Kitabı oku: «Kindheit in der Schweiz. Erinnerungen», sayfa 5

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1934, Emmental BE
Dora Stettler, *1927

Mama versprach uns – Markus und mir –, man würde im Laufe der Sommerferien eine Reise ins Grüne unternehmen. Wir freuten uns darauf, wunderten uns aber, dass sie diesen Ausflug immer wieder verschob. Auch aus Karl war nichts herauszukriegen.

Dann endlich, am Ende unserer Ferien im August im Jahre 1934, schien ihr der Termin zu passen. Es war ein denkwürdiger Tag, ein Tag, der unserem Leben eine unglaubliche Wende gab.

Mama betrat unser Zimmer und sagte: «Wir machen heute eine Reise ins Oberland. Beeilt euch, zieht die Sonntagskleider an. Wir müssen gleich zur Bahn.»

Schnell machten wir uns reisefertig und standen bald erwartungsvoll bei Mama in der Küche. Karl war auch schon da, er durfte natürlich bei diesem Ausflug nicht fehlen.

Der Zug führte uns über Land, Richtung Süden, den Bergen entgegen. Nach etlichen Stationen wechselten wir auf eine kleinere Bahn, dann wartete schon das Postauto auf uns. In unzähligen Kurven tuckerte das Gefährt einen Hügel empor. Wir durchfuhren einen Tannenwald, bevor das Auto die Kuppe eines langgestreckten Höhenzuges erreichte, von welchem wir eine freie Sicht in Berge und Täler hatten. Noch nie zuvor hatte ich die imposanten Felswände so greifbar nah zu Gesicht bekommen. In gehobener Stimmung verliessen wir das Postauto und bewunderten das Panorama.

Im Osten reichte der Blick bis hin zu den schroffen Wänden des Hohgant. Das Jungfraumassiv liess sich hinter einem bewaldeten Hügelzug leicht erahnen. Der weisse Gipfel des bekannten Berges ragte hinter den dunklen Tannenspitzen empor. Die trotzige Niesenpyramide dominierte am westlichen Horizont.

Diese unbeschwerte Freude sollte aber nicht lange dauern. An der Haltestelle stand eine schwarz gekleidete Frau, die uns ständig beobachtet hatte. Langsam schritt sie auf uns zu und begrüsste Mama und Karl. Das löste in mir ein mulmiges Gefühl aus. Ein Blick auf den Bruder zeigte, dass es ihm ebenso erging.

Nun streckte die Frau auch uns die Hand zum Gruss entgegen. Sie forderte uns alle auf, ihr zu folgen. Ein steiniger Feldweg führte uns abwärts an Blumenwiesen, Kartoffeläckern und Stoppelfeldern vorbei. Die fremde Frau geleitete uns zu einem der verstreut liegenden Bauernhöfe. Bergseits reichte das mächtige Dach bis zum Boden. Den Zugang zum Wohnteil säumten mannshohe Topinamburstauden.

Zögernd betrat ich als Letzte das Bauernhaus. Ich nahm den fremden Geruch einer Bauernküche wahr. Es roch nach Holz, Rauch und Molkerei. Dazu mischte sich der würzig starke Geruch, den die blau-weiss gestreifte Melkerbluse am Haken hinter der Tür ausströmte. Die Bauersfrau führte uns in die gute Stube. Diese hatte einen rohen Boden aus Tannenholz mit erhöhten Astansätzen.

Drinnen herrschte eine gespannte Stille. Ich wünschte, wir würden den Raum so bald wie möglich wieder verlassen. Aber Mama schien keine Eile zu haben. Zögernd stellte sie die schwere Reisetasche, in welcher ich den Imbiss vermutet hatte, neben dem Tisch auf den Boden. Jedermann wartete auf den Gesprächsbeginn des andern.

Endlich unterbrach Mama das Schweigen. Sie wandte sich an Markus und an mich: «Nun, ihr Kinder, hört mal her. – Dies ist jetzt euer neues Zuhause. – Ihr werdet von nun an hier wohnen!»

