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Metaphysik und Wissenschaft

Gehen wir nun zurück zum Ausgang der Überlegungen, dem Wandel der Wissensordnung, der von der Theologie als Leitwissenschaft über die Geschichte / Philosophie zu den naturwissenschaftlichen Fächern als Leitwissenschaften führte. Man könnte diesen Prozess als Ausdruck eines Säkularisierungsprozesses begreifen, der Entkirchlichung oder Verlust transzendenter Glaubensinhalte besagt. Dagegen spricht jedoch die Tatsache, dass auch die neue Wissensordnung zu ihrer Konstitution einer symbolischen Geschlechterordnung bedarf und in dieser ihre ‚Biologisierung‘ findet. Die Umkehrung ist also nicht so tiefgreifend, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Und zweitens spricht dagegen auch die Tatsache, dass die neuen Leitwissenschaften in mehr als einer Hinsicht die Nachfolge der alten Leitwissenschaften angetreten haben: Ihnen wurde das alte Projekt der Unsterblichkeit überantwortet. Es gibt also eine Linie, die direkt von der Theologie zur Naturwissenschaft führt – und ihre Entwicklung weist viele Parallelen zum Wandel der Geschlechterordnung auf.

In den modernen Naturwissenschaften verbindet sich die Scheu, das Metaphy­sische zu thematisieren, mit einer bemerkenswerten Bereitschaft, religiöse Bilder zur Charakterisierung der eigenen Errungenschaften zu zitieren. So etwa, wenn Stephen Hawking in A Brief History of Time schreibt, dass die Wissenschaftler „the mind of God“ enthüllen;17 und der Physiker George Smoot, der die ‚Big-Bang-Theorie‘ mit der „treibenden Kraft des Universums“ verglichen hat, fragt: „and isn‘t that what God is?“ 18 Leon Ledermann, Nobelpreisträger der Physik, nennt die subatome Einheit, von der er glaubt, dass sie über alles bestimmt, das „God particle“.19 Welcher historische Prozess verbirgt sich hinter dieser Berufung auf das Göttliche, die mit einem Schweigen über die Metaphysik einhergeht? Könnte es sein, dass sich das Schweigen über die [<< 25] ­Metaphysik mit der Tatsache erklärt, dass die der eigenen Forschung zugrunde liegenden Paradigmen, also die historische Dimension des eigenen Werdens, ausgeblendet werden sollen? Jedenfalls verweisen die Zitate darauf, dass die Ansiedlung des alten Projekts der Unsterblichkeit in den Naturwissenschaften nicht nur eine Phantasie von Laien, sondern auch der Wissenschaftler selbst darstellt. In jedem Fall scheint die Wanderung des Unsterblichkeitsprojektes in die Naturwissenschaften dazu beigetragen zu haben, dass sie zu den ‚Leitwissenschaften‘ geworden sind.

