen, dass ihre Beteuerungen auch nichts ändern. Zumindest scheint sie durch meine konkretere Antwort Vertrauen zu mir gewonnen zu haben, da sie nun sagt, dass sie sich mit mir gerne allein unterhalten will. Obwohl ich eigentlich gerade Feierabend habe und der Arzt mir zu verstehen gibt, dass ich darauf nicht eingehen muss, stimme ich ihrem Vorschlag zu und wir suchen uns ein anderes Zimmer, um uns ungestört zu unterhalten. Da der Aufenthaltsraum durch andere Patient*innen besetzt, die ›Bibliothek‹ gerade durch ein Extrabett belegt ist und sie nicht zu ihrer Mutter in ihr Zimmer gehen will, schlägt sie vor, sich doch einfach kurz auf den Boden vor ihre Tür zu setzen. Da ich keine bessere Alternative vorschlagen kann, stimme ich ihrem Vorschlag zu und wir setzen uns mit dem Rücken zur Wand auf den Boden. Ich bin unglücklich über diese Lösung, aber zumindest beruhigt, dass gerade kaum noch Mitarbeiter*innen auf Station sind und sich gerade niemand im Flur aufhält. Ich frage sie, wie es dazu gekommen ist, dass sie nun hier ist, was sie für mich nur wirr und unverständlich mit der Geschichte beantwortet, dass sie im Krankenhaus war und sie da verfolgt wurde. Ich frage sie, was sie gemacht hat, bevor sie im Krankenhaus war, woraufhin sie mir ein wenig von illegalen Raves, Drogen und ihren Schulfreund*innen erzählt. Im Gespräch wird mir plötzlich klar, dass sie davon auszugehen scheint, dass auch ich »auf einem Trip bin«, was ich verblüfft und beschämt verneine und ihr nochmal erkläre, dass ich psychologischer Praktikant auf dieser Station und »gewiss gerade auf keinem Trip« bin. Sie fragt sich, ob sie denn später wieder Drogen nehmen darf und welche, dass ja »Kiffen bestimmt kein Problem« sei usw., worauf ich ihr zu erklären versuche, dass das bestimmt keine gute Idee ist, da eine einmal ausgelöste Psychose ganz schnell durch Drogenkonsum wieder ausgelöst werden kann, und dass es jetzt erst mal für sie darum gehen muss »gesund zu werden«. Sie meint, dass sie unbedingt raus will, fängt an zu weinen und sagt »ihr macht meinen Kopf Matsch«, worauf ich die in der Klinik gelernte Floskel anwende: »Dabei wollen wir Ihnen nur helfen.« Zwischenzeitlich wirft sie mir auch vor, dass ich das ja hier eigentlich toll finde, wenn sich ein Mädchen »so vor mir ausheult«, worauf ich ihr ehrlich zu versichern versuche, dass eigentlich das Gegenteil der Fall ist und ich es ziemlich schrecklich finde, zu sehen, wie es ihr geht. Wir reden noch ein bisschen über ihre religiöse Einstellung, dass sie am Religionsunterricht teilnimmt und auch bei einer christlichen Jugendgruppe aktiv ist. Als sie am Ende des Gesprächs nochmal fragt, was sie jetzt tun muss, sage ich eindringlich, dass ihr Ziel sein muss »wieder klar zu kommen« (womit ich absichtlich einen Sprachstil verwende, den ich normalerweise in der Klinik nicht an den Tag legen würde, aber der mir hier angemessen erscheint) und sie wieder lernen muss, die Realität von ihrer Phantasie zu unterscheiden. Als wir aufstehen, will sie mich zum Abschied umarmen, was ich wiederum beschämt ablehnen muss. Holprig versuche ich ihr zu erklären, dass wir uns so verabschieden könnten, wenn wir uns außerhalb der Klinik kennengelernt hätten, in der Klinik aber eine gewisse Distanz zwischen Patient*innen und Personal vonnöten ist.
Ich bleibe auf Abstand zur Psychiatrie. Es bleibt ein generelles Unbehagen bei dem, was hier geschieht. Ich bleibe widerständig, sei es nur im Kleinen. Mich stört es, wie Patient*innen infantilisiert werden und bemühe mich selbst um eine ehrliche Begegnung. Ich will mich nicht mit dem leeren Sprechen ohne inhaltslosen Antworten zufriedengeben, noch unterwerfe ich mich allen Regeln, die auch mein Verhalten hier strukturieren sollen. Doch hat die Psychiatrie mich schon längst eingeholt und eingefangen. Ich sitze mit dem Rücken zur Wand. Ich bin damit ein Teil von ihr und sie ist es in mir, auch ohne und gegen meinen Willen, schon längst geworden. Es ist längst eine subtile psychiatrische Subjektivierung23 im Gange. Ich versuche zu verstehen, doch verwirrendes tue ich ab. Höre ich nicht zu? Ich folge der psychiatrischen Suche nach Gründen und gebe Empfehlungen. Weiß ich es denn besser und wurde ich um Ratschlägen gebeten? Wenn ich nicht mehr weiterweiß, verstecke ich mich hinter der Ideologie der Hilfe und der Fürsorge. Bin ich damit jetzt Freund und Helfer? Ich gehe (therapeutische) Beziehungen ein. Doch bestimme ich nicht letztlich die Distanz?
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