Kitabı oku: «Kreativität und Hermeneutik in der Translation»
Kreativität und Hermeneutik in der Translation
Larisa Cercel / Marco Agnetta / María Teresa Amido Lozano (Hrsg.)
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-8233-0015-1
Inhalt
Professor Alberto Gil zugeeignet
Kreativität – Verstehen – Interpretation. Multiperspektivische Annäherungen an einen translatorischen Nexus Bibliographie
I. Rhetorik und LiteraturInterpretatio – imitatio – aemulatio: Die Stellung der Übersetzung (im engeren und weiteren Sinn) im Lehrgebäude der klassischen Rhetorik1 Rhetorik und Übersetzung in der Antike2 Die Stellung der Übersetzung im Kreis der freien Künste3 Der freie Umgang mit fremdsprachlichen Texten: imitatio und aemulatio4 Rückblick und AusblickBibliographieKreativität beim Literaturübersetzen. Eine Bestimmung auf rhetorischer Grundlage1 Ist translatorische Kreativität ein punktuelles Phänomen?2 Rhetorische Textproduktion und Kreativität3 Die „schriftliche Stimme“ (Novalis) als kreative Herausforderung4 Nachahmung als hermeneutischer Zwang zu rhetorischer Kreativität5 Zusammenfassung und weiterführende GedankenBibliographieInterpretation and Creativity in the Translation of Paul Celan1 The Role of Interpretation and Creativity2 Holocaust Poetics3 Translating the Poetics of Paul Celan4 The Creative Reading of the Translated Poem5 ConclusionReferencesSprachgefühl und das Übersetzen von Kinderliteratur1 Das Kinderbuch – ungeliebtes Kind der Übersetzer?2 Kategorien von Kinderliteratur3 Übersetzungstheoretisches4 Sprachgefühl5 Fazit und AusblickBibliographieUnendliche Vervielfachung. Raymond Queneaus Exercices de style und ihre deutschen Übersetzer1 Neuübersetzung als Fortschreibung2 Neuübersetzung als AktualisierungBibliographieGustave Roud, „Hinweg, hinweg – Vite, passe le pont“Bibliographie« Mesdames, messieurs, la Cour. » La traduction du langage juridique dans la littérature criminelle1 Introduction2 Présentation de l’écrivain, du corpus et de la méthode d’analyse3 Les formes et fonctions du langage juridique dans les romans4 Analyse traductologique5 Révision et appelBibliographieHaroldo de Campos: Transcriação como plagiotropiaConfronto com o impossívelBibliografiaTranslatio – traditio – veritas: Zur Spannung zwischen Texttreue und Kreativität in den antiken Übersetzungen ‚heiliger‘ TexteBibliographieWas heißt es, den (richtigen) Ton in der Übersetzung zu treffen?1 Einleitung2 Drei Redeweisen vom Textton3 Der translatorische Umgang mit dem Textton4 FazitBibliographie
II. Hermeneutik und PhilosophieThe Translation Process and its Creative Facets in a Hermeneutic Perspective1 Introduction2 The Translation Process3 Creativity4 ConclusionReferencesEmpirische Fundierung einiger fundamentaler Aussagen der Übersetzungshermeneutik1 Ziel und Methode2 Textgrundlage und Versuchspersonen3 Das Datenkorpus4 Die einzelnen tentativen Übersetzungsäquivalente (TÜÄ)5 Evaluation der übersetzerischen Leistung6 Nihil ex nihilo!7 Der semantische Druck der Isotopien bei der Sinnkonstitution8 Die Kristallisation des zwischen den Isotopien virtuell „schwebenden“ Sinns9 Was haben wir aus diesem Experiment gelernt?10 Der wissenschaftliche Charakter des hermeneutischen Ansatzes11 FazitBibliographieAnhangQuellen der Kreativität beim Übersetzen1 Der Begriff Kreativität2 Übersetzen als Handeln eines Subjekts3 Vergegenwärtigung in Empathie4 Kognition ist Verstehen als Semiose5 Das Sprachgefühl als Basis für Kreativität6 Sprachliche Kreativität und Intuition7 Formulieren als Koordinierungsproblem8 Strategien im Umgang mit Texten9 Formulierungsziele des ÜbersetzersBibliographieBeyond das Gefühl des fremden “the Feeling of the