Dieser historischen Verlagerung von Glauben zu Wissen liegt eine dem Abendland eigene Bedeutung des Begriffs ‚Säkularisierung‘ zugrunde, die in dem christlich geprägten Kulturkreis etwas anderes impliziert als etwa in der jüdischen Tradition. In der christlichen Welt bedeutet der Begriff ‚Säkularisierung‘, der sich sprachlich von lat. saeculum in der Bedeutung von Geschlecht, Generation oder auch Zeitalter herleitet, zunächst den ‚weltlichen Menschen‘, der dem durch Priesterweihe oder Mönchsgelübde gebundenen ‚religiosus‘ gegenübersteht. Ab dem 16. Jahrhundert wird der Begriff saecularisatio von französischen Kirchenrechtlern und Juristen zur Bezeichnung des Übergangs eines Ordensgeistlichen in den weltlichen Stand benutzt. Später erweitert sich der Begriff zur Bezeichnung des Übergangs kirchlichen Eigentums in weltliche Hände. Erst im 19. Jahrhundert wird der Begriff ‚Säkularisierung‘ zu einer geschichtstheoretischen oder geschichtsphilosophischen Kategorie – nun aber mit einer ambivalenten Bedeutung, die Emanzipation aus der Bevormundung durch die Kirche bzw. Entkirchlichung besagt und zugleich auf eine ‚Verfallsgeschichte‘ verweist, mit der die schwindende Integrationskraft der Religion bzw. Entleerung religiöser Gehalte gemeint sind.20 Andererseits impliziert dieser Säkularisierungsprozess aber auch, dass in der christlich-abendländischen und scheinbar ‚nachreligiösen‘ Gesellschaft ein Prozess stattgefunden hat, der sich als ‚Weltwerdung‘ des Glaubens umschreiben ließe. Diese Entwicklung, die auch die Veränderung der Wissensordnung, d. h. die Verlagerung der Leitwissenschaft von Theologie zu den Naturwissenschaften (mit dem Umweg über Philosophie und Geschichte) erklärt, scheint ein Phänomen christlicher und nachchristlicher Denktraditionen zu sein. Das zeigt z. B. der Vergleich mit der jüdischen Religion, der die Gegenüberstellung von Glauben und Wissen, von Transzendenz und Handlung fremd ist. „Unter den Vorschriften des mosaischen Gesetzes“, so schreibt Moses Mendelssohn um 1800 (also in einer Zeit, in der der christliche Säkularisierungsprozess die in christlichen Ländern lebenden jüdischen Religionsgemeinden zu [<< 26] neuen Selbstdefinitionen zwang), „lautet kein einziges: du sollst glauben oder nicht glauben; sondern alle heißen: Du sollst tun oder nicht tun! Dem Glauben wird nicht befohlen, denn der nimmt keine anderen Befehle an, als die im Weg der Überzeugung zu ihm kommen.“ 21

Das Christentum hingegen, das zwischen Glauben und Vernunft unterschied, entwickelte ein mächtiges Bedürfnis, die weltliche Wirklichkeit den Glaubensgrundsätzen anzupassen. Für das christliche Denken stellte die Veränderung der Welt, der wahrnehmbaren Wirklichkeit eine religiöse Notwendigkeit dar. Nur so ließ sich der Abgrund zwischen Metaphysik und Physik, zwischen Geist und Körper überbrücken. Wissenschaft und Logik wurden vom Glauben an die Leine genommen. Deshalb begleitet die christliche Wissensgeschichte auch eine seltsame Paradoxie. Keine andere Religion der Welt hat die Erkenntnisse der Wissenschaft und der Vernunft so erbittert bekämpft und verfolgt wie die christliche. Zugleich hat aber auch keine andere reli­giöse Kultur so viele Wissenschaftler und wissenschaftliche Neuerungen hervorgebracht wie das Christentum.22 Das lässt sich nicht mit der Tatsache erklären, dass die Neuerer Häretiker gewesen seien. Das waren sie ganz entschieden nicht: Ein Gutteil der Neuerungen kam aus den Klöstern selbst; und auch außerhalb der kirchlichen Strukturen waren die Neuerer – bis tief in die Neuzeit hinein – zumeist gläubige Christen. Descartes zum Beispiel erklärte: „Die Philosophie ist wie ein Baum. Die Wurzeln sind die Metaphysik, der Stamm ist die Physik, und die Zweige sind die anderen Wissenschaften.“ 23 Er entwarf also das Bild einer Wissenschaft, die das Sichtbare (oder die Natur) als das Produkt oder Ergebnis des Unsichtbaren oder des Transzendenten betrachtete. Dennoch vergleicht er den menschlichen Körper mit einem Räderwerk,24 also einer Schöpfung des menschlichen Erfindergeistes. Damit machte er Gott, an den er als Schöpfer glaubte, zu einem idealen Mechaniker – d. h. zum ‚Ebenbild‘ des Menschen. Für Leibniz, auch er zutiefst gläubig, wurden Maschine [<< 27] und Uhrwerk sogar zu einer Art von Gottesbeweis: „So ist jeder organische Körper eines Lebewesens sozusagen eine göttliche Maschine oder ein natürlicher Automat, der alle künstlichen Automaten unendlich übertrifft […]. Aber die Maschinen der Natur, d. h. die lebenden Körper, sind noch in ihren kleinsten Teilen, bis ins Unendliche, Maschinen.“ 25 In diese Logik bezog er auch die Seele ein, von der er schrieb, dass sie „ein geistiger, bewunderungswürdiger Automat“ sei, der „durch göttliche Präformation erzeugt“ werde.26 Hinter einer solchen Vorstellung von ‚Wissenschaft‘, die den göttlichen Plan mit den Erfindungen des menschlichen Geistes und den Glauben mit wissenschaftlicher Neuerung in Eins setzte, steckte ein Neuerungsdrang, der dem Christentum eigen war und als eine Art von Dialektik zu verstehen ist, die dem aufeinanderfolgenden Ausschluss und Einschluss von Geschlechtlichkeit ähnelt: Gottfremdes Wissen wird zunächst ausgelagert und verfolgt, bis es zu einem Teil des christlichen ‚Heilsplanes‘ geworden ist. Diese Dialektik hat die christliche Wissensordnung von Anfang an begleitet und wirkt bis in die moderne Wissenschaft weiter, denn den Kern dieses ‚Heilsplans‘ bildet die Herstellung einer spezifischen, sich dem Prinzip der Berechenbarkeit verdankenden Wissensordnung. Dass ausgerechnet das Christentum, das stärker als irgendeine andere Religion auf dem Prinzip des Glaubens beruht – d. h. auf einem Prinzip, das der von der hard science gestellten Forderung nach ‚Verifizierbarkeit‘ widerspricht –, diese Dialektik vorangetrieben hat, ist nicht notwendigerweise ein Widerspruch, begreift man den ‚Glauben‘ als eine historische Triebfeder und die Wissensordnung als das Ziel dieses Triebs. Während Sexual- und der Todestrieb zu den Charakteristika des Individuums gehören, zeichnet sich die Triebstruktur des sozialen Körpers durch die Berechenbarkeit aus, und der deutlichste Niederschlag einer solchen Triebstruktur ist die Wissensordnung. Das Produkt dieses abendländischen Neuerungsdrangs bestand in einer Vorstellung von „Wissen“, die der Philosoph und Sozialwissenschaftler Cornelius Castoriadis als eine spezifische Idee von „rationalem Wissen“ bezeichnet hat:

