Kitabı oku: «Hartmann von Aue», sayfa 8
3.2. Narrativität
Das kritische Urteil der älteren Forschung über Hartmanns Lyrik, sie sei „zu glatt, zu kalt, zu hell“ (vgl. Haustein 2011:85), wurde immer wieder mit der Beobachtung verbunden, dass Hartmann in seiner Lyrik erzählt. Im Mittelpunkt dieser Beobachtung stand stets Lied XV (MF 216,29, vgl. Johnson 1999:150). Vor dem Hintergrund der neueren Forschung zum Phänomen lyrisch-narrativer Interferenzen (vgl. Haustein 2011:86–89), die auch andere Texte auf der Grenze zwischen Lyrik und NarrationLyrik und Narration unter diesem Gesichtspunkt in den Blick genommen hat, kann vielleicht ein der hartmannschen Lyrik eigener Charakter präziser (und positiver) beschrieben werden. Denn nicht nur in Lied XV wird erzählt, sondern in vielen anderen Liedern auch. Sie erzählen kleine, abgekürzte Geschichten, die in Zeit und Raum eingespannt sind und in denen die Figuren des Ich und der Dame über die sie betreffenden Zusammenhänge erzählend nachdenken, Zusammenhänge, die im Roman zumeist den Erzähler interessieren.
Schon über Lied I (MF 205,1) spannt sich ein Zeithorizont auf, der von der frühesten Jugend des Ich (MF 206,12 und 18) bis in die eigene Gegenwart, ja bis in dessen Alter (MF 205,23) reicht. Das Lied setzt also als Fixpunkte einer nicht auserzählten Geschichte einen Anfang und ein Ende eines ‚Helden‘ wie in einem Roman und imaginiert so auch eine „Evidenz des Körperlichen“ (Wenzel 2013:90). Diese Zeitstruktur wird mit dem Motiv des Wandels verbunden, deutet also auch so ein Vorher und ein Nachher an: vil wandels hât mîn lîp unde ouch der muot (MF 205,12) oder grôz was mîn wandel (MF 205,24). Was diesen Wandel verursacht hat, erfahren wir freilich nicht, nur dass dieser auf Seiten des Ich zum Verlust an Zeit geführt hat (MF 205,6f.). Stellt der in Strophe 3 erwähnte Tod des Dienstherrn eine andere kleine, nicht erzählte Geschichte dar? Strophe 5 fasst die Minnereflexion des Ich „in einem beinahe erzählenden Ablauf zusammen“ (Cormeau/Störmer 32007:84). Das Thema ‚Zeit‘ durchzieht auch Lied III (MF 207,11) „wie ein roter Faden“ (Reusner 1985:104f.). Angedeutet wird eine Geschichte vom zunächst fast trotzig an den Tag gelegten Wankelmut Minnesangdes Ich, den dieses späterhin bereut, um wenigstens in Gedanken zu seiner Dame zurückzukehren. Diese Geschichte hat sich übrigens, wie der explizite Bezug ausweist, nach dem Erleben, von dem Lied II (MF 206,19) berichtet, ereignet. Mehrere Lieder sind durch Vor- und Rückgriffe strukturiert: In Lied VII (MF 211,27) wird ein zukünftiges Glück angekündigt, in Strophe 2 eine kleine Geschichte von Untreue angedeutet, die in Strophe 3 als Voraussetzung des in der ersten Strophe angekündigten neuen Glücks fungiert. Ähnlich ist Lied XV (MF 216,29) gebaut: Erst die abschließende dritte Strophe berichtet von einer Erfahrung, die zeitlich vor der Situation der ersten Strophe liegt und aus der heraus ‚Hartmann‘ nicht mehr zu den ritterlîche[n] vrouwen gehen will (MF 216,32). Und auch in Lied XVI (MF 217,14) dominiert das Thema ‚Zeit‘, wenn dort ein früheres Glück, jetziger Schmerz und die Aussicht auf eine traurige Zukunft thematisiert werden. Lyrik und Narration