Foreign”: The Hermeneutical Creativity of das Gefühl des fremden “the Feeling of the Alien” and das Gefühl des fremden “the Feeling of the Strange”1 Introduction2 The Loss of Familiarity: The Feeling of the Alien3 The Distortion of Familiarity: The Feeling of the Strange4 ConclusionReferencesLes apories de la créativitéBibliographieAspekt & Kreativität1 Zur Einführung: Analogie als Quelle der Kreativität2 Kunstfälschung vs. Translation3 Aspekt-Wahrnehmen & KreativitätBibliographie„Tanzen ohne Ketten“. Sprachspiele als Rahmen für die übersetzerische Kreativität1 Fritz Paepcke und die Hermeneutik in der Übersetzungswissenschaft2 Gadamer und die „sprachlichen Spiele“3 Fritz Paepcke und die hermeneutischen Ketten4 Metaphern und der methodische Zugang zu den „Sprachspielen“5 Abschließende BemerkungenBibliographie
III. Angewandte Sprachwissenschaft und ÜbersetzungspraxisKreativität in Translation und Translationswissenschaft: Zwei Fallbeispiele und ein Vorschlag1 Einleitung2 Kreatives Übersetzen (Kußmaul)3 Transkreation4 SchlussbemerkungenBibliographieThe Role of Understanding in Linguistic Perspectives on Translation. Some Thoughts on a Philosophical Debate about Belief and Knowledge1 Understanding and Encoding in Linguistic Perspectives2 Understanding and Translation in a Hermeneutic Perspective3 The Challenge: ‘Übersetzung / Translation’ between Religious and (Post-)Secular Discourses in Habermas4 ConclusionReferencesÜbersetzung (fast) ex nihilo: eine Spielart der translatorischen Kreativität?1 Einleitung2 Kreativität und Übersetzung ex nihilo: einige Vorüberlegungen3 Unmittelbare Nachzeitigkeit: eine kurze Bestandsaufnahme4 Übersetzungen ex nihilo im Europarl-Korpus5 FazitBibliographieModeling Routine in Translation with Entropy and Surprisal: A Comparison of Learner and Professional Translations1 Introduction2 Related work3 Method4 Case-study: measuring routine in professional vs. learner translations5 Conclusion and future workReferencesDenken in Analogien – kreatives Lösen von Verstehensproblemen im Übersetzungsprozess1 Einleitung2 Verstehensprozesse und Analogien in der Translationsprozessforschung3 Modell der Analogiebildung im Translationsprozess4 Methodischer Zugang5 Ergebnisse6 FazitBibliographieCreativity in the Translation Workplace1 Introduction2 Creativity and Cognition in the Workplace3 Defining and Modelling Creativity from a Systemic Perspective4 Case Study5 Empirical Setting6 Observations7 ConclusionsReferences
Professor Alberto Gil zugeeignet
Kreativität – Verstehen – Interpretation. Multiperspektivische Annäherungen an einen translatorischen Nexus
Larisa Cercel / Marco Agnetta / María Teresa Amido Lozano (Saarbrücken)
Die Kreativität ist in der Übersetzungswissenschaft zu einem erstrangigen Konzept avanciert. Nach den Forschungen der 1990er Jahre, die den Wert der Kreativität in der Translation aufarbeiteten und für die stellvertretend Paul Kußmauls Kreatives Übersetzen (2000) zu nennen ist, nimmt sie gegenwärtig eine zentrale Position in der Translationsprozessforschung ein. Als Schlüsselbegriff der translatorischen Kompetenz wird sie in ihr eigens gewidmeten Abhandlungen wie Gerrit Bayer-Hohenwarters Translatorische Kreativität (2012) verstärkt systematisch analysiert und empirisch gestützt. Vor dem Hintergrund einer systemischen Sichtweise und interdisziplinären Orientierung wird die Erarbeitung eines Kreativitätskonzepts angestrebt, das ein breites Spektrum kreativer übersetzerischer Leistungen erfasst. Die Erkenntnis, dass Kreativität nicht nur beim Übersetzen literarischer Werke benötigt wird, bildet die Grundlage für die Entwicklung neuer Modelle der translatorischen Kompetenz.