„Die aufeinander folgenden Umwälzungen, die sich im ‚rationalen Wissen‘ aller bekannten Gesellschaften finden lassen, setzen stets einen grundlegenden Wandel des gesamten imaginären Weltbildes (und der Vorstellungen vom Wesen und Ziel des Wissens selbst) voraus. Die letzte dieser Umwälzungen, die vor einigen Jahrhunderten im Abendland stattfand, [<< 28] hat jene eigentümliche imaginäre Vorstellung geschaffen, der zufolge alles Seiende ‚rational‘ (und insbesondere mathematisierbar) ist, nach der der Raum des möglichen Wissens von Rechts wegen vollständig ausgeschöpft werden kann und wonach das Ziel des Wissens in der Beherrschung und Aneignung der Natur liegt.“ 27

Corpus fictum und organischer Körper

Die Art, wie Theologie, Säkularisierungsprozess und Etablierung der Wissensordnung ineinandergreifen, offenbart sich besonders deutlich an den wechselnden Theorien über den Körper. Diese werden zwar in jeder Epoche neu formuliert und dennoch zu unveränderbarer biologischer Wirklichkeit erklärt. Am deutlichsten wird das, wenn man die Bilder vom kollektiven (oder sozialen) Körper mit denen vom geschlechtlichen Körper vergleicht. Ganz unbestreitbar ist der soziale Körper ein imaginärer Körper: ein corpus fictum oder imaginatum, wie die Theologen die Kirche und die Juristen den Staat nannten.28 Durch die Analogie zum menschlichen Körper sollte dem imaginären sozialen Körper der Anschein von Unteilbarkeit und Leibhaftigkeit verliehen werden. Das heißt, der kollektive Körper hatte sich im individuellen zu spiegeln – und umgekehrt. Da sich aber die Bilder des corpus fictum von einer Epoche zur anderen veränderten, erfuhren auch die dazugehörigen medizinischen, biologischen und juristischen Konzepte des organischen Körpers immer wieder neue Definitionen.29 Das heißt, die Selbst-Konzepte des sozialen Körpers bestimmten über das ‚Wissen‘ von ‚dem Körper‘. Diese Spiegelbildlichkeit bildet eines der wichtigsten Scharniere zwischen der Geschichte der Wissensordnung und der Geschichte der Geschlechterordnung, und sie offenbart zugleich den engen Zusammenhang zwischen Physik und Metaphysik.