Ihre Stimme klang seltsam, ihr Tonfall fremd.

Einen Moment lang stockte das Blut in meinen Adern. – Wie konnte Mama so etwas tun! Sie durfte uns doch nicht allein zurücklassen, hier in diesem abgelegenen Hügelland, fern von der Stadt.

Wie versteinert stand ich da und schaute sprachlos meine Mutter an. Ihre Entschiedenheit war unmissverständlich, ich sah es in ihrem Gesicht! Ich begriff, dass künftig nicht mehr meine Mama, sondern diese schwarz gekleidete Frau sich um mich kümmern würde.

Mama und Karl schickten sich an, mit den Bauern ins Gespräch zu kommen. Indessen entspannte ich mich ein wenig. Ängstlich, doch neugierig schaute ich mich im Raum um. Da stand ein Kinderbett neben dem Ofen. Ich wollte wissen, wer denn darin schlafen würde.

«Du, Katharina, wirst darin schlafen», belehrte mich die Bäuerin.

Geschockt von der Antwort und weil sie mich Katharina genannt hatte, war ich der Verzweiflung nahe. Trotzdem deutete ich verschüchtert auf das grosse Bett neben der Tür. Ich wollte wissen, ob vielleicht mein Bruder hier schlafen würde.

«Nein», war die Antwort, «der wird nicht hier wohnen, er kommt zu einem Bauern in der Nachbarschaft.»

Dieser niederschmetternde Bescheid brachte mich aus der Fassung. Ich brach in Tränen aus und wollte wieder nach Hause mitgenommen werden. Damit kam ich aber schlecht an. Mama hielt mir vor: «Jetzt musst nicht noch heulen, da doch sonst alles so glatt gelaufen ist.»

Mamas Antwort traf mich schmerzlich. Ich war doch erst sieben Jahre alt! Aufgebracht riss ich die Türe auf und stürzte ins Freie. Ich wollte fort, weg von diesen Leuten … Aber wohin? Markus lief mir gleich hinterher. Aber niemand folgte uns, um uns zu trösten. Wir wurden mit unserer Angst, der Trauer und der grenzenlosen Enttäuschung allein gelassen. Wir Kinder sollten auch noch voneinander ­getrennt werden. So nebensächlich wie möglich wurde uns dieser Umstand beigebracht. Vor kaum einer Stunde sagte Mama «ihr», also wir beide sollten nun hier wohnen!

Langsam trippelte ich das Bord hinauf, liess mich auf die Knie und dann auf den Boden fallen. Dann liess ich den Tränen freien Lauf. Markus konnte mich nicht trösten. Er musste selbst mit der neuen Situation fertig werden.

Nach geraumer Zeit versiegten meine Tränen. Ich hob den Kopf und schaute mich um. Ich fühlte mich in eine neue Welt verpflanzt. Vorsichtig drehte ich mich um und rollte das Bord hinunter – im Sonntagskleid, aber das war nun auch egal.

Unten am Abhang hätte ich beinah ein Huhn überrollt. Flatternd und gackernd lief es davon. Ich erhob mich und strich mir das Kleid glatt. Darauf stieg ich wieder nach oben und rollte gleich noch ein weiteres Mal hinunter.

Da öffnete sich im Bauernhaus die Tür, durch die man gleich in die Küche gelangte. Die Bäuerin stand da und winkte uns herbei. «Ihr dürft die Hühner nicht so erschrecken, sonst legen sie keine Eier mehr», erklärte sie uns. Diese Belehrung ist mir mein Lebtag in Erin­nerung geblieben wie alles an jenem ereignisreichen Tag.

Die Bäuerin rief uns ins Haus, die Mutter wolle sich verabschieden.

Mit gemischten Gefühlen betrat ich die Stube, stellte mich vor Mama hin und sagte: «Da du uns nicht mehr zurücknehmen willst, musst eben allein nach Hause gehen!»

