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Die Auslagerung von geschlechtlichen Codes aus der Wissenschaft:
Kanon und Reinheit

Verallgemeinernd könnte man sagen, dass die ‚Naturalisierung‘ der Wissensordnung einen doppelten und dabei paradoxen historischen Prozess durchlaufen hat: Ging es zunächst um den Ausschluss von Geschlecht, so ging es in einem zweiten ‚Schritt‘ um den Einschluss – oder genauer: die Einlagerung – von geschlechtlichen Codes. Auf welche Weise sich dieser doppelte Prozess in den verschiedenen Wissensfeldern vollzogen und niedergeschlagen hat, wird aus den einzelnen Beiträgen in diesem Band deutlich. Am Begriff der ‚Reinheit‘, der für die Wissenschaft eine ähnliche Funktion erfüllt wie der des ‚Kanons‘, lässt sich diese paradoxe Bewegung am besten darstellen. Der Begriff ‚Kanon‘, der inzwischen in seinen geschlechtlichen Codierungen gut erforscht ist,2 kommt ursprünglich aus der Baukunst und heißt soviel wie Richtschnur, Maßstab. Er wurde in der griechischen Antike von dem Bildhauer Polyklet übertragen auf den menschlichen Körper, um Idealmaße und Proportionen zu bezeichnen – Idealmaße, die Polyklet ausschließlich am männlichen Körper demonstrierte. Später wurde der Begriff wiederum auf den Städtebau oder die Konstruktion großer sakraler Gebäude übertragen, die dem ‚sozialen Körper‘ das Aussehen und die Idealproportionen des menschlichen Körpers verleihen sollten, um heute fast ausschließlich auf Texte angewandt zu werden, die in den verschiedenen Disziplinen kanonischen Charakter – also eine Maßstabsfunktion – erhalten haben. Das Problem besteht freilich darin, dass sich die idealen Maßstäbe des Kanons nicht positiv benennen lassen, nur in Abgrenzung gegen das ‚Nicht-Maßstabgerechte‘. Das heißt, ihre Definition hängt immer von der Benennung eines ‚Nicht-Kanons‘ ab. Dieser hat – je nach historischer Notwendigkeit und je nach neu entwickelten medialen Speichersystemen, die über die Wissensordnung bestimmen – unterschiedliche Gestalt. Ihre einzige Gemeinsamkeit: die geschlechtliche Codierung.

Ganz ähnlich wirkt sich auch der Begriff der ‚Reinheit‘ für die Wissenschaft und auf die Etablierung von Wissensfeldern aus. Es gibt wenige Begriffe, die eine solche Macht über das Denken von Individuen und Gemeinschaften ausüben wie die ‚Reinheit‘. Kaum ein Wissensfeld, in dem er nicht eine Schlüsselstellung einnimmt – ob es sich um Religion, Politik, Sexualität, Sprache, Kultur, Psychologie oder eben die Wissenschaften und ihre Rolle für diese verschiedenen Bereiche handelt. Obgleich die [<< 14] ‚Reinheit‘ in jedem Wissensfeld eine andere Bedeutung annimmt, ist allen Bedeutungen gemeinsam, dass sie dazu dienen, Abgrenzungen und Ausschlüsse vorzunehmen. Das besagt schon die Etymologie des Wortes ‚rein‘: Aus dem Alt- und Mittelhochdeutschen ‚reini‘ bzw. ‚hreni‘ stammend, bedeutet das Wort ursprünglich ‚gesiebt‘ oder ‚gesäubert‘.3 Im Wort ‚rein‘ steckt also die Bedeutung von ‚herein‘ oder ‚hereinnehmen‘, was neben dem Einschluss auch einen Ausschluss beinhaltet. Die Tatsache, dass sich das ,Reine‘ – wie der ‚Kanon‘ – nur durch den Gegensatz zum ‚Unreinen‘ definieren lässt, hat zur Folge, dass in vielen Wissensfeldern der ‚Schmutz‘ oder das ‚Unreine‘ überhaupt erst benannt, sichtbar gemacht oder ‚ritualisiert‘ werden muss. (Zu den ‚Riten‘ würde etwa die der Theologie so ähnliche Kleiderordnung der alten Universität gehören, die nicht durch Zufall dann zu verschwinden begann, als Frauen in den Akademien aufgenommen wurden).