Die wandelbaren Bilder des corpus fictum hängen ihrerseits eng mit den medialen Techniken zusammen, über die eine Epoche verfügt und die das Gesicht und die Wissensordnung dieser Epoche prägen. Da die Medien sowohl über die Form der kommunikativen Vernetzung einer Gemeinschaft als auch über das gespeicherte Wissen ihrer Epoche bestimmen, sind sie auch ‚formatierend‘ für die Gestalt des sozialen Körpers [<< 29] und seines Spiegelbildes, des menschlichen Körpers. Deutlich ist die Interdependenz von Medien und Wissensordnung im Bezug zum Körper nachzuvollziehen an den aufeinanderfolgenden Vorstellungen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Als der elektrische Strom aufkam, wurde die Tätigkeit des Gehirns mit dem elektrischen Netz und Stromstößen verglichen; dieses Erklärungsmuster wurde abgelöst vom Bild des Telegrafennetzes, auf dieses folgte das Modell des Rechners, und heute beruft sich die moderne Hirnforschung gerne auf die Analogie zum Internet. Indem die Kommunikationskanäle und Übertragungsmechanismen, die Speicher- und Reproduktionssysteme über das kollektive Gedächtnis die Entscheidung darüber treffen, was als ‚wissenswürdig‘ zu gelten hat, verwalten sie auch die Art, wie eine Gemeinschaft als Körper ‚funktioniert‘. So entsteht eine Wechselwirkung: ‚Die Wissenschaft‘ erfindet Techniken, die ihrerseits über die Gestalt des sozialen Körpers bestimmen. Der soziale Körper wiederum bringt eine bestimmte Wissensordnung hervor, der das Wissen über den menschlichen Körper unterliegt.

Die Vorstellung von der Ähnlichkeit des sozialen und des menschlichen Körpers wirkt sich aus auf die Geschlechterordnung und die geschlechtlich codierte ‚Gestaltung‘ des Sozialkörpers. Ein Beispiel: Paulus beschreibt das Verhältnis von Christus und Glaubensgemeinschaft, indem er sich auf die Analogie von Gemeinschaft und Leib beruft: „Weil es ein einziges Brot gibt“, so sagt er, „sind wir Vielen ein einziger Leib.“ 30 Die einzelnen Gläubigen bezeichnet er als ,Glieder‘, die in Christus einen unteilbaren Körper bilden.31 In dieser Konstruktion ist Christus wiederum das ‚Haupt‘ der Gemeinde und diese sein ‚Leib‘.32 Diese Körpermetaphorik überträgt er auf die Geschlechterordnung und die Rolle von Mann und Frau in der ehelichen Verbindung. Ebenso wie Christus das Haupt der Gemeinde sei, so solle auch in der Ehe der Mann das Haupt der Frau und sie seinen Leib bilden. Paulus: „So sollen auch die Männer ihre Frauen lieben wie ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst.“ 33 Deutlicher als in diesem Bild eines Hauptes, das seinen eigenen Leib heiratet, lässt sich das Gesetz von der Unauflösbarkeit der Ehe, das von allen Religionen der Welt nur das Christentum kennt, kaum benennen. Augustinus übertrug diese Vorstellung auf das Verhältnis von Geist und Fleisch, das es zu domestizieren, aber nicht zu verachten gelte. „Hassen wir aber nun wirklich das Fleisch, wenn wir wünschen, dass es [<< 30] uns gehorche? In der Regel weist ein jeder in seinem Hause seine Gattin zurecht und macht sie gefügig, falls sie widerspenstig ist, aber er verfolgt sie nicht als seine Feindin.“ 34