Zu dieser grundlagentheoretischen Ebene gehört die Betrachtung der übersetzerischen Kreativität in Verbindung mit den (eminent hermeneutischen) Begriffen des Verstehens und Interpretierens: Die Textvorlage verstehen, sie auslegen, um sie dann angemessen kreativ in der Zielsprache wiedergeben zu können, ist ein translatorisches Grundverhalten. Prägend für dieses Verhalten ist die ambivalente Bindung des Übersetzers an das Original: Sie hemmt und fordert zugleich heraus, mahnt zur Zurückhaltung und lädt zum Wagnis ein. Der vorliegende Sammelband erkundet den kreativ-interpretativen Spielraum des Übersetzers im Rahmen dieser gespannt-spannenden Beziehung und beleuchtet ihn aus den unterschiedlichen Perspektiven der Rhetorik, Literatur, Hermeneutik, Philosophie, Linguistik und Translationswissenschaft. Abgerundet wird der Band durch einen Blick auf den Berufsalltag der Übersetzer, deren Kreativität über textuelle Aspekte hinaus auch bei der Gestaltung der eigenen Tätigkeit in verschiedenen translatorischen Arbeitskontexten gefordert wird.
Die Beiträge bieten Zugänge zu unterschiedlichen Dimensionen der translatorischen Kreativität: Sie setzen sich mit begrifflichen Aspekten (Michael Schreiber, Marcelo Tápia, Marco Agnetta / Larisa Cercel) bzw. mit der Übersetzung von Begriffen (Douglas Robinson) auseinander, eruieren Quellen der translatorischen Kreativität (Radegundis Stolze, Vahram Atayan) und Methoden ihrer Förderung (John Wrae Stanley), beleuchten Mechanismen ihrer Entstehung (Gerrit Bayer-Hohenwarter, Paulo Oliveira) und ihren grundlegend aporetischen Charakter (Jean-René Ladmiral), schlagen neue Modelle für deren wissenschaftliche Erfassung (Mathilde Fontanet) sowie von routiniertem Verhalten (José Manuel Martínez Martínez / Elke Teich) vor und sorgen für die empirische Belegung theoretischer Grundsätze (Ioana Bălăcescu / Bernd Stefanink). Der fokussierte Blick auf die Literatur (Rainer Kohlmayer, Jean Boase-Beier, Wolfgang Pöckl, Irene Weber Henking, Angela Sanmann, Ursula Wienen) und die Bibel (Christoph Kugelmeier) als die Orte par excellence, in denen sich das unerschöpfliche Potential der translatorischen Kreativität am deutlichsten zeigt, sucht ebenfalls den weiteren Horizont einer disziplinären (Jörn Albrecht), gesellschaftlichen (Erich Steiner) und beruflichen (Hanna Risku / Jelena Milošević / Regina Rogl) Einbettung. In dieser multiperspektivischen Schau, die im Nexus Kreativität-Verstehen-Interpretation ihre gemeinsame Grundlage hat, wird der Facettenreichtum des Phänomens der Kreativität in der Translation offenkundig.
Der Band ist Prof. Dr. Alberto Gil, Inhaber des Lehrstuhls für Romanische Übersetzungswissenschaft sowie Gründer und Leiter des Forschungszentrums Hermeneutik und Kreativität an der Universität des Saarlandes, zum Anlass seines 65. Geburtstags zugeeignet.
