Kitabı oku: «Methoden der Theaterwissenschaft», sayfa 12

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1. Was ist Aufführungsanalyse?

Die Aufführungsanalyse stand keineswegs am Anfang der Fachgeschichte der Theaterwissenschaft, sondern wurde erst seit den späten 1970er Jahren in Europa und den USA entwickelt. Vorausgegangen war eine durchgreifende Theoretisierung der Theaterwissenschaft im Zeichen von Kommunikationstheorie, Semiotik und (Post-)Strukturalismus.1 Aufführungsanalyse ist ein Verfahren, mit dem kulturelle Aufführungen (Cultural Performances) im Allgemeinen und Theateraufführungen im Besonderen auf ihre Formen, Bedeutungen und Wirkungen untersucht werden können. Dabei werden Aufführungen als Ereignisse des Zeigens und Zuschauens verstanden, für die sich Akteure und Publikum zur selben Zeit am selben Ort versammeln. Zur Abgrenzung solcher Aufführungen von anderen Ereignisformen kann eine klassische Definition des Ethnologen Milton Singer herangezogen werden. Demnach zeichnen sich Aufführungen (Performances) aus durch „a definitely limited time span, or at least a beginning and an end, an organized program of activity, a set of performers, an audience, and a place and occasion of performance“.2 Die Aufführungsanalyse ist jedoch nicht aus der Ethnographie heraus entstanden, sondern wurde an professionellen Theaterformen entwickelt, die im weitesten Sinne der Kunstsphäre zuzurechnen sind. In ihrer heutigen Praxis kann man eine semiotische von einer phänomenologischen Variante unterscheiden.3

Die semiotische Variante fragt danach, wie in Aufführungen Bedeutung hervorgebracht wird. Die Aufführung wird dabei als ein Ensemble heterogener Zeichen aufgefasst, die auf komplexe Weise miteinander korrespondieren und von den Zuschauer*innen decodiert werden müssen. Die Analyse zielt darauf ab, die Zeichenstruktur der Aufführung genau zu erfassen, um dadurch Mechanismen der Bedeutungsproduktion herausarbeiten zu können. Der Blick richtet sich insofern auf die verschiedenen Zeichensysteme des Theaters (darunter das gesprochene Wort, Stimme, Klang, Mimik, Gestik, Proxemik, Raumgestaltung, Kostüme, Maske, Licht u.v.m.) und zugleich auf die erkennbaren Bedeutungseinheiten. Der*die Analysierende versucht zunächst, die Aufführung zu untergliedern (in Sequenzen, Szenen oder kleinere Einheiten), um dann die dominanten und prägenden Zeichenstrukturen ausfindig zu machen und diese auf ihre Bedeutung zu befragen. Es kann sinnvoll sein, einzelne, besonders markante Zeichen oder Zeichenkomplexe herauszugreifen und aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Neben der eigentlichen Bedeutung sind immer auch Konnotationen und Assoziationen von Interesse, so dass feine Nuancen und individuelle Varianten des Verstehens hervortreten können. Es geht weniger um das Fixieren eines ‚Sinns‘ der Aufführung als vielmehr um ein differenziertes Herausarbeiten der vielfältigen Prozesse, in denen Bedeutungen im szenischen Geschehen konstituiert, aber häufig auch wieder destabilisiert werden.4

Die phänomenologische Variante der Aufführungsanalyse ist dagegen mehr an Wirkungen als an Bedeutungen interessiert. Sie fragt nach den Erfahrungen, die in einer Aufführung gemacht werden können. Dabei kommt es entscheidend darauf an, dass der*die Analysierende seine*ihre eigene Aufführungserfahrung genau beschreibt und reflektiert. Zu diesem Zweck wird nach dem Aufführungsbesuch ein so genanntes Erinnerungsprotokoll angefertigt, in dem der*die Wahrnehmende Aspekte oder Momente der Aufführung beschreibt, die besonders nachhaltig auf ihn*sie gewirkt haben. In der Reflexion dieser „markanten Momente“5 stehen nicht Bedeutungen, sondern Erfahrungen im Zentrum, wie sie etwa mit Kategorien wie Klang, Stimme, Rhythmus, Atmosphäre oder Präsenz erfasst werden können.6 Die Subjektivität der entstehenden Beschreibungen wird dabei nicht als Problem empfunden, zumal im Konzept des Phänomens (d.h. des wahrgenommenen oder empfundenen Dings) der*die Wahrnehmende und das Wahrgenommene als untrennbar verschränkt gedacht werden.7 Ähnlich werden etwa Atmosphären aus phänomenologischer Sicht als eine von Wahrnehmenden und Wahrgenommenem gemeinsam konstituierte Erfahrung konzeptualisiert.8 Das Schreiben wird von den Phänomenen inspiriert. Eine phänomenologisch ausgerichtete Aufführungsanalyse setzt weniger auf die Lektüre einzelner Zeichen als auf das ganzheitliche „leibliche Spüren“ von Affektivität.9 Der*die Analysierende soll sich über das eigene Befinden in der Aufführung Rechenschaft ablegen.