Auffälligerweise arbeiten gerade die Lieder mit einer Zeitstruktur auch mit oft nur angedeuteten Raumvorstellungen. Das gilt etwa für Lied IV (MF 209,5), in dessen Verlauf Strophe 1 eine Zeit- und Strophe 2 eine darauf bezogene Raumstruktur stiftet. In Lied VIII (MF 212,13) wird das Moment der räumlichen Ferne explizit mit Gegenwart und Zukunft verbunden und auf die Gefahr einer möglichen Untreue bezogen. Das in seiner Echtheit umstrittene Lied XII (MF 214,34) verbindet in der ersten Strophe das Motiv der Ferne mit dem des Dienstes, der in diesem sumer (MF 214,38) geleistet werden soll. Und auch die in den Handschriften Hartmann zugewiesene Strophe 3 erzählt ganz in der Art der anderen Hartmann-Lieder eine Geschichte vom wandel (zehant bestuont si ein ander muot, MF 217,4), die in eine Zeit- (êrste rede…ie…zehant…nien…iemer) und Raumstruktur (nâhen…in mac von ir niht komen) eingebunden ist (Strophe 4 und 5 sind eher begrifflich orientiert und auf das Thema ‚Leid‘ bezogen). Lyrik und Narration
Die eingangs erwähnte Einschätzung der hartmannschen Lyrik als ‚didaktisch‘, ‚sentenziös‘ oder ‚intellektuell‘ könnte man aus der Perspektive der Gattungsdifferenzen als Folgen einer erzählerischen Grundhaltung im Lied interpretieren. Die Lieder werden von einem ErzählerErzähler / Erzählinstanz erzählt, der nicht auftritt bzw. sich hinter dem erzählenden Ich verbirgt. Lied IX (MF 212,37) deutet in einem Vers von Strophe 1 (MF 213,2) eine kleine Verführungsgeschichte durch list an, erzählt in Strophe 2 einiges über die Macht der Worte und isoliert in Strophe 3 die erzählende Dame dadurch, dass der Blick auf andere Handlungsoptionen freigegeben wird. Lied XIV (MF 216,1) erzählt die Geschichte eines Dilemmas und lässt uns an den anschließenden Reflexionen über unterschiedliche Handlungsoptionen teilhaben. Die Dame wird im Ergebnis dieses Denkprozesses die Minnesangrigiden Normen ihrer vriunde unterlaufen, indem sie ihnen zwar zu gehorchen scheint, tatsächlich aber ein unerlaubtes Liebesverhältnis beginnen will. Die Voraussetzung dafür ist zum einen die Diskretion des Mannes und zum anderen die Klugheit der Dame, mit der sie genau der Zwickmühle (das getilte spil, MF 216,8f.) entkommen wird, in die auch die Romanfiguren Enite (HaEr 3153–3155) und Iwein (HaIw 4872f.) geraten sind. Umgekehrt vertraut sich in Lied XIII (MF 215,14) das männliche Ich einer Frau an, deren wîplichen Verstand (sin) es als Voraussetzung dafür akzeptiert, dass dem herze auch dann kein Leid geschieht, wenn der lîp in der Ferne ist. Diese erzählerisch entfaltete Reflexion mündet unversehens in eine kleine Genreszene von Abschied und Erhörtwerden, in der im Grunde alle narrativen Möglichkeiten, die dem Lyriker zur Verfügung stehen, zusammengeführt werden: Erinnert wird aus der Ferne ein angedeutetes, aber nicht auserzähltes Erlebnis, das zeitlich zurückliegt. Lyrik und Narration
Die zum Ende des 12. Jahrhunderts entwickelten lyrischen Sprechweisen, die auf Präsenz und Gegenwärtigkeit zielen – das Leid des Mannes, das im Lied ‚vorgeführt‘ wird, ist jetzt und immer und die Abweisung der Dame zeitlos – werden in den hartmannschen Liedern zum einen oft mit einer ‚wenn-dann‘-Konstruktion auf ihre ‚logischen‘ Bedingungen hin geprüft, zum anderen narrativ angereichert. Hartmanns Lieder haben selbst im performativen Akt des Vorsingens einen reflektierenden und erzählerischen Überschuss, was man ihnen in der Forschung, die erzählerische Züge offenbar nicht in ihren ‚lyrischen‘ Lyrikbegriff integrieren kann, oft genug angekreidet hat, wohingegen sie von Autoren des 13. Jahrhunderts geschätzt wurden (Wolf 2007:124, vgl. → Kap. 12.). Sie ereignen sich erzählend in Raum und Zeit und