Das Bild des Hauptes, das seinen eigenen Leib heiratet, wurde zu Beginn der Neuzeit von englischen Kronjuristen aufgegriffen, um das Verhältnis von Souverän und Reich zu charakterisieren; es wurde also aus der theologischen Sphäre in jene des Staates übertragen.35 Auch die sexuelle Codierung wurde übernommen: So wie Christus als ‚Bräutigam‘ der Glaubensgemeinschaft galt und der Bischof bei seiner Ordination zum sponsus der Kirche wurde – der Ring, den er über seinen Finger streifte, besiegelte die Ehe 36 –, so wurde im Spätmittelalter auch der König bei seiner Krönung zum ‚Gatten‘ des Reichs ernannt, zum maritus rei publicae.37 Diese Ehemetaphorik wirkte ihrerseits auf die Geschlechterordnung zurück und prägte die Vorstellung von der ‚Natur‘ der Geschlechterordnung.38 An das Haupt-Leib-Modell für Ehe und Gemeinschaft schlossen noch die Pädagogen der Aufklärung wie Theodor Gottfried von Hippel an, der 1774 schrieb: „Der Mann soll über das Weib herrschen wie die Seele über den Leib.“ 39 Solche Ehemetaphern verdankten ihre Überzeugungskraft der Tatsache, dass sie an die alte Dichotomie anschlossen, die Männlichkeit mit Geist und Weiblichkeit mit Leiblichkeit assoziierte. Und sie wirkten zurück auf die Wissensordnung.

Der soziale Körper als corpus fictum erschafft sich also im physiologischen Körper sein Spiegelbild – und umgekehrt. Genwissenschaftlich gesprochen könnte man auch sagen: Sozialer Körper und menschlicher Körper klonen sich gegenseitig – und zwar so, dass zuletzt niemand mehr weiß, welcher das Original und welcher die Reproduktion ist. Geleitet wird dieser Prozess von einer Wissenschaft, die das Produkt medialer Techniken ist, die sich ihrerseits wissenschaftlichen Errungenschaften verdanken. [<< 31]

Das heilige Gen

Dass in der christlichen und postchristlichen Gesellschaft eine enge Beziehung zwischen Wissenschaft und Metaphysik besteht, lässt sich am deutlichsten an den Wissenszweigen darstellen, die um ‚das Gen‘ entstanden sind. Das Gen ist als die Körper- und Wissenschaftsmetapher der Moderne zu bezeichnen, und nicht durch Zufall firmieren die Disziplinen, die genetische Forschung betreiben, inzwischen unter dem Namen ‚Lebenswissenschaften‘. In den Genwissenschaften verbinden sich ­mediale Techniken wie die Schrift, das Alphabet und der binäre Code 40 mit Wissen und religiösen Paradigmen, und diese spiegeln sich ihrerseits in den beiden Konzepten des Körpers wider, dem biologischen und dem sozialen. In den Genwissenschaften verbinden sich also die verschiedenen zur Etablierung der Wissensordnung notwendigen Faktoren – mediale Techniken, sozialer Körper, physiologischer Körper – und zugleich spiegeln sich in ihrer Geschichte die historischen Transformationsprozesse wider, die die Geschichte der Wissensordnung wie die Geschichte der symbolischen Geschlechterordnung durchlaufen hat.

Die Genforschung wird oft als Selbstermächtigung des Menschen interpretiert, als Versuch, sich göttliche Macht anzueignen, und in dieser Hinsicht als der christlichen Demut konträr beschrieben. Es lässt sich aber auch die gegenteilige These aufstellen: dass nämlich der Diskurs über das Gen in der christlichen Tradition selbst verhaftet ist und diese fortführt. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Genwissenschaft als Religion mit transzendenter Botschaft zu betrachten sei, sondern vielmehr, dass sie sich den Strukturen christlichen Denkens – und einem spezifisch christlichen Säkularisierungskonzept, das die Weltwerdung der Heilsbotschaft einfordert – verdankt. Ist Christus der Fleisch gewordene Logos, so geht es in der Wissenschaft vom Gen um das Biologie gewordene Bit. In beiden Fällen hängen die ‚Heilsbotschaften‘ eng mit den jeweiligen medialen Errungenschaften zusammen: Dem Christentum war die Erfindung des griechischen Alphabets vorausgegangen, der Genwissenschaft die Erfindung des binären Codes.