In der Praxis werden die beiden Varianten der Aufführungsanalyse heute meist miteinander kombiniert, weil sich theaterwissenschaftliche Studien in aller Regel sowohl für die Bedeutungs- als auch für die Erfahrungsdimension von Aufführungen interessieren. Manche Forscher*innen legen Wert auf einen Unterschied zwischen Aufführungs- und Inszenierungsanalyse:10 Während in der Inszenierungsanalyse die Konzeption des auf der Bühne Gezeigten, das im Probenprozess Erdachte und Erarbeitete im Vordergrund steht, geht es in der Aufführungsanalyse um die Erlebnisse und Deutungen im Hier und Jetzt des einzelnen performativen Ereignisses. Tatsächlich lassen sich aber auch diese beiden Perspektiven in der analytischen Praxis gut miteinander verbinden. Die Wahl des Analyseschwerpunkts hängt nicht zuletzt vom Typus der gewählten Aufführung ab. Handelt es sich um eine Theateraufführung aus dem Feld der Künste, dann richtet sich das Interesse häufig darauf, die Idee der Inszenierung herauszuarbeiten und die von dieser Idee geprägten ästhetischen Mittel differenziert zu erfassen. Ist dagegen eine anders geartete kulturelle Aufführung (z.B. ein Fest, ein Ritual oder eine politische Versammlung) Gegenstand der Analyse, dann mag etwa die Frage nach den Regeln des Handelns oder nach der Agency einzelner Akteure im Vordergrund stehen. Auch die kulturelle Funktion der jeweiligen Aufführung kann als Fluchtpunkt der Analyse dienen.

2. Zur Virulenz des Subjektivismus-Problems

Der eingangs skizzierte Subjektivismus-Vorwurf gegen die Aufführungsanalyse begegnet in jüngerer Zeit dringlicher als zuvor. Diese Virulenz hat auch mit veränderten Forschungsinteressen zu tun. Längst beschränken Theaterwissenschaftler*innen ihre Studien nicht mehr auf die vertrauten Theaterformen der eigenen Region. Mit der verstärkten Globalisierung des Theaterbetriebs (u.a. durch internationale Gastspiele, Tourneen und Festivals) ist Interkulturalität eine allgegenwärtige Dimension in Aufführungen geworden. Es vermehren sich damit auch Erfahrungen des Nicht-Verstehens, mit denen in semiotischen Analysen nicht leicht umzugehen ist: Kann man Zeichenprozesse analysieren, wenn einem der zugrundeliegende Code gar nicht geläufig ist? Inszenierungen des postmigrantischen Theaters, Debatten über Blackfacing, Minstrel Shows und andere kolonial geprägte Darstellungsformen und eben die transkulturelle Öffnung von Gastspielen und Festivals regen zum Nachdenken darüber an, wer aus welcher Perspektive über ein szenisches Geschehen scheiben kann. Die Frage nach der Perspektivgebundenheit bzw. Positionalität des Analysierens stellt sich in ähnlicher Weise sicher auch Kunsthistoriker*innen und Filmwissenschaftler*innen, aber ein spezifisches Problem der Aufführungsanalyse scheint doch daraus zu resultieren, dass Aufführungen anders als Filme oder Bilder ihr Publikum immer schon miteinschließen: Wenn wir über eine Aufführung schreiben, schreiben wir auch über ein Publikum, das integraler Teil dieser Aufführung ist und dessen Mitglied wir wiederum selbst sind – ohne es allerdings repräsentieren zu können. Wie unterscheidet sich die eigene Perspektive von derjenigen anderer Zuschauer*innen? Was ist die eigene Position nicht nur zu, sondern auch in der Aufführung, und wie hebt sie sich von anderen darin etablierten Positionen ab?