Es war ein Notschrei aus meinem aufgewühlten Innern. Das Verhältnis zu meiner Mutter sah ich plötzlich aus einer ganz neuen Perspektive. Wir hatten schmerzhaft zur Kenntnis nehmen müssen, dass Mama nicht mehr uns gehörte und wir fühlten, dass wir ihr lästig waren.

Nachdem sie dann noch Markus «abgeliefert» hatten, hakte sich Mama bei Karl ein und flüsterte ihm zu: «Nun haben wirs geschafft, jetzt sind wir frei.» Markus stand zum Lebewohl winken gleich hinter ihnen und musste diese Worte mit anhören.

Bis zur letzten Minute hatte ich gehofft, Mama würde sich erbarmen und uns wieder mit nach Hause nehmen. Als sie aber gegen den Zufahrtsweg geschritten war, schwand jegliche Hoffnung dahin.

Wie angewurzelt blieb ich auf dem steinigen Vorplatz stehen. Im Geiste sah ich mein Zuhause, die Stadt mit den Laubenbogen, den Zytglogge und Papas Gartenhäuschen; ich hörte das singende Tram … Dies alles sollte ich für lange Zeit nicht mehr wiedersehn. Ich durfte nicht mehr an Mamas Hand über die Kornhausbrücke trippeln.

Verbittert und traurig blieb ich im Hof und starrte auf die Topinamburstauden, hinter denen meine Angehörigen verschwunden waren. Ich fühlte mich verlassen; allein unter fremden Leuten auf diesem Bauerngut.

1947, Lausanne VD
Anne Cuneo, *1936

Ich stand in der Dachkammer, die von der Pension, in der Mutter arbeitete, dem Zimmermädchen zur Verfügung gestellt wurde, und klebte mit der Nase am Fenster. In einer solchen Landschaft konnte man sicher glücklich sein. Ja, es war wohl unmöglich, es nicht zu sein.

Ich war betört.

Ein vorbeiziehender Schleppkahn erhöhte noch meine Ergriffenheit. Dieses Land war es wert, geliebt zu werden. Nun könnten wir …

Wir würden …

«Anne! Was machst du denn da? Ich hatte dir doch gesagt, du sollst in die Küche herunterkommen.»

Ich drehte mich um und erblickte Mutter, ganz in Schwarz, mit der kleinen weissen Schürze eines Zimmermädchens.

Seit fast drei Jahren hatte ich nicht mehr bei ihr gelebt. Wir sahen uns äusserst selten, einen oder zwei fieberhafte Tage lang, an denen sie tausenderlei Dinge zu erledigen hatte. Ich hatte sie als Hausherrin verlassen, nun fand ich sie wieder als Lydia, das Zimmermädchen. Das störte mich nicht, ich war eher stolz darauf, dass sie sich durchzuschlagen wusste, dass sie hübsch und aktiv geblieben war.

Aber da war diese Distanz zwischen uns … Selbst als wir noch zusammenlebten, hatte ich ihr seit längerer Zeit kein einziges wichtiges Problem mehr anvertraut. Wenn ich erst in der Schweiz wäre, hatte ich mir gesagt, würde ich in unseren täglichen Kontakten einen neuen Anlauf nehmen …

Als ich mich umdrehte an diesem Morgen, verflüchtigte sich die poetische Stimmung, die mich überströmte, schlagartig. Wir lebten nicht mehr in der gleichen Welt. Mutter redete vom Frühstück, von praktischen Dingen; ich hörte nicht hin. Schockartig wurde mir bewusst, was ich drei Jahre lang bemängelt hatte: Das Band zu meiner Mama war ebenso durchtrennt wie meine Beziehungen zur Kindheit. Diese Person vor mir war in meiner subjektiven Wahrnehmung nur noch ein Abbild jener anderen, die ich am Abend des 8. Mai 1945 verlassen hatte.