Nichts ist schwieriger zu definieren als das Gen, das als eine linguistische Fiktion begann, erfunden vom dänischen Genetiker Wilhelm Johannsen im Jahre 1909, um eine angenommene Zelleneinheit zu beschreiben, die bestimmte Eigenschaften [<< 32] hervorrufen kann. Johannsen übernahm den Begriff wiederum von dem deutschen Physiologen Hugo DeVries, der den Begriff des ‚Pangens‘ von Charles Darwins ‚Pangenesis‘ abgeleitet hatte: Mit Pangenesis (der Verweis auf die Bibel kommt nicht von ungefähr) war die Theorie über den Ursprung der biologischen Variation gemeint. Für die erste Generation der experimentellen Genetiker Anfang des 20. Jahrhunderts bezeichnete das ‚Gen‘ eine physische Eigenschaft – die Flügelform oder Augenfarbe der Fliege Drosophila zum Beispiel, die sich von einem (bis dahin nicht identifizierten) Substrakt von Erbmaterial herzuleiten schien. Heute begreift man DNS (aus der sich das ‚Genom‘ zusammensetzt) nicht als Vorgabe für eine bestimmte körper­liche Eigenschaft, sondern als eine Art von Interaktion der ‚Gene‘ mit sich selbst und dem weiteren Umfeld. Wie bei der Hirnforschung spielen auch bei diesem Wandel die neuen medialen Techniken – Computer und Internet – eine wichtige Rolle. Das moderne Konzept des Gens hat dazu geführt, dass der Körper selbst nicht als eine feste Gegebenheit betrachtet wird, sondern – vergleichbar dem Computer – als ein ‚Satz von Anweisungen‘, als ein ‚Programm‘, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. In ihrem Buch The DNA Mystique schreiben Nelkin und Lindee:

„Menschen sind die ‚Computerausdrucke‘ ihrer Gene. Wenn Wissenschaftler den Text entziffern und decodieren können, die Markierungen auf der Karte klassifizieren und Anweisungen lesen können, so die Vorstellung, dann werden sie auch die Essenz der menschlichen Wesen rekonstruieren, menschliche Krankheit und die menschliche Natur selbst entschlüsseln können, um so die letzten Antworten auf das Gebot ‚Kenne dich selbst‘ zu geben. Der Genetiker Walter Gilbert beginnt seine öffentlichen Vorlesungen über Gensequenzierung damit, dass er eine Kompaktdiskette aus der Tasche zieht und dem Publikum verkündet: ‚this is you‘.“ 41

Hic est corpus meum … Die Geste des Genetikers erinnert an die Worte des Priesters während der Messe, kurz nachdem die Glocke den Akt der Verwandlung von Hostie und Wein in Fleisch und Blut verkündet hat. Und tatsächlich lässt sich das undefinierbare Gen auch am besten mit der Hostie vergleichen, dem corpus christi mysticum, mit dem sowohl der Leib Christi, das ‚fleischgewordene Wort‘, als auch die Gemeinde der Gläubigen bezeichnet wird. Beide Funktionen hat das Gen übernommen. Das Gen ist Zeichen und Fleisch zugleich, eine Metapher für den individuellen und den kollektiven Körper, und es bietet das Versprechen einer fleischlichen Unsterblichkeit. [<< 33] Wie Hostie und Heiliges Abendmahl macht es das Göttliche ‚gegenwärtig‘, es birgt die Erlösung von der ‚Erbsünde‘ (erblicher Krankheit oder Behinderung); und wie bei der Transsubstantiation verspricht es magische Verwandlungen und ‚Wunderheilungen‘. Es ist die Leib gewordene Schrift. Mit der Gentechnologie, so schreibt Hans Jörg Rheinberger,