sind dabei reflexiv aufgebaut, was auch Hartmanns „Vorliebe für kausale und konditionale Nebensätze“ (Brackert 1969:174) oder für axiomatische Liedanfänge (Salmon 1971:814) erklärt. Indem die Geschichten andeutend erzählt werden und die Figuren entweder ihre Situation bedenken und entsprechend schlussfolgern oder ein Erzähler dieses tut, werden auch die Grundbedingungen des Minnesangs bedacht. Reflexion und Erzählung bleiben dabei eng aufeinander bezogen. Hartmanns Lieder stammen von einem der bedeutendsten Erzähler der Zeit um 1200, der gerade dadurch, dass er das andeutende und reflexive Erzählen in die Lyrik brachte, neue Ausdruckformen für diese schuf. Lyrik und NarrationMinnesang
Weiterführende Literatur: Mit Gewinn zu benutzen ist von Reusners Ausgabe von 1985 mit Übersetzung und Verzeichnis der älteren, entweder philologisch oder biographisch orientierten Literatur, die hier im Literaturverzeichnis nicht wiederholt wird. Für metrische und philologische Fragen ist immer noch der Kommentar von Carl von Kraus 1939 sowie Reusner 1984 nützlich. Bei Seiffert 1968 steht der Zusammenhang mit den Erzählwerken im Vordergrund; Salmon 1971 und Urbanek 1992 behandeln die rhetorische Anlage der Lieder; Blattmann 1968 ist für viele Einzelaspekte wichtig; Kühnel 1989 für Fragen der Überlieferung. Neuere Ansätze bieten Haustein 2011 zu Zeit- und Raumstruktur, Wenzel 2013 zu Fragen der Inszenierung der Lieder und Reichlin 2014 zu den Kreuzliedern.
4. Ein Streitgespräch im Schnittpunkt der Diskurse: ‚Die Klage‘
Susanne Köbele
Abstract: Hartmanns ‚Klage‘ ist ein performativ gerahmtes, rhetorisch brillantes Streitgespräch zwischen den personifizierten Ich-Instanzen Herz und Leib. Eine Besonderheit des Textes liegt darin, dass mit ihm heterogene Gattungs- und Wissenstraditionen zusammengeführt werden: romanische Lyrik, Minnesang, allegorische Minnelehren, lateinische Leib-Seele-Streitdialoge, Psychomachie. Achtet man auf diese Verschränkung volkssprachlich-höfischer und gelehrt-lateinischer Diskurse, wird die ‚Klage‘ zu einem spannungsreichen Text, der vom epochalen Minnethema aus Spielräume und Grenzen literarischer Ich-Konstitution auslotet. Leib und Herz – untrennbar zusammengehörig, aber unüberbrückbar getrennt – bleiben mit ihren Ansprüchen bis zum Schluss asymmetrisch zueinander. Der Beitrag arbeitet exemplarisch Aspekte dieser grundsätzlich gestörten Innen-Außen-Kommunikation heraus und zeigt, dass es v.a. Zeitaporien sind (das stæte-Dilemma des Hohen Sangs), die das Ich in allusive Grenzbereiche zwischen christlicher Leib-Seele-Anthropologie und höfischem Minnedienst-Ethos führen.
4.1. ‚Klage‘, ‚Büchlein‘, Streitgespräch? Aspekte der Überlieferung und Gattungszuordnung
Zusammen mit dem ‚Erec‘ gilt die ‚Klage‘, ohne dass sich das sichern ließe, als Frühwerk Hartmanns. Zwischen Textentstehung (um 1180/1200) und uns einzig greifbarer Textüberlieferung (um 1504 im Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch, Handschrift A) liegen rund dreihundert Jahre. Entsprechend schwierig sind angesichts der unikalen und späten Überlieferung alle Versuche der Herstellung eines autornahen Textes. Die Neuedition der ‚Klage‘ durch Gärtner (2015) kehrt für Metrik und Sprachform möglichst weit zur Überlieferung zurück (zu den vorausgehenden Editionen der ‚Klage‘ Gärtner 2009, ders. 2015:XIV–XXII) und erleichtert das Verständnis des vielfach dunklen Textes durch eine Fülle hilfreicher Anmerkungen.