Die folgenden Momente sind aus meinem Gedächtnis gestrichen. Ich finde mich in der Küche wieder, die im Kellergeschoss untergebracht ist, wie es sich gehört. Es dampft aus allen Kochtöpfen, und es riecht nicht gut.

Die Besitzerin der Pension war eine grauhaarige, blauäugige Frau um die Fünfzig. Noch heute, wenn ich an sie denke, kommt mir eine Stahlklinge in den Sinn. Ihre gleichförmige Stimme, ihre abgezirkelten Gesten – sie verströmte eine solche Kälte, dass ich nach fünf Minuten starr war vor Schreck. Ich verstand kein Wort Französisch, aber ich wusste sofort, dass ich in ihren Augen ein Eindringling war. Ich war in die Schweiz gekommen, um mit Mutter zusammenzusein, aber dieser blaue, distanzierte Blick machte mir klar, dass unsere Annäherung nicht bei ihr stattfinden würde.

Aber wo sonst?

Mutter gab mir ein Butterbrot und eine Schale Kaffee und murmelte, das Fräulein sei so gütig, es zu gestatten.

«Aber Mutter …»

«Hör zu, ich muss nun das Frühstück auftragen, wir sprechen uns später. Nimm, was du brauchst, und warte oben auf mich. Stör die Köchin nicht bei der Arbeit.» Todunglücklich ging ich nach oben. In welche Falle war ich geraten? Diese Leute wollten nichts von mir wissen, das war offenkundig. Was sollte aus mir werden? Um mich zu beruhigen, betrachtete ich den See und Lavaux, während ich auf Mutter wartete. Endlich kam sie: Ausnahmsweise hatte sie am Nachmittag frei, sie würde mich zu den Schwestern begleiten.

«Zu den Schwestern???»

«Aber Anne, du siehst ja, dass du unmöglich hierbleiben kannst, und irgend jemand muss sich um dich kümmern, ich arbeite von morgens früh bis in die Nacht.»

Vielleicht hatte sie schon zuvor von den Schwestern gesprochen, doch mein Bewusstsein hatte es nicht registriert. Jetzt, in ein, zwei Stunden sollte ich also wieder … nein, nein, das durfte nicht sein. Ich weinte, flehte, bettelte:

«Ich kann hierbleiben, ich werde auf dem Boden schlafen, ich werde dir bei der Arbeit helfen, aber bring mich nicht zu den Schwestern.»

Gerade war ich durch die harte Schule der Unabhängigkeit gegangen. Ich wollte nicht ins Gefängnis zurückkehren. Wieder so tun, als glaubte ich an Gott … Jeden Morgen zur Messe … Der unerbittliche Klosterzwang …

«Nicht doch, mein Schatz, mit Mailand ist es hier nicht zu vergleichen, es ist eine Art Pension, ihr seid nicht mehr als dreissig oder vierzig Kinder und geht in der Stadt zur Schule. Überhaupt gibt es nichts zu diskutieren. Hier kannst du nicht bleiben, die Besitzerin ist dagegen. Irgendwo musst du Unterkommen. Ich habe kein Geld, und bei den Schwestern kostet es fast nichts.»

«Wieso hast du mir das nicht vorher erklärt?»

«Ich hab dir gesagt, es würde hart sein.»

«Aber vom Kloster hast du mir nichts erzählt.»

«Es ist kein Kloster, mach mich nicht wahnsinnig …»

Wir bewegten uns im Kreis, Mutter wich aus, ich konnte nichts mehr aus ihr herausholen.

Bei Einbruch der Dämmerung liessen wir die grünenden Höhen, die Aussicht auf den See und Lavaux hinter uns und stiegen mit meinem Koffer bis zum Bahnhof hinunter. Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, was an diesem Nachmittag in mir vorging. Mein Herz brannte vor Wut, ich fühlte mich betrogen.