„wird das Labor, diese privilegierte Schmiede epistemischer Dinge, in den Organismus selbst verlegt und damit potentiell unsterblich, fängt sie doch an, mit der eigenen Schreibmaschine des Seins zu schreiben. Das größte Entzifferungsprojekt dieses Jahrhunderts, das Vorhaben, das menschliche Genom zu sequenzieren, ist auf den Weg gebracht – auf den Weg des Biochip.“ 42

Allein die Tatsache, dass es sich um einen Vorgang des Sequenzierens handelt, verweist auf die Buchstabenkette des Alphabets, und Genwissenschaftler selbst sprechen von der ‚Entzifferung‘ der genetischen Zusammensetzung oder dem Alphabet des Genoms. So wie die Buchstaben des Alphabets eine eigene historische Wirkungsmacht entwickel­ten,43 so verspricht auch dieses ‚Programm‘ den Körper zu verwandeln.

„Die Schrift des Lebens ist in den Schriftraum des Labors transponiert, zum epis­temischen Ding gemacht, in die Welt der mittleren Dimensionen geholt, in denen unsere Sinnesorgane operieren. Der Biologe, als Forscher, arbeitet nicht mehr mit den Genen der Zelle – er weiß ebensowenig wie jeder andere, was das ‚wirklich‘ ist – er arbeitet mit experimentell in einem Repräsentationsraum produzierten Graphemen. Wenn er wissen will, was sie bedeuten, hat er keine andere Möglichkeit, als diese Artikulation von Graphemen durch eine andere zu interpretieren. Die Interpretation eines Sequenzgels kann nie etwas anderes sein als ein weiteres Sequenzgel.“ 44

Genetiker selbst vergleichen das Gen manchmal mit ‚der Bibel‘, dem ‚Heiligen Gral‘, dem ‚Buch des Menschen‘.45 Es erscheint wie ein sakraler Text, der über die Schö [<< 34] pfung der Natur wie über die moralische Ordnung bestimmt. Manchmal wird das Gen auch mit einem ‚Wörterbuch‘, einer ‚Bibliothek‘, einer ‚Karte‘, einem ‚Rezept‘, einem ‚Referenzwerk‘ verglichen. Auch Christus ist Gral, Buch, Bibel und Speise zugleich. Ebenso wie Christus Gott und Mensch, unsichtbar und dennoch materiell ist, verbinden sich auch in DNS Kultur und Natur, Zeichen und Fleisch. In den Worten von James Watson, Nobelpreisträger und ehemaliger Leiter des Human Genome Project, ist das ‚Schreibprogramm‘ DNA „what makes us human“.46 Daher haben Abtreibungsgegner DNS auch als „the letters of a divine alphabet spell(ing) out the unique characteristics of a new individual“ bezeichnet.47

Gibt es – dank des Gens – eine biologisch definierte ‚Erbsünde‘, so ist das Gen auch dazu da, vergleichbar der Hostie, die Absolution zu erteilen: eine Erlösung von der Schuld. Wenn es die Gene sind, die über Verhalten und Handlungen bestimmen, so kann der Mensch nicht dafür zur Verantwortung gezogen werden. Die Kirche behielt sich das Recht vor, den ‚Sünder‘ nicht in geweihter Erde zu bestatten und ihm damit auch das Recht auf Auferstehung und ewiges Leben zu verweigern. Der Genetiker Francis Crick sagt: „No newborn infant should be declared human until it has passed certain tests regarding its genetic endowment […]. If it fails these tests, it forfeits the right to live.“ 48

Schon die Eugeniker der Jahrhundertwende sprachen von einem „Körperex­trakt“, dem „Beständigkeit bis zur Unsterblichkeit“ eigen sei.49 „Das ewige Leben“, schrieben die amerikanischen Eugeniker Paul Popenoe and Roswell Hill Johnson in den 1920er-Jahren, „ist mehr als eine Metapher oder ein theologisches Konzept.“ Der Tod einer riesigen Agglomeration hochspezialisierter Zellen habe wenig Bedeutung, sobald das Keimplasma weitergegeben worden sei, denn es enthalte „die Seele selbst“ des Individuums.50 Das hatte Folgen: Anfang dieses Jahrhunderts führte die Zeugung und Züchtung von „wertvollem Erbgut“ in den USA zu den sogenannten Better Babies ­Contests. Auf einem Foto ist die Gewinnerin des Wettbewerbs von 1914 zu sehen: die sechs Monate alte Virginia June Nay, nackt auf dem Boden vor einem Bündel Getre [<< 35] ideähren sitzend.51 Diese Bildgestaltung erinnert nicht durch Zufall an mittelalterliche Darstellungen von Christus: Die Kornähren neben dem Abbild des Erlösers verwiesen auf das Brot, die Hostie: den Leib des Herrn als Speise, die Unsterblichkeit verleiht. Bei den Eugenikern hatte das ‚unsterbliche Erbgut‘ diese Funktion übernommen. Better Crops war das Schlagwort, unter dem für verbesserten Nachwuchs geworben wurde.