Wie auch die abendländische ‚Wissenschaft‘ von der Theologie ihren Ausgang nahm, hat auch die ‚Reinheit‘ zunächst religiöse Ursprünge. Es gibt, allgemein gesagt, keine Religion, die nicht in der einen oder anderen Weise auf Reinheitsgesetze oder – alternativ – auf die ‚Reinheit‘ des Transzendenten und die ‚Unreinheit‘ des Irdischen Bezug nimmt. Allerdings ist das, was als ‚rein‘ bezeichnet wird, in jeder religiösen Kultur unterschiedlich. Bezieht sich die ‚Reinheit‘ zum Beispiel in der jüdischen Religion auf die Zeremonialgesetze, die eine scharfe Trennung zwischen bestimmten Speisen und über diese zwischen dem Heiligen und dem Profanen fordern,4 so findet in der christlichen Religion eher eine Gegenüberstellung von Bildern statt, die einander ‚ähneln‘ und dennoch als Gegensätze konstruiert werden – etwa die Bilder des Blutes, bei denen das ‚reine‘ Blut des Gekreuzigten oder der Märtyrer dem ‚unreinen‘ Blut, das dem sexuellen Körper und der Sexualität eigen ist, gegenübergestellt wird.5 Auf der Basis einer solchen Gegenüberstellung erhielt zum Beispiel die geschlechtlich übertragene Syphilis den Namen ‚Böses Blut‘. Solche christlichen Bilder von ‚Reinheit‘ fanden sich nach dem Säkularisierungsprozess auf vielen modernen Wissensfeldern wieder. Heute gibt es zum Beispiel einen breiten Konsens darüber, dass Sauberkeit, Hygiene und Gesundheit etwas ‚Gutes‘ darstellen, während alles, was unter den Begriff des Schmutzes fällt, dem Fremden zugerechnet wird. Dass es sich bei dieser Bedeutung von ‚Reinlichkeit‘ um eine symbolische Zuordnung handelt, kann man an sich selbst [<< 15] beobachten: An Orten, die uns fremd sind oder in Ländern, deren Sprache wir nicht sprechen, nehmen wir Schmutz viel deutlicher wahr als in der eigenen Stube. Auch neigen wir dazu, Gefühle von Fremdheit mit Worten und Bildern zu umschreiben, in denen von mangelnder Sauberkeit oder schlechtem Geruch die Rede ist. Solche Wahrnehmungen stehen in einer langen Geistestradition, in der das Fremde (oder Auszuschließende) mit dem Schmutz – oder dem Unreinen – gleichgesetzt wird. In diesem Sinne ist die Reinlichkeit (sozusagen die säkulare Reinheit) auch wiederholt politisch funktionalisiert worden: etwa im rassistischen Antisemitismus, wo von der ‚Reinheit‘ des Volkskörpers und der ‚Unreinheit‘ des ‚jüdischen Blutes‘ die Rede war. In solchen Wissensfeldern und ihren Wissensformen eine hard science zu sehen, würde die moderne Wissenschaft heute – und zu Recht – ablehnen. Dennoch waren es eben diese ‚biologisierten‘ theologischen Diskurse, die im 19. Jahrhundert den Wandel der Wissensordnung vorantrieben und dazu beitrugen, dass die Naturwissenschaften zu Leitwissenschaften aufstiegen.

In der Ästhetik verweist die ‚reine‘ Form bzw. die ‚reine Kunst‘, wie bei der Mathematik oder der Logik, auf eine Vorstellung von Kunst, die keinen Bezug zu Politik, Religion oder sonstigen ‚Botschaften‘ hat, die also frei ist von Inhalten, die nicht ihr selbst, der Kunst gelten. Dann kann ‚Reinheit‘ in der Kunst aber auch auf eine Ästhetik verweisen, die sich dem ‚reinen Denken‘ oder der ‚reinen Form‘ verschrieben hat – etwa die autonome Literatur oder die abstrakte Kunst und die Musik. Oder der Begriff ‚Reinheit‘ bezeichnet eine Architektur, deren Formen von ‚reiner‘ Zwecküberlegung bestimmt werden. Den Begriff der ‚reinen‘ Kunst nehmen freilich auch ästhetische Formen für sich in Anspruch, die gerade eine politische oder religiöse Botschaft zu transportieren versuchen: das ‚Bühnenweihfestspiel‘ Richard Wagners zum Beispiel bzw. die dem ‚Blut und Boden‘ verhaftete Kunst der NS-Zeit, die die Kunst der Moderne als ‚entartet‘, mithin als ‚unnatürliche‘ und ‚fremde‘ Kunst bezeichnete. In allen diesen Fällen geht es um den Ausschluss eines – wie auch immer definierten – ‚Fremdkörpers‘. Dasselbe gilt auch für die Forderung nach einer ‚Reinheit der Sprache‘, die immer dann auftaucht, wenn es darum geht, eine Nation oder ein Sprachgebiet gegen eine vermeintliche ‚Überfremdung‘ zu schützen.