Ich hatte immer nur von Erwartungen gelebt:

«Wenn du einmal gross bist …»

«Wenn du einmal reich bist …»

«Du wirst sehen …»

«Später wirst du verstehen …»

«Dafür bist du noch zu jung …»

Und nun, noch nicht einmal zwölfjährig, wurde ich wieder eingesperrt. Alle Versprechen waren in den Wind gesprochen. Auf nichts würde ich ein Anrecht haben als aufs Unglück.

Wieder musste der Kampf aufgenommen werden. Italienische Schwestern, die anders waren als jene, die ich schon kannte? Mutter hatte gut reden, ich glaubte ihr nicht. Mutter hatte gut reden …

Ihre Beweggründe waren achtbar, sie wollte nur mein Bestes. Doch als ich bei den Schwestern eintrat, hatte ich mein ganzes Vertrauen verloren. Von diesem Tag an habe ich ihr lange Jahre hindurch misstraut, obwohl ich gleichzeitig von ihr geliebt werden wollte wie früher. Ich habe so heftig an diesem Widerspruch gelitten, dass ich schliesslich seelisch krank wurde. Der Widerspruch war umso stärker, als ich zwar ihr kleines Töchterchen sein wollte, mich daneben aber praktisch und intellektuell genügend emanzipiert fühlte, um auf meinen eigenen Füssen zu stehen.

Wir läuteten.

Eine Schwester kam uns öffnen, und wir betraten einen winzigen, schmalen Flur. Man führte uns ins Sprechzimmer auf der Nordseite. Darin befanden sich ein langer Tisch, Stühle und ein Klavier. An der Wand der Papst, der italienische König, ein Kruzifix.

Als ich das sah, grinste ich innerlich voller Hohn. Nichts Neues. Oder vielmehr schlimmer denn je. Vor einem Jahr hatte man für die Republik gestimmt, doch bei ihnen hing immer noch Vittorio Emmanuele m., über den mein Vater kaum je ein Wort verloren hatte, so sehr hielt er ihn, wie er mir einmal gesagt hatte, für Mussolinis Hampelmann.

Ich konnte meine Wut gerade solange runterwürgen, um Mutter zuzuflüstern:

«Verlang wenigstens von ihnen, dass sie mich Klavier spielen lassen.»

«Aber ich habe kein Geld für den Unterricht.»

«Ich brauche keinen Unterricht, ich kann sehr gut allein üben. Aber fragen sollst du.»

Die Oberin war gekommen, uns zu empfangen.

Mutter hatte nichts gesagt wegen des Klaviers und war eilig weggegangen mit dem Versprechen, wir würden uns am kommenden Sonntag wiedersehen.

Ich erinnere mich peinigend genau, wie mein Gehirn sich schmerzhaft zusammenkrampfte und gegen meinen Willen den Gedanken formulierte:

«Sie wird nicht kommen, ich weiss es.»

Mein Vertrauen war amputiert, und der Stumpf tat weh.

Es war fast sechs Uhr, ich wurde für den abendlichen Rosenkranz in die Kapelle geschickt.

Auch das war nichts Neues.

Hinterher bemächtigte sich eine Schwester meines Koffers und schickte mich zum Essen. Lauter kleine Kinder. Im Moment meiner Ankunft waren nur zwei Grosse da: ein vierzehnjähriges Mädchen namens Sara, schon seit ihrer zartesten Kindheit hier, und eine kurz vor mir eingetroffene Neapolitanerin, deren Namen ich vergessen habe.

Später sollte noch eine vierte Grosse zu uns stossen: Ines.

Wir setzten uns an den Tisch.

Nach den Erlebnissen dieses Tages verspürte ich nicht den geringsten Appetit. Zudem bestand das Nachtessen aus jenem abscheulichen Griessbrei, mit dem Mutter mich in meiner frühen Kindheit trotz heftiger Abwehr gefüttert hatte.

«Iss, Neue, du kannst nicht bloss von kaltem Wasser leben.»

«Ich … ich mag nicht, ich habe Griessbrei nicht gern.»

«So, dem Fräulein schmeckt es nicht. Aus Güte nimmt man dich auf, du kommst aus einem Land, wo man Hungers stirbt, und du …»

«Aber man verhungert ja gar nicht.»