Innerhalb der Themenbereiche Sprache-Rhetorik-Translation, die die wichtigsten Wirkungsfelder von Prof. Gil in Forschung und Lehre bilden (vgl. Atayan/Wienen 2012), hat sich in den letzten Jahren die Übersetzungshermeneutik deutlich als Schwerpunkt seiner Forschungen (Gil 2007, 2009, 2012, 2014, 2015, im Druck) profiliert. Die genannten Arbeitsfelder definieren die Markenzeichen seines übersetzungshermeneutischen Programms: solide sprachwissenschaftliche Untermauerung hermeneutischer Verstehens- und Interpretationsprozesse, feines Sensorium für rhetorisch-stilistische Individualität im Original und Translat – beides vereint in einer grundlegend anthropologischen Perspektive, die das Humanum in der Translation würdigt.
Dem Phänomen der übersetzerischen Kreativität bringt Alberto Gil in seinen Studien zur Translation eine besondere Aufmerksamkeit entgegen. Aus seinen Reflexionen und den mit Feingespür durchgeführten translatologischen Analysen greifen wir einen Gedanken heraus, der das anskizzierte Bild der unterschiedlichen Zugänge zu dem hier zur Diskussion stehenden Phänomen um einen weiteren Aspekt bereichert: Kreativität als zentrale Größe in der Definierung des Verhältnisses von Original und Übersetzung. Die Beschäftigung mit dem Problem der Kreativität schärft zunächst einmal den Blick auf das Translat: Ein Übersetzer, der das Wagnis des Kreativseins eingeht, schafft in der Zielsprache ein gleichwertiges Werk, dem u. U. eine „Eigenidentität” (Gil 2015: 146) zugesprochen werden kann. Zugleich schärft die Kreativität der Übersetzung den Blick auf das Original, denn im kreativen Akt des Übersetzens können „tiefere Schichten des Originals freigelegt werden, die sonst nur im Bereich der Ausdruckspotentialität geblieben wären” (Gil 2015: 152). Die Bidirektionalität dieses Verhältnisses wertet beide Texte auf und zeichnet zugleich ein ausdifferenziertes Bild von der Translation ab.
Der Titel des Bandes, der zu einer chiastischen Betrachtung des Verhältnisses von Hermeneutik und Kreativität im Übersetzen einlädt, greift diesen Gedanken des Jubilars auf und gibt ihn an die wissenschaftliche Community zur Reflexion weiter.
Bibliographie
Atayan, Vahram / Wienen, Ursula (Hrsg.) (2012): Sprache – Rhetorik – Translation. Festschrift für Alberto Gil zu seinem 60. Geburtstag. Frankfurt a. M.: Peter Lang.
Gil, Alberto (2007): „Hermeneutik und Übersetzungskritik. Zu Jorge Luis Borges’ Pierre Menard, autor del ‚Quijote’”. In: Gil, Alberto / Wienen, Ursula (Hrsg.): Multiperspektivische Fragestellungen der Translation in der Romania. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 313–330.
Gil, Alberto (2009): „Hermeneutik der Angemessenheit. Translatorische Dimensionen des Rhetorikbegriffs decorum”. In: Cercel, Larisa (Hrsg.): Übersetzung und Hermeneutik – Traduction et herméneutique. Bukarest: Zetabooks, 317–330.
Gil, Alberto (2012): „Mimesis als rhetorisch-translatorische Größe. Ein Beitrag zur hermeneutisch orientierten Übersetzungstheorie“. In: Cercel, Larisa / Stanley, John (Hrsg.): Unterwegs zu einer hermeneutischen Übersetzungswissenschaft. Radegundis Stolze zu ihrem 60. Geburtstag. Tübingen: Narr, 153–168.