Da der Begriff der ‚Reinheit‘ in enger Beziehung zur Körperlichkeit und mithin zum Tastsinn steht, dieser aber oft (vor allem in seiner sexuellen Bestimmung) als ‚kontaminierend‘ für den ‚reinen Geist‘ betrachtet wurde, ist es nicht erstaunlich, dass das Sehen, schon seit Aristoteles, als der ‚reinste‘ der Sinne gilt, weil er – Distanz zum Objekt voraussetzend – einen hohen Abstraktionsgrad ermöglicht. Hier liegt einer der Schlüssel zum Verständnis des engen Zusammenhangs, den die Moderne zwischen Sehen und Wissenschaft hergestellt hat: Der Begriff der ‚Erkenntnis‘ ist fast zu [<< 16] einem Synonym für Betrachten geworden, und das gilt nicht nur für die Objekte des Wissens, die sich durch das Mikroskop oder andere technische Sehgeräte betrachten lassen – es gilt auch für die am Rechner erstellten Bilder, die etwas ‚sichtbar‘ machen, das eigentlich gar nicht zu sehen ist, etwa die Tätigkeit des Gehirns oder die Doppelhelix der Genwissenschaft. Ausgerechnet diese synthetischen Bilder, die nicht etwa abbilden, sondern eine symbolische Umsetzung für Vorgänge bieten, die in bildhafter Form ‚vorstellbar‘ werden, sind heute zu einer Art von Logo der ‚reinen Wissenschaft‘ geworden, die sich der sinnlichen Wahrnehmung – auch in ihrer abstraktesten Art: dem Auge – entzieht. Auch diese synthetischen Bilder verweisen, wie die Biologisierung theologischer Diskurse, zugleich auf die Einlagerung von Geschlechtercodes in die Wissenschaft.

Allgemein impliziert der Begriff der ‚Reinheit‘ in der Wissenschaft, dass das Wissen von der sinnlich wahrnehmbaren Welt und den ‚Gefühlen‘ fernzuhalten ist; es geht also auch um den Ausschluss von Emotionen und von allen Bereichen des Mensch­lichen, die mit dem Begriff des Subjektiven, des Irrationalen oder gar der ‚Leidenschaften‘ einhergehen. Deshalb spielt für die ‚Reinheit‘ auch das psychologische Moment eine wichtige Rolle. Das griechische Wort ‚Katharsis‘ bedeutet Reinigung und beinhaltet das Abreagieren von Affekten. Aristoteles sah in der Tragödie ein Mittel, die Katharsis herbeizuführen. Die Pythagoräer vertraten dagegen die Ansicht, dass sich Angstgefühle am besten durch Musik überwinden lassen, da sie von allen Künsten der Mathematik am nächsten stehe. Die moderne Psychologie und Psychoanalyse – mit ihrem ‚­chimney sweeping‘, wie Joseph Breuers Patientin Anna O. die Vorgänge nannte 6 – setzt ebenfalls auf eine Form von Katharsis, die einer ähnlichen Metaphorik folgt: Durch Verbalisierung und Bewusstmachung soll die Seele von Bedrückendem gereinigt werden. Andere Formen von Therapie versuchen, seelische Konflikte durch ‚Abreagieren‘ aufzulösen. In jedem Fall aber geht es darum, dass es ‚reines Wissen‘ – und das heißt berechenbares, verifizierbares Wissen – nur unter dem Ausschluss von Gefühlen geben kann, die ihrerseits als ‚unrein‘ zu gelten haben. Auch auf diesem Gebiet ist freilich ein paradoxer historischer Prozess zu beobachten, bei dem auf den Ausschluss von Geschlechtlichkeit – die ganz allgemein für ‚das Gefühl‘ (im kollektiven Singular) steht – eine neue und positive Bewertung der Gefühle, also deren Einlagerung folgt: deutlich zu beobachten an der Kultivierung der ‚Empfindsamkeit‘ um 1770 oder später, etwa in der Décadence, an einer neuen Begeisterung für Sinnlichkeit und [<< 17] ‚Leidenschaft‘ bzw. Leiden. Dabei lässt sich zeigen, dass die historischen Veränderungen in der Geschlechterordnung nicht nur die Geschichte der Gefühle beeinflusste, die Norbert Elias so intensiv untersucht hat, sondern auch Rückwirkungen auf den Wandel der Wissensordnung hatte.