Die Forschung versteht Hartmanns ‚Klage‘ als in ihrer Zeit isoliertes Gattungsexperiment. Uneindeutig zwischen lyrischen und narrativen Sprechakten angesiedeltLyrik und Narration, ist das rund 1900 Verse umfassende StreitgesprächStreitgespräch / disputatio ein signifikantes Beispiel dafür, wie die mittelhochdeutsche Literatur zur Gestaltung innerer Konflikte die widerstreitenden Tendenzen einer Figur in Form allegorischer PersonifikationenPersonifikation / Allegorie auslagern und selbstwidersprüchlich vervielfältigen kann. Schon der Prolog spielt ein Spiel mit verschiedenen Formtraditionen. Der Text beginnt topisch mit einer Sentenz über die Allmacht der Minne: Minne waltet grôzer kraft, / wande sî wirt sigehaft / an tumben und an wîsen, / an jungen und an grîsen (HaKl 1–4). Wenige Verse später kommt er beim konkreten Einzelfall an. Einen jungelinc habe die Minne überwältigt (HaKl 7) – in der autobiographischen Inszenierung auktoriale Selbstdarstellungdes Textes ist es Hartmann von Aue selbst (HaKl 29f.) –, doch weise ihn die Dame trotz stetem Dienst zurück. Nach außen zur Verschwiegenheit verpflichtet, klagt er sein Leid dem muote, seinem Inneren: er klagete sîne swære / in sînem muote / […]. daz waz von Ouwe her Hartman, / der ouch dirre klage began / durch sus verswigen ungemach (HaKl 24–31). Damit ist die Situation exponiert. Der knappe Erzähleingang variiert eine klassische Minnesang-Situation: Minnesang
dô sî im des niht engunde
daz er ir wære undertân,
sî sprach, er solde sîs erlân.
Doch versuochte erz ze aller zît.
disen kumberlîchen strît
entorste er nieman gesagen;
dar umbe wolde ern eine tragen,
ob er sî des erbæte
daz si sînen willen tæte,
daz ez verswigen wære. (HaKl 14–23)
Aber sie gewährte ihm nicht, daß er ihr Gefolgsmann würde, sie sagte, er solle sie mit seinem Dienst verschonen. Trotzdem versuchte er es unablässig. Von diesem leidvollen Konflikt wagte er niemandem zu erzählen; er wollte ihn deswegen allein ertragen, damit, wenn er von ihr erbäte, dass sie nach seinem Willen handelte, dies verschwiegen bliebe.
Dieser diskret als „Reden um des Schweigens willen“ (Gebert 2019:147) ins Innere verschobene Klagemonolog wird unüberhörbar als hochminnesängerische Konstellation eingeführt (HaKl 14–17). Doch er wird gerade nicht lyrisch, sondern narrativ entwickeltLyrik und Narration, im Erzählgestus und Erzählmetrum vierhebiger Reimpaarverse. In der Folge wird er dann außerdem gar nicht als monologische Klage umgesetzt, sondern als Dialog, genauer: als StreitgesprächStreitgespräch / disputatio zwischen Herz und Leib, und dieses dialogisch inszenierte Selbstgespräch kommt ganz ohne Erzähler aus. Stattdessen kann das personifizierte Herz mitten im Streit einen veritablen Natureingang improvisieren (HaKl 821–848), eine lyrische herzeklage im Reimpaarvers. Schließlich, nach rund 1600 paargereimten Dialogversen, verlässt überraschend der Leib die Kontroverse, um im Auftrag des Herzens als Minnesänger vor die Dame zu treten (HaKl 1645–1914). In direkter Anrede an die Dame trägt er das gemeinsame Minneanliegen in fünfzehn kreuzgereimten Strophen vor. Deren Umfang nimmt (die lückenhaft überlieferte 6. und 7. Strophe ausgenommen) kontinuierlich um jeweils ein Verspaar ab, von 32 Versen der ersten Strophe bis zu schlanken vier Versen der letzten Strophe, wobei je zwei Verse zusammengenommen einen alten Langzeilentypus ergeben, der als sogenannte Vagantenzeile in mittellateinischen und mittelhochdeutschen Texten der Zeit weit verbreitet ist.