Prämiert wurde auf den Better Babies Contests nicht etwa die Schönheit des Kindes, sondern seine Übereinstimmung mit Durchschnittsnormen wie Körpergröße, Wachstum etc., das heißt, es ging um Maßstäbe und Normen, um den Kanon selbst. „Hässliche Babys konnten Preise gewinnen. Das einzige, das zählte, waren die objektiven Maße. Für jede Abweichung von der Norm in Größe, Entwicklung oder Gestalt wurden Punkte abgezogen.“ 52 So wird die Norm selbst zum ,heiligen Text‘, zu einem dem Körper eingeschriebenen Kanon. Im säkularen Kontext tritt an die Stelle des ‚Heiligen‘ bzw. der ‚Sünde‘ ‚normal‘ und ‚deviant‘, die wiederum mit ‚natürlich‘ und ‚unnatürlich‘ gleichgesetzt werden. Auf diese Weise wurde die Eugenik zu einer ‚civil religion‘, in deren Zentrum das ‚sakralisierte Kind‘53 steht: ein Topos, der seinen christlichen Ursprung kaum verleugnen kann.54 Mit der Genwissenschaft taucht schließlich auch der Gedanke einer ‚geschlechtslosen‘ Konzeption auf, deren christliche Herkunft kaum zu übersehen ist. Dank der In-vitro-Fertilisation ist die ‚Jungfrauengeburt‘ heute nicht mehr religiöses Dogma, sondern praktizierte Medizin, die bereits bei Frauen durchgeführt wurde, die noch nie Geschlechtsverkehr hatten.55

Mit anderen Worten: Geistesgeschichtlich gesehen bilden viele Fortschritte der Neuzeit und wissenschaftliche Neuerungen keinen Gegensatz zu theologischen Diskursen, sondern geradezu deren Realisierung. Diese Erkenntnis tritt am deutlichsten zutage, wenn man die Geschichte der Wissensordnung mit der Geschichte der symbolischen Geschlechterordnung vergleicht. Das bedeutet weder das Ende der ‚fruchtbaren Ehe‘ von Wissen und Glauben noch stellt es die Bedeutung wissenschaftlicher Errungenschaften in Frage – es impliziert vielmehr einen Erkenntnisvorgang, bei dem Wissensordnung und symbolische Geschlechterordnung auf ihre Überlagerungen und Verflechtungen untersucht werden müssen. Genau das ist das Anliegen dieses [<< 36] Buches: eine Untersuchung der Rolle, die die Kategorie ‚Geschlecht‘ für die Eta­blierung theo­retischer Diskurse sowie für die Wissensordnung insgesamt gehabt hat und weiterhin hat. Dabei rücken auch die Neuen Medien, die wie die Geschlechterstudien eine ‚Querschnittswissenschaft‘ sind, in den Blickpunkt des Interesses: Die Geschichte der Wissensordnung hängt eng mit der Geschichte medialer Vernetzungen und Speichersysteme zusammen. Eben dieser Zusammenhang wird jedoch von der Wissensgeschichte ausgeblendet, so als gelte es die ‚Ursprünge‘ oder die Triebkraft der Wissensordnung zu verbergen. Die symbolische Geschlechterordnung offenbart die historische Wirkungsmacht der Medien über die Wissensordnung, hat doch jede mediale Neuerung im Abendland auch eine Veränderung der symbolischen Geschlechterordnung zur Folge gehabt.

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