Eben weil die ‚Leidenschaft‘ und starke Gefühle als ‚unrein‘ gelten, fällt auch der Sexualtrieb in vielen Kulturen in den Bereich des ‚Unreinen‘, das es zu domestizieren und damit unschädlich zu machen gilt. Dafür gibt es strenge, von einer Kultur zur anderen sich unterscheidende Vorschriften, die etwa festlegen, mit wem der Geschlechtsverkehr ‚rein‘ oder ‚unrein‘ ist. Oder aber die ‚Reinheit‘ wird hergestellt, indem die Bereiche des (asexuell) Heiligen und des (sexuell) Profanen streng von­einander getrennt werden. Eine dritte Form des Umgangs mit der Sexualität bestand in ihrer ‚Heiligung‘, also gerade in der Vermischung des Profanen mit dem Transzendenten. In der christlichen Theologie, die für die westliche Wissensordnung bestimmend werden sollte, wurde die Vorstellung, dass durch Sexualität Leben erzeugt wird, zunehmend verdrängt durch die Auffassung, dass der reine Geist als ‚fruchtbarer Same‘ zu wirken habe. Solche Konstruktionen implizierten immer die Gleichsetzung des weiblichen Körpers, da wo er Körperlichkeit und Sexualität symbolisierte, mit einer ‚unreinen‘ Zeugungsfähigkeit. Wenn Frauen also über Jahrhunderte von klerikalen Ämtern, von kultureller Tätigkeit und vor allem von wissenschaftlicher Arbeit ausgeschlossen blieben, so stand dahinter die Vorstellung, dass der weibliche Körper eine gefährliche Kontamination für die ‚Reinheit‘ des ‚Wissens‘ darstelle.

Insgesamt bedeutet ‚Reinheit‘ in der Wissenschaft also, dass die Forschung durch keine Elemente des Psychischen, des Historischen oder des ‚Subjektiven‘ beeinflusst werden darf. Ging die Theologie noch von einer ‚Reinheit‘ des Wissens aus, das vor allem durch die Sexualität (oder die Leiblichkeit) kontaminiert werden konnte, so gehen die modernen Naturwissenschaften von einen Prinzip der ‚Reinheit‘ aus, das auf dem Ausschluss jedes Zufalls beruht und deshalb in seiner ‚reinsten Form‘ nur im Labor durchgeführt werden kann, wo die Einflüsse der äußeren Welt und das Subjekt des Betrachters auf ein Minimum reduziert sind. Allerdings ist der Unterschied zum theologischen Ausschluss der Leiblichkeit nicht so groß, wie er scheint. Er hat sich nur auf ein anderes Feld verlagert. Hielt sich der Kleriker im Kloster und durch Askese von den schädlichen Einflüssen des irdischen Lebens und seiner Leiblichkeit fern, so übernimmt nun das Labor diese Funktion. Es ist zur modernen Form des Klosters geworden. In dieser Form der Abgeschiedenheit wird keine Askese gefordert, sondern der ‚wissenschaftliche Leib‘ selbst ausgeschlossen, stellt dieser doch ein potentielles Einfallstor des ‚Unreinen‘ und des Zufalls dar. Das heißt, idealiter hat sich die moderne Wissenschaft von der Forderung nach einer ‚Reinheit‘ ihres Trägers [<< 18] verabschiedet; als vollkommen ‚reine Wissenschaft‘ empfindet sie sich erst dann, wenn es ihr gelingt, diesen Wissenschaftler völlig zu ersetzen. Da dies nur in den Naturwissenschaften, zumindest als Phantasie, möglich ist, in den Geisteswissenschaften hingegen an der notwendigen ‚Empfindsamkeit‘ des Forschers scheitern muss, ist hier eine der Erklärungen für die neue Wissensordnung zu suchen. Hard science heißt im Idealfall science without the body of the scientist. Interessanterweise ist eben dies der historische Moment, in dem die Frau, Verkörperung der Körperlichkeit, das Reich der Wissenschaft betritt. Da sich die ‚Reinheit‘ der Wissenschaft – im Prinzip – von der Forderung nach einer ‚Reinheit‘ des Forschers unabhängig gemacht hat, gilt auch die Wissenschaftlerin nicht mehr als kontaminierend.