Die Vielschichtigkeit, mit der Hartmanns nach innen wie nach außen gerichteter Dialog episch-lyrische Formzitate einspieltLyrik und Narration, ist historisch neu. Bereits der Prolog spielt mit Gattungs- und Diskursinterferenzen. Er kündigt eine „Klage“ an (dirre klage, s.o. HaKl 30), was wir weniger als konkretes Gattungssignal verstehen sollten (complainte) als vielmehr im Sinn eines allgemeinen minnelyrischen Sprechakts des Klagens, der schon im MinnesangMinnesang höfische Liebezwischen Liebes- und Rechtsdiskurs schillert und im bekannten Doppelsinn von planctus (Wehklage) und accusatio (Anklage) auch den Sonderfall der Selbstanklage einschließen kann. Gleichzeitig nimmt der Begriff des strît (s.o. HaKl 18), mit dem der Prolog den Widerspruch zwischen stetem Dienst des jungelinc und steter Dienstverweigerung der Dame benennt, die Form des StreitgesprächsStreitgespräch / disputatio implizit vorweg, ähnlich wie die um 1505 von Hans Ried im Ambraser Heldenbuch vermerkte Werküberschrift ‚Disputatz‘ den Text an die Form einer gelehrten Kontroverse anschließt. Der ‚Disputatz‘-Werktitel, mit dem Ried hier die Komplettierung des Hartmann-Corpus in seiner Handschrift erläutert, heißt vollständig: Ein schoene Disputatz Von der Liebe so einer gegen einer schoenen frawoen gehabt vnd getan hat (Bl. 22r → Abb. 4.1., dazu Gärtner 2015:1); der Titel ruft also im selben Atemzug auch den ästhetischen Anspruch des Textes, das Rahmenthema Minne und einen narrativen Hintergrund auf. Diese schillernde Vielfalt bereits historischer Titelgebung ist kein Zufall, und sie wiederholt sich mit wechselnden, kontrovers diskutierten Versuchen der Gattungszuordnung durch die ‚Klage‘-Forschung.
Abb. 4.1.
Überschrift zur ‚Klage‘ im Ambraser Heldenbuch (A) (Detail)
Die ältere Forschung hat den Text wenig geschätzt und überwiegend als Minnedidaxe Lehrdichtungaufgefasst, als ein auf Ausgleich und Integration bedachtes minnetheoretisches Frühwerk Hartmanns, das dessen episches und lyrisches Werk eher beiläufig flankiere. Anders als im komplexeren Fall von Hartmanns Liedern könne die ‚Klage‘ „fraglos, und ohne dass latente Spannungen spürbar werden, innerhalb der gegebenen Ordnungen bestehen“ (so noch Glier 1971:23). Doch schon in formaler Hinsicht ist die Rahmung des dialogischen Hauptteils durch Prolog und Schlussgedicht ungewöhnlich. Die Wechselrede selbst variiert zwischen längeren Redebeiträgen von bis zu 500 Versen und stichomythischem Sprecherwechsel, wobei sich aggressiver und kooperativer Redemodus nicht immer eindeutig voneinander abheben lassen. Entsprechend vielfältig fallen die Versuche der ‚Klage‘-Forschung aus, den Text als diskurs- und gattungsübergreifendes Experiment zu beschreiben: als Übergangsform zwischen der augustinischen Tradition des Soliloquiums, das mit seiner Form der Selbstverdopplung besonders einschlägig sei, „intrapersonale Widersprüche und Aporien zu benennen und aufzulösen“ (Hess 2016:122), lateinischen Leib-Seele-DialogenLeib-Seele-Dialog der ‚Visio Fulberti‘-Tradition ‚Visio Fulberti‘(altercatio, disputatio, conflictus; vgl. Bossy 1976) sowie der scholastischen disputatio-Tradition (zum „Gattungsproblem“ bereits Gewehr 1972).Streitgespräch / disputatio Das dialogische Auseinandertreten von Leib und Herz des (Sänger-)Ich findet sich darüber hinaus auch im kontemporären Minnesang (bereits Glier 1971:22; Parallelen zum lateinischen und romanischen Streitgespräch débat oder dit bei Kasten 1973; zu inhaltlichen Berührungen der ‚Klage‘ mit Hartmanns Liedern → Kap. 3.1.3. und 3.1.4.), auch dort mit auffällig rekurrentem Motiv der Selbstanklage. Nahe liegen außerdem die Tradition des Liebesbriefs (saluts d’amour, ‚Büchlein‘-Tradition) und der heterogene Bereich der sogenannten Minnerede (Glier 1971:20, fasst die ‚Klage‘ als in ihrer Zeit eigentümlich isolierten Minnereden-„Vorläufer“). Moriz Haupt, der die erste vollständige kritische Edition des Textes vorlegte (1842), gab dem Werk den Titel ‚Büchlein‘, was später auch die Edition von Arno Schirokauer (1979) übernahm, Ludwig Wolff (1972) hingegen edierte den Text als ‚Das Klagebüchlein‘. Dieser Titel stelle, so Gärtner (2015:XVIII), „einen Kompromiss zwischen Haupts Gattungsbezeichnung ‚Büchlein‘ und der inhaltlichen Bestimmung klage in V. 30 des Prologs dar“.
Die Forschung ist sich mittlerweile einig, dass die ‚Klage‘ als uneindeutiges Geflecht aus unterschiedlichen Traditionssträngen zu beschreiben sei, für das keine konkreten Prätexte aus der deutschen, französischen oder lateinischen Literatur der Zeit nachgewiesen werden können. Zwar ist Hartmanns ‚Klage‘ ohne diese Kontexte der romanisch-frühhöfischen Literatur und lateinisch-klerikalen Liebes- bzw. Wahrnehmungstheorie nicht denkbar. Die Suche nach Vorlagentexten blieb gleichwohl bis heute ohne greifbare Ergebnisse. Die Quellen von Hartmanns Text „liegen im Zwielicht“, so bereits Cormeau/Störmer (32007:105). Am experimentellen, transgenerischen Status des Textes hält die jüngste Forschung fest, etwa Hess (2016), die die Übertragung des augustinischen Soliloquium-Modells Augustinus, ‚Soliloquia‘Leib-Seele-Dialogauf den Diskurs der höfischen Liebe höfische Liebeins Zentrum ihrer ‚Klage‘-Analyse stellt, während Gebert (2019) stärker auf die Psychomachie-Tradition zurückgreift und deren spezifische Transformation in der höfischen „Wettbewerbskultur“ des Mittelalters verfolgt. Direkte Linien lassen sich hier wie dort kaum ziehen.
Hartmanns formal innovatives, kunstvoll arrangiertes StreitgesprächStreitgespräch / disputatio ist dabei gegenüber seinem Gattungsexperimentstatus in inhaltlicher Hinsicht keineswegs herunterzustufen als „spannungslose“, „optimistische“ Minnelehre (so noch Glier 1971:23). Die ‚Klage‘ ist im Gegenteil, wie hier gezeigt werden soll, Medium einer komplexen Diskursivierung paradoxer Affekte und grundsätzlich gestörten Innen-Außen-Kommunikation des Ich: ein êwiger strît (HaKl 900). Für diese Frage, wie die Gattungs- bzw. Diskursinterferenzen – ihre textübergreifenden Funktionen und Effekte – genau einzuschätzen seien, schwanken die Urteile der Forschung erheblich. Zielt Hartmanns Streitgespräch mit seiner charakteristischen Vervielfältigung von Sprechakten und Sprecherperspektiven auf Krisenbewältigung oder eher auf Konfliktentfaltung?