Auf dem derzeit stark bearbeiteten Feld von Theater und Migration, in der Beschäftigung mit migrantischem bzw. postmigrantischem Theater (um diese problematischen Bezeichnungen hier einmal als Kürzel zu verwenden) wird oft die Forderung erhoben, in aufführungsanalytischen Texten die eigene Perspektive gründlicher und expliziter zu problematisieren. Es ist meines Erachtens eher nicht die ästhetische Form der betreffenden Aufführungen, die die eigene Perspektive problematisch werden lässt, zumal die verwendeten Formen einerseits ganz unterschiedlich ausfallen können, andererseits oft recht leicht zugänglich sind. Entscheidend für die politische Frage nach der Positionalität des Schreibenden ist vielmehr die Beteiligung von Gruppen, die in die drängenden identitätspolitischen Kämpfe der Gesellschaft verwickelt sind. Beteiligung kann bedeuten, dass die betreffenden Inszenierungen thematisch auf diese Gruppen eingehen; sie kann aber auch darin bestehen, dass Mitglieder dieser Gruppen an der Aufführung mitwirken, sei es als Darsteller*innen oder als Zuschauer*innen. Sobald eine dieser Formen der Beteiligung gegeben ist, wird ein anspruchsvoller Fragenkatalog aufgerufen: Welche sozialen Gruppen konstituieren die Aufführung insgesamt, und welche dieser Gruppen ist in der Lage, die kulturellen Codes zu entschlüsseln, die in die Inszenierung eingegangen sind? An wen richtet sich die Inszenierung, für welche Zielgruppe wurde sie gemacht, bei wem möchte sie etwas bewirken? Wer ist aufgrund welcher biographischer Prägungen in der Lage, die Erfahrungen, die in der Aufführung verhandelt werden, nachzuvollziehen? Welchen Gruppen gibt die Aufführung Raum, welche anderen Gruppen bleiben in ihr unsichtbar? Wie geht eine Inszenierung, die von identitätsbezogenen Ein- und Ausschlüssen handelt, mit den Ein- und Ausschlussmechanismen des Theaters um? Wie man diese Fragen beantwortet, hängt nicht unwesentlich von der sozialen Position ab, auf der man sich selbst befindet. Eine Inszenierung, die identitätspolitische Grenzziehungen problematisiert, fordert die diversen Identitätskonstruktionen der Zuschauer*innen in unterschiedlicher Weise heraus. Welche Identitätskonstruktion organisiert den Blick des*der Analysierenden? Kann und sollte er*sie das offenlegen?

Das Problem liegt hier weniger im Sollen als im Können: Wenn man sich von psychoanalytischen Subjektmodellen nicht gänzlich verabschieden möchte, muss man damit rechnen, dass das Subjekt seine identitären Prägungen gerade nicht vollständig überschauen kann, sondern dass diese, bis in die Feinheiten der sexuellen Orientierung, weitgehend im Unbewussten operieren. Deshalb kann es vermessen wirken, wenn ein*e Autor*in glaubt, die eigene Subjektposition ebenso vollständig wie sortiert offenlegen zu können. Die Forderung, das Beschreiben von Aufführungen mit einer möglichst vollständigen Explikation der eigenen sozialen, kulturellen und politischen Situiertheit zu verbinden, birgt enorme Schwierigkeiten und kann in den resignativen Rückzug aus der Aufführungsanalyse münden. Jedenfalls fällt auf, dass in vielen Büchern und Aufsätzen zu Themen wie Theater und Migration, politisches Theater oder angewandtes Theater kaum mehr aufführungsanalytisch argumentiert wird. Nicht immer wird ausdrücklich gefordert, kunstwissenschaftliche Betrachtungsweisen durch ethnographische und sozialwissenschaftliche Verfahren zu ersetzen, aber die Praxis vieler Autor*innen auf den genannten Feldern weist in diese Richtung. So entstehen Bücher über Theater, in denen man nur noch wenig darüber erfährt, was auf der Bühne zu sehen ist und im Aufführungsraum geschieht.

Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive ist das zu beklagen, denn Fragen nach Diversität und Perspektivik entziehen dem aufführungsanalytischen Blick sicher nicht die Legitimation – wohl aber deren Selbstverständlichkeit. Es sind vor allem zwei Herausforderungen, mit denen Aufführungsanalysen in der Beschäftigung mit postmigrantischen Inszenierungen umzugehen haben: Zum einen handelt es sich hier um ein Theater, das sich geradezu programmatisch gegen unidirektionale Fremdzuschreibungen wendet. Postmigrantisches Theater ist entstanden als eine Kritik an der Selbstgewissheit, mit der Angehörige einer angeblich alt-eingesessenen Bevölkerungsmehrheit Menschen mit Migrationshintergrund bestimmte Einstellungen, Lebenshaltungen und Gefühle unterstellen. Von daher wäre es unangebracht, wenn die Aufführungsanalyse sich nun – in semiotischer Tradition – darum bemühen würde, den von den Akteuren stimmlich, mimisch und gestisch gebotenen Zeichen einzelne Bedeutungen zuzuschreiben. Die erste Herausforderung besteht also darin, ein schlichtes Ausdeuten individueller Anzeichen für bestimmte Gefühlslagen zu vermeiden. Zum anderen hat postmigrantisches Theater eine markant politische Stoßrichtung, die in einer rein phänomenologischen Perspektive leicht verfehlt werden kann, zumindest wenn sich diese Perspektive darin erschöpft, dass man das eigene ‚leibliche Spüren‘ in der Inszenierung genau registriert und beschreibt. Denn mit welchem Recht ließe sich dieses Spüren in der Analyse über die Erfahrungen anderer Aufführungsteilnehmer*innen stellen? Die zweite Herausforderung liegt deshalb in der Notwendigkeit, die eigene Position und das eigene Empfinden in der Aufführung nicht zu universalisieren.

Eine Antwort auf beide Herausforderungen kann es sein, sich auf materielle Relationen zu konzentrieren und entsprechend Affizierungen zwischen Akteuren, Objekten, Stimmen, Sprachen und deren räumlichen Anordnungen herauszuarbeiten. Es mag auf den ersten Blick kontraintuitiv wirken, auf den Subjektivitäts-Vorwurf gerade mit einer Fokussierung des Affektiven zu reagieren. Aber als relationales Konzept ist Affektivität tatsächlich geeignet, die in der Aufführung gemachten Beobachtungen nicht gleich entlang einer Subjekt-Objekt-Dichotomie zu organisieren. Affektivität lässt sich nur aus einer Perspektive beschreiben, die transindividuelle Prozesse in den Blick nimmt und dabei neben menschlichen Akteuren, ihren Körpern und Stimmen, auch Dinge, Objekte, Bewegungen und materielle Arrangements berücksichtigt.1 Um diese Perspektive einzunehmen, kann es helfen, nicht konkrete Interaktionen zwischen Individuen zu beschreiben, sondern sich auf die materielle Transformation einzelner Elemente zu konzentrieren: Wie wird zum Beispiel der Text, der der Inszenierung zugrunde liegt, in verschiedene materielle Register übersetzt? In welchen Relationen steht das in sich hochdifferenzierte sprachliche Material zu anderen Materialien der Aufführung, und welche Bewegungen und affektiven Arrangements ergeben sich daraus? Eine solche Fragerichtung der Aufführungsanalyse soll im Folgenden zunächst auf der Grundlage einer knappen Begriffsbestimmung und dann an einem Inszenierungsbeispiel angedeutet werden.

3. Affekt versus Emotion

Die affektive Dimension von Aufführungen zu beleuchten, bedeutet nicht, das emotionale Erleben einzelner Zuschauer*innen zu rekonstruieren oder überhaupt individuelle Gefühle zu beschreiben. Die hier vorgeschlagene Perspektive geht vielmehr von einer Unterscheidung zwischen Affekt und Emotion aus.1 Affektivität ist demnach das dynamische Geschehen, das verschiedene Akteure auf vielfältige Weise miteinander in Beziehung setzt. Affekte finden also eher zwischen Akteuren statt als in ihnen (wobei unter Akteuren immer auch nicht-menschliche Handlungsträger oder Adressaten von Handlungen verstanden werden können). Gerade durch diesen relationalen Charakter sind Affekte von Emotionen als individuellen psychischen Zuständen zu unterscheiden. Anders als eine Emotion, ein Gefühl oder eine Stimmung ist der Affekt eine weitgehend unbestimmte Größe. Affekte bemessen sich zunächst in ihrer Intensität, sind hingegen noch nicht in ihrer Gerichtetheit, Wertung oder Artikulation bestimmbar – bevor sie in kulturell bzw. diskursiv etablierte Bahnen gelenkt und auf spezifische Weise ausagiert werden können. So entziehen sie sich oft auch einer präziseren sprachlichen Bezeichnung