Die Einlagerung von Geschlechtercodes in die Wissenschaft: Sexualisierung und Entsexualisierung

Wenn sich die westliche Wissensordnung durch die Bereinigung des Wissens vom Subjektiven, Irrationalen und Sexuellen konstituieren konnte, so stellt sich die Frage, warum Frauen – und damit auch ihre Funktion, die ‚Sexualität‘ zu repräsentieren – in eben dem historischen Moment in der Wissensordnung zugelassen werden, wo Sexualität und Zufall ausgeschlossen werden. Um auf diese Frage zu antworten, sei noch einmal der Blick auf die Entwicklung der Wissenschaften gerichtet und danach gefragt, wie es ‚die Wissenschaft‘ (im kollektiven Singular) überhaupt so weit bringen konnte, dass ihr Traum von einem Labor-gerechten Forscher, der ebenso ‚rein‘ ist wie die Wissenschaft selbst, also von einem Labor ohne Forscher, in greifbare Nähe rückte. Die Voraussetzungen für die Erfüllung dieser Wissenschaftsutopie schufen die Errungenschaften der Wissenschaft auf dem Gebiet der medizinischen Forschung, als es diesen gelang, den menschlichen Körper – und damit auch den forschenden Körper – zu einem Produkt zu machen, das sich im Reagenzglas fabrizieren ließ. Mit der Entdeckung des Eisprungs um 1830, mit einer genaueren Kenntnis der Zeugungsvorgänge um 1875 (dank verbesserter Mikroskopiertechnik) hatte die westliche Wissenschaft den Zugang zu einem Wissen entdeckt, das von Anfang an die abendlän­dische Wissensphantasie beschäftigte: die Reproduktion des Menschen nach geplanten, den Zufall – vor allem den Zufall der sexuellen Anziehungskraft – ausschließenden Mechanismen. Damit rückte eine alte abendländische Wissenschaftsphantasie ihrer Realisierung um einen entscheidenden Schritt näher. Sie hatte begonnen mit Platon und seiner im ‚Staat‘ entwickelten Vorstellung einer geplanten Fortpflanzung der menschlichen Gemeinschaft, sie hatte sich ‚wissenschaftlich‘ niedergeschlagen in den [<< 19] aristotelischen Theorien über ‚die Zeugung der Geschlechter‘; und sie fand im christlichen Topos vom ‚geistigen Samen‘ ihre theologische Ausformulierung. Zwar wird der moderne Wissenschaftler (bisher) noch nicht in der Retorte gezeugt und ausgetragen, aber das Labor und die Bedingungen der Forschung im Labor tragen doch schon erheblich dazu bei, seine Existenz, zumindest an diesem Ort, den Phantasien, dass er selbst in der Retorte erzeugt werden könne, näher zu bringen. Der Mensch aus der Retorte – ob als Cyborg oder als anderes künstliches Wesen – stellt die Zukunfts- und Wissenschaftsphantasie des 20. Jahrhunderts dar. Doch es ist bemerkenswert, wie selten in den Filmen oder Romanen, die dieser Phantasie Ausdruck verleihen, der Gedanke formuliert wird, dass das eigentliche Ziel moderner Wissenschaftsphantasien die Erzeugung des Wissenschaftlers selbst ist. Jede Elite einer gesellschaftlichen Hierarchie nutzt ihre Macht über die Medien des Wissens dazu, das Gedächtnis und die Geschichte dieser Gesellschaft im eigenen Sinne um- und für die Zukunft festzuschreiben. Warum sollte dann andersherum nicht auch eine vom ‚Leib des Forschers‘ befreite Wissenschaft dafür sorgen, ihre eigenen, das heißt, diese Wissenschaft perpetuierenden Wissenschaftler hervorzubringen?

Die neue Wissensordnung bedarf, wie die alte, ihrer ‚Biologisierung‘ – und sie bedarf der ‚Naturalisierung‘ in verstärktem Maße und zugleich in anderer Form. Hatte die ‚alte Wissensordnung‘ alles auszuschließen gesucht, das sich ihr auf dem Weg zur ‚reinen Abstraktion‘ widersetzte, darunter vor allem die Geschlechtlichkeit, so hat die ‚neue Wissenschaft‘ die Parameter für die ‚Erzeugung‘ des neuen Forschertypus zu schaffen. Diese Aufgabe verlangt nach einer Biologisierung, die nicht etwa vorhandene Geschlechterbinaritäten ‚benutzt‘, sondern diese ganz neu erstellt. Damit kommen wir zur Frage nach der Einlagerung von Geschlechtercodes in die Wissenschaft. Auf diese Frage gibt es zunächst eine einfache Antwort: Da ‚Weiblichkeit‘ mit der Entstehung der westlichen Wissens- und Geschlechterordnung als Code für Sexualität eingesetzt wurde, liegt es nahe, dass dieser Code auch herangezogen wird, um die neue Wissensordnung mit einer sexuellen Chiffre zu versehen und zu biologisieren. Anzeichen für eine geschlechtliche Aufladung von Wissensstrukturen durchsetzen nicht nur die Metaphorik der modernen Wissensordnung selbst, sie sind auch deutlich wahrzunehmen im Sprachgebrauch und den Bildern der modernen Kommunikations- und Speichersysteme, die diese Wissensordnung ermöglicht haben: Es genügt, an das Bild der ‚jungfräulichen Festplatte‘, an den ‚binären Code‘ und das ihm zugrunde liegende ‚Lochkartensystem‘ wie auch an die synthetischen Frauenstimmen zu denken, die das ‚Hochfahren‘ des Computers ankündigen.