Nichts zu machen. Lange noch sollten wir diesen widerwärtigen, aus den Resten der Quartierläden bestehenden Frass vorgesetzt bekommen, und man musste sich noch höflich bedanken dafür und an Italien denken, wo man so schrecklich hungerte, als könnte ein solcher Gedanke uns sättigen.

Schon um halb acht Uhr mussten wir schlafen gehen.

Auch das war nichts Neues.

In einer Zimmerecke wieder so ein Bett hinter Vorhängen, von wo aus eine Schwester, jeden Monat eine andere, den Schlaf von uns potenziellen Verbrechern – was Kinder in den Augen dieser Gattung von Erziehern sind – überwachte.

1930er-Jahre, Bern
Dora Stettler, *1927

Immer wenn Weihnachten näher rückte, nahm Mama im Warenhaus Loeb an der Spitalgasse eine Stelle an. Sie arbeitete dort als Verkäuferin während der Wintersaison. Das ergab einen geschätzten Zustupf in die Haushaltkasse. Diese Zeit verbrachten wir noch nicht schulpflichtigen Kinder im städtischen Jugendheim im Mattenhofquartier. Dort seien wir gut aufgehoben, versuchten uns die Eltern verständlich zu machen.

In diesem Heim herrschte eine strikte Tagesordnung. Zum Frühstück gab es regelmässig den kernigen, verhassten Haferbrei. Auf harten Bänken sassen wir an langen Tischen und schauten zu, wie die «Tanten» uns einen Schöpflöffel voller Brei auf die Teller klatschten. Eine andere Tante band uns den Esslatz um. Sie schnürte ihn so eng, dass man kaum noch Luft holen konnte. Gelang es uns nicht, im richtigen Moment den Finger zwischen Latz und Hals zu schieben, wurden wir fast stranguliert, und der Haferbrei rutschte nur mühsam die Kehle runter.

Tag für Tag trugen alle Kinder die selben karierten Ärmelschürzen. Blaue für die Mädchen und rote für die Knaben. Zum Schutz gegen Wind und Kälte wurden wir für den täglichen Spaziergang in dicke schwarze Pelerinen gehüllt. Den Rest des Tages verbrachten wir vorwiegend im Hause beim Spielen. Einmal im Zimmer, durften wir diesen Raum ohne Abmeldung nicht mehr verlassen. Etwa wöchentlich einmal erschien die Vorsteherin im Spielzimmer, klatschte in die Hände, sang ein Lied und hüpfte mit uns im Kreise herum. Danach war ihr Kontakt-Soll erfüllt, und sie überliess uns wieder den Tanten, die sich mehr oder weniger gefühlvoll mit uns abgaben.

Nachts wurden wir an den Füssen ans Gitterbett gefesselt, weil die Tanten nicht mochten, dass wir die Decke wegstrampelten. Umdrehen im Bett war somit unmöglich. Wir mussten die ganze Nacht in der selben Position verbringen. Ich bewunderte meinen Bettnachbarn, dem es gelang, die Fussbänder zu lösen. Das Kopfkissen, in dem wir uns verkuscheln wollten, wurde uns unter dem Kopf weggerissen. Ein Kissen sei ungesund und führe zu einem Buckel.

Diese Umplatzierung ins Heim hatte zur Folge, dass uns eine Weihnachtsfeier im Kreise der Familie nicht beschieden war. Ein Christfest zu Hause habe ich ein einziges Mal bewusst erlebt, als ich sechs Jahre alt war. Elsbeth war wie Markus schulpflichtig geworden und musste nicht mehr ins Heim. Dadurch hatte ich das Glück, dass ich nicht allein dorthin abgeschoben wurde. Wir hatten mindestens drei lange, freudlose und trübe Winter in diesem Kinderheim verbracht. Erst als sich der Frühling ankündete, wurden wir von den Eltern dort wieder herausgeholt.

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