Gil, Alberto (2014): „Kreativität und Problemlöseverfahren als translatologische Größen, am Beispiel der spanischen Übersetzung von Herta Müllers Atemschaukel”. In: Kunz, Kerstin / Teich, Elke / Hansen-Schirra, Silvia / Neumann, Stella / Daut, Peggy (Hrsg.): Caught in the Middle – Language Use and Translation. A Festschrift for Erich Steiner on the Occasion of his 60th Birthday. Saarbrücken: universaar, 129–145.
Gil, Alberto (2015): „Translatologisch relevante Beziehungen zwischen Hermeneutik und Kreativität am Beispiel der Übertragungskunst von Rainer Maria Rilke”. In: Gil, Alberto / Kirstein, Robert (Hrsg.): Wissenstransfer und Translation. Zur Breite und Tiefe des Übersetzungsbegriffs. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 143–162.
Gil, Alberto (im Druck): „Übersetzen als multifunktionale Texttransformation. Ein Grundsatzreferat aus der Perspektive der Übersetzungshermeneutik”. In: Klees, Christian / Kugelmeier, Christoph (Hrsg.): Von der Erzählung zum dramatischen Spiel. Wandlungen von Sprache und Gattung von Vergil bis in die Moderne. Saarbrücken: Alma Mater.
I. Rhetorik und Literatur
Interpretatio – imitatio – aemulatio: Die Stellung der Übersetzung (im engeren und weiteren Sinn) im Lehrgebäude der klassischen Rhetorik
Jörn Albrecht (Heidelberg)
Abstract: In the course of history, rhetoric has undergone a mutation from an art of discourse that aims to improve the capability of speakers to persuade an audience to an art of literary discourse that aims to improve the capability of writers to produce aesthetically perfect texts. The article examines the role of translation in this process, especially as an auxiliary discipline in the context of the trivium, the three medieval arts of the ‘humanities’: grammar, dialectic (logic) and rhetoric. Emphasis is laid on two traditional forms of ‘free’ translation in antiquity: imitatio, an author’s conscious use of features and characteristics of an earlier work, and aemulatio, a form of translation which might surpass the original in artistic value. The first one is illustrated with the example of a poem by Giacomo Leopardi, inspired by a French model; the latter one is exemplified comparing the episode of the “three drops of blood in the snow” in Perceval by Chrétien de Troyes and Parzival by Wolfram von Eschenbach.
Keywords: Rhetoric, poetics, trivium, imitatio, aemulatio.
In einem neueren französischen Roman, der sich wie ein Kriminalroman gibt, ohne wirklich einer zu sein, spielen Personen bulgarischer Staatsangehörigkeit oder Herkunft eine herausragende Rolle. Neben bewusst klischeehaft gezeichneten schnauzbärtigen Agenten, die vor nichts zurückzuschrecken scheinen, und dem Fahrer eines Lieferwagens, der mit starkem slawischen Akzent seine Unschuld an einem bedauernswerten Unfall beteuert, obwohl er den berühmten Semiologen Roland Barthes in der rue des Écoles wohl nicht rein zufällig überfahren hat, tritt auch Julia Kristeva auf den Plan. Von Intertextualität oder Polyphonie ist dabei nicht die Rede; Kristeva wird als vorbildliche Hausfrau präsentiert, die ihrem geckenhaften Gatten Philippe Sollers einen sauté de veau vorsetzt. Julenka, wie ihr Vater sie zärtlich nennt, scheint, wie einige andere auch, etwas über ein nach dem Unfall Roland Barthes’ verschwundenes Dokument zu wissen, das, wenngleich es von einer bisher selbst von Roman Jakobson noch nicht entdeckten Sprachfunktion handelt, darüber hinaus von einiger politischer Brisanz zu sein scheint. Selbst Giscard d’Estaing zeigt sich beunruhigt.