Über die Art, wie sich die Einlagerung von Geschlechtercodes in einzelnen Wissensfeldern und theoretischen Diskursen vollzogen hat, geben die einzelnen Beiträge dieses [<< 20] Bandes Auskunft. Sie geben damit auch Auskunft darüber, dass diese Vorgänge durchaus analysier- und entzifferbar geworden sind – eine Tatsache, die sich ihrerseits als der Hauptmotor der Geschlechterstudien und ihres spezifischen ‚Wissensdrangs‘ bezeichnen ließe und mit dem Wandel der Geschlechterordnung, der sich in den letzten hundert bis hundertfünfzig Jahren vollzogen hat, unmittelbar zusammenhängt. Diese fand in neuen Theorien über den Geschlechtstrieb ihren deutlichsten Niederschlag, und – bemerkenswert genug – diese neuen Theorien entwickelten sich zeitlich parallel zum Wandel der Wissensordnung und zur allmählichen Aufnahme von Frauen in den Wissensbetrieb.

Der Diskurs über Weiblichkeit als Repräsentation des Sexualtriebs erfährt Mitte des 19. Jahrhunderts eine völlige Umkehrung, auf die schon der Schriftsteller und Sexual­forscher Henry Havelock Ellis (1859 – 1939) um 1900 in seinen Werken zur Sexualpsychologie aufmerksam gemacht hat.7 Ellis weist darauf hin, dass die Theorien zum Sexualtrieb über Jahrhunderte eine Konstante aufwiesen, laut denen der Sexualtrieb der Frau dem des Mannes weit ‚überlegen‘ sei. Er verweist auf den griechischen Mythos vom ‚Seher‘ Teiresias, der von Hera mit Blindheit geschlagen wurde, weil er das ‚Geheimnis der Frauen‘ verriet, laut dem der weibliche Geschlechtstrieb ‚neunmal höher‘ sei als der des Mannes. Ellis zitiert den römischen Dichter Juvenal, der schrieb, dass gewiss keine Frau Interesse daran haben könne, ein Mann zu werden, „denn wie klein ist seine Wollust verglichen mit der ihrigen“; und Ellis führt auch die wissenschaftlichen Theorien von Galen an, der die Ansicht vertrat, dass es für die Frau wegen ihres starken Sexualtriebs sehr viel schwieriger sei, im Zölibat zu leben, als für den Mann.8 Auf solchen Vorstellungen, die sich spielend zwischen Mythos und Wissenschaft bewegten, basierten die Vorkehrungen, die eine Domestizierung oder Neugestaltung des Weib­lichen im westlichen Denken vorsahen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts tauchen jedoch zunehmend ‚wissenschaftliche‘ Vorstellungen auf, die genau das Gegenteil behaupten. In England veröffentlicht Agton eine Schrift, in der er behauptet, dass die Annahme, „dass alle Frauen geschlechtlich empfinden, eine niedere Beschimpfung“ sei. Fehling in Basel erklärt, dass die Sexualität in der Liebe eines jungen Mädchens als „pathologisch“ einzustufen sei,9 während der deutsche Psychiater Näcke versichert: „Die Frauen sind im allgemeinen weniger sinnlich als die Männer.“ 10 Gewiss lassen sich solche Aussagen als das abtun, was sie waren: als ‚unwissenschaftlicher‘ Versuch, eine neue symbolische [<< 21] Geschlechterordnung zu etablieren. Nur ist erstens zu bedenken, dass diese Aussagen als ‚Wissenschaft‘ daherkamen, gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch verstärkt durch die Theorien hoch angesehener Wissenschaftler wie Richard von Krafft-Ebing, der in seiner ‚Psychopathia Sexualis‘ verkündet, dass „der Mann, welcher das Weib flieht, und das Weib, welches dem Geschlechtsgenuss nachgeht, abnorme Erscheinungen“ seien;11 und zweitens stellt sich die Frage: Warum entsteht diese neue Geschlechterordnung und worin besteht ihr Gewinn für die Etablierung der neuen Wissensordnung?

Die neue Wissensordnung ‚entdeckt‘ nicht nur die Überlegenheit des männlichen Geschlechtstriebs, sie stellt auch – zum ersten Mal seit der Geburt der abendländischen Wissensordnung – ausdrücklich den Zusammenhang zwischen Geschlechtstrieb und geistiger Aktivität her und pocht damit auch auf seine Rolle für die Weiterentwicklung des Wissens. Das mag zunächst wie ein Widerspruch zu der vorher entwickelten These klingen, dass das Ideal der Wissensordnung the scientist without a body, also erst recht der Wissenschaftler ohne Unterleib ist. Doch der Widerspruch löst sich bei genauerer Betrachtung. Die Zusammenführung von Geschlechtstrieb und Wissensordnung geschieht einerseits durch physiologische Theorien wie die von Charles Darwin und andererseits durch psychologische Erklärungsmuster wie die von Sigmund Freud. Beide theoretischen Schulen begründeten die ‚Überlegenheit‘ männlicher Geistigkeit – also Wissensfähigkeit – entweder mit der ‚Überlegenheit‘ des männlichen Sexualtriebs oder aber mit der ‚Männlichkeit‘ des Geschlechtstriebs selbst. Auffallend an der physiologischen Begründung ist die Berufung auf das Tierreich und die Natur. Waren bis hierher Wissenschaft und Wissensfähigkeit mit der Unterscheidung von Kultur und Natur begründet worden, so wird nun die Ähnlichkeit von ‚Männlichkeit‘ mit den Trieben der Tiere und Primaten betont, um ‚geistige Überlegenheit‘ zu erklären. Darwin vertritt die Ansicht, dass sich der Unterschied aus den intellektuellen Kräften der Geschlechter – der sich darin zeige, „dass der Mann in allem, was er beginnt, zu größerer Höhe gelangt, als es die Frau kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Phantasie oder den bloßen Gebrauch der Sinne und Hände erfordern“ –, dass sich dieser Unterschied also aus den Gesetzen der geschlechtlichen Zuchtwahl ableite. Laut diesen Gesetzen hätten unter den Männern der „halbmenschlichen Vorfahren des Menschen und unter wilden Völkern […] viele Generationen hindurch Kämpfe um den Besitz der Frauen stattgefunden“.12 Die psychologische Beweisführung Freuds ist anders, führt aber zu demselben Ergebnis. Auch Freud betrachtet die Libido als [<< 22] Voraussetzung für geistige und kulturelle Aktivität. Er macht zwar den Unterschied zwischen dem „Gelehrten“, der seiner Tätigkeit zuliebe auf Sexualität verzichten muss, und dem Künstler, der mit „abstinentem Lebenswandel“ nicht recht vorstellbar sei und dessen „künstlerische Leistung durch sein sexuelles Erleben mächtig angeregt“ werde. Aber ganz allgemein, so fügt er hinzu, habe er nicht den Eindruck gewonnen, „dass die sexuelle Abstinenz energische, selbständige Männer der Tat oder originelle Denker, kühne Befreier und Reformer heranbilden helfe“.13 Doch in jedem Fall – ob nun die Sexualität sublimiert wird oder nicht – bildet für ihn der Sexualtrieb die Grundlage des Wissensdranges. Diesen Sexualtrieb betrachtet er zwar einerseits als geschlechtsneutral oder geschlechtsübergreifend – er schreibt, dass „die Zusammenstellung weiblicher Libido jede Rechtfertigung vermissen lässt“.14 Andererseits sieht er die Libido symbolisiert im männlichen Genital, womit implizit auch über die geschlechtliche Zuordnung ‚des Sexualtriebs‘ entschieden ist. Wo er geistiger Tätigkeit bei Frauen begegnet, analysiert er diese folgerichtig als Aneignung ‚männlicher‘ Eigenschaften und männlicher Physiologie: „Der Wunsch, den ersehnten Penis endlich doch zu bekommen, kann noch seinen Beitrag zu den Motiven leisten, die das gereifte Weib in die Analyse drängen, und was sie verständigerweise von der Analyse erwarten kann, etwa die Fähigkeit, einen intellektuellen Beruf auszuüben, lässt sich oft als eine sublimierte Abwandlung dieses verdrängten Wunsches erkennen.“ 15

Die wissenstheoretische Verschiebung, die sich hier vollzieht, lässt sich umschreiben als die Einlagerung von Geschlechtlichkeit in die Wissensgeschichte und Wissenstheorie. Es handelt sich um eine sexuelle Aufladung der Wissensordnung, die, weil es sich um eine symbolische Zuordnung handelt, eben deshalb auch nicht dem Ausschluss der Geschlechtlichkeit aus der Wissensordnung widerspricht. Die beiden Vorgänge sind gewissermaßen die Kehrseiten ein und desselben Vorgangs, und dieser findet auf doppelter Ebene statt: Einerseits wird der männliche Trieb als Generator des Wissens und der Wissensfähigkeit beschworen – er schwebt gleichsam als deus ex machina in die Wissensordnung ein. Andererseits wird aber auch die Weiblichkeit in die neue Wissensordnung aufgenommen. Auch hier tut sich auf den ersten Blick ein Widerspruch auf, der sich jedoch löst, sobald man das Paradigma betrachtet, das sich dahinter verbirgt. ‚Der Sexualtrieb‘, von dem in der neuen Geschlechter- und Wissensordnung die Rede ist, ist ein Produkt der Wissenschaftlichkeit selbst, und auch [<< 23] hier – wie beim laborgerechten Forscher – handelt es sich um eine alte Phantasie, die mit den neueren Erkenntnissen der Wissenschaft in den Bereich des Realisierbaren rückt. Denn in dieser Zeit, in der sich diese ganzen Wandlungen, ja Umkehrungen, alter Ordnungen vollziehen, entstehen nicht nur die Reproduktionswissenschaften, sondern auch die Sexualwissenschaften, die einen von der Fortpflanzung unabhängigen Sexualtrieb postulieren, ebenso wie die Reproduktionswissenschaften das Ziel einer von der Sexualität unabhängigen Fortpflanzung verfolgen. Darüber hinaus gehen die Sexualwissenschaften auch davon aus, dass sich der Sexualtrieb rational und wissenschaftlich erfassen lasse, obgleich ausgerechnet dieser in den Denktraditionen der abendländischen Wissenswelt als der mächtigste und der Irrationalität, mithin der Unwissenschaftlichkeit, am nächsten stehende Trieb gilt. Genau dies, der Versuch einer rationalen und wissenschaftlichen Erfassung der Irrationalität, ist in den letzten hundert Jahren zu einem Leitgedanken vieler Wissensfelder geworden, und der Vorgang trug dazu bei, dass die modernen Industriegesellschaften ihre Angst vor den Mächten des Sexualtriebs verloren und fast alle Paragraphen aus ihren Gesetzbüchern gestrichen haben, die den Geschlechtsverkehr regulieren. Eine solche ‚Befreiung‘ der Sexualität von (fast) allen Fesseln ist historisch einmalig und hat es in dieser Form in keiner anderen Kultur gegeben. Indem der Sexualtrieb ‚berechenbar‘ geworden ist – und in dieser Hinsicht ist die Sexualwissenschaft nicht zu trennen von den anderen Erscheinungsformen eines der Macht der Berechenbarkeit unterworfenen Sexualtriebs, egal, ob dieser in Porno, Peepshow oder Prostitution, allesamt dem Zeichensystem des Geldes unterstehenden Systemen, seinen Ausdruck findet –, wurde er der rationalen Logik unterworfen und damit wissenschaftsgerecht. Er gehört nicht nur in die neue Wissensordnung, er dient sogar ihrer Durchsetzung und Legitimierung. Der Forscher ohne Unterleib ist versehen mit einem neuen Geschlechtsapparat.

Wir fassen zusammen: Die abendländische Wissensordnung beruht in doppelter Hinsicht auf einer symbolischen Geschlechterordnung: Einerseits konstituiert sie sich über den Ausschluss von Geschlechtlichkeit, symbolisch dargestellt am Ausschluss des weiblichen Körpers aus der Wissensordnung. Erst als sich in der symbolischen Geschlechterordnung das Paradigma entwickelt, dass der weibliche Körper ‚an sich‘ geschlechtslos sei – die Vorstellung schlägt sich u. a. in wissenschaftlichen Theorien des 19. Jahrhunderts über den ,reduzierten‘ weiblichen Geschlechtstrieb nieder –, gestattet die Wissensordnung die Aufnahme von Frauen. Andererseits konstituiert sich die Wissensordnung aber auch durch die ‚sexuelle Aufladung‘ von Wissensfeldern. Motor dieses Vorgangs ist ein ‚Sexualtrieb‘, der der Berechenbarkeit des ‚wissenschaftlichen Diskurses‘ unterliegt. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass das Geschlecht im 20. Jahrhundert jeden Anschein von Biologie verliert und immer mehr [<< 24] als ‚performativer Akt‘ begriffen wird.16 Allerdings muss diese Entwicklung auch in ihrer Historizität eingebettet werden, also als Erscheinungsform eines geschichtlichen Wandels der symbolischen Geschlechterordnung und eines ‚neuen Sexualtriebs‘, der als Basis der Wissensordnung verstanden wird.

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