Leider kann dieser Erzählstrang hier nicht weiter verfolgt werden, denn nun tritt eine weitere Persönlichkeit bulgarischer Herkunft in Erscheinung, die uns – gerade noch rechtzeitig – dem im Titel angekündigten Thema näher bringt. Kein Geringerer als Tzvetan Todorov äußert seine Ansichten zur Rhetorik. Diese sei, so der „maigrichon à lunettes affublées d’une grosse touffe de cheveux frisés“, in ihrem Ursprung in eine lebendige Demokratie eingebettet gewesen und habe ausschließlich dazu gedient, die anderen zu überzeugen (gelegentlich auch zu überreden) und Mehrheiten für die eigene Position zu gewinnen. Das habe sich zur römischen Kaiserzeit und im europäischen Feudalismus grundlegend geändert:
On n’attendait plus du discours qu’il soit efficace mais simplement qu’il soit beau. Aux enjeux politiques se sont substitués des enjeux purement esthétiques. En d’autres termes, la rhétorique est devenue poétique. (C’est ce qu’on a appelé la seconde rhétorique.) (Binet 2015: 185f.)
Es ist schwer zu entscheiden, ob die hier erkennbare Verengung des Begriffs der Rhetorik auf die elocutio dem ‚wirklichen‘ Todorov oder nicht eher dem Autor geschuldet ist, der ihm diese Äußerung in den Mund legt. Wie dem auch sei, um diese ‚zweite‘ Rhetorik, die sich stark auf die Produktion von Texten und weit weniger auf deren Wirkung konzentriert, wird es auch hier gehen; von Pathos oder Ethos wird kaum die Rede sein. In dem Moment, in dem die Übersetzung als Hilfsdisziplin der Rhetorik auftritt, weist diese bereits eine starke Affinität zum Medium der Schrift auf; der nach allen Regeln der Kunst ausgestaltete Text ist mehr und mehr für Leser anstatt für Hörer bestimmt (vgl. Albrecht 2014: 426).
In den folgenden beiden Abschnitten muss der Übersichtlichkeit halber zunächst an einige wohlbekannte Fakten erinnert werden, bevor dann im dritten Abschnitt der Versuch unternommen werden soll, auf die freieren Formen der Übersetzung innerhalb des Lehrgebäudes der Rhetorik einzugehen.
1 Rhetorik und Übersetzung in der Antike
Für den mit diesem kurzen Aufsatz verfolgten Zweck genügt es, mit der gebotenen Knappheit auf zwei römische Autoren einzugehen, die sich zu Fragen der Übersetzung mit ausdrücklichem Bezug zur Rhetorik geäußert haben, auf Cicero und Quintilian.
1.1 Marcus Tullius Cicero
Es gibt kaum einen Abriss der Übersetzungsgeschichte, und sei er noch so knapp, in dem nicht Ciceros Abhandlung De optimo genere oratorum (Cicero 1976 [46 v. Chr.]) Erwähnung finden würde. Neuesten Forschungen zufolge stammt dieser Text möglicherweise gar nicht von ihm (vgl. Albrecht 2014: 426 Anm. 2). Cicero legt dort Rechenschaft ab über zwei (leider nicht überlieferte) Übersetzungen, die er von Reden des Aischines und des Demosthenes angefertigt habe, um zu zeigen, wie rhetorisch ansprechende Reden in lateinischer Sprache gestaltet werden könnten. Da Cicero bei der Schilderung seines Vorgehens versichert, er sei bei seiner Übertragung nicht wie ein Übersetzer, sondern wie ein Redner verfahren, i.e. er habe seine Vorlage mit eigenen Worten frei nachgebildet, wurden seine Ausführungen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – als ein Plädoyer für die „freie Übersetzung“ generell (miss)verstanden. Es ist hier nicht der Ort, auf diese Fehldeutung einzugehen (vgl. Albrecht 2010). Hier interessiert nur, dass der Meister der „goldenen Latinität“ zumindest indirekt den freien Umgang mit fremdsprachlichen Texten (vgl. infra 3) zur Förderung der eigenen Ausdrucksfähigkeit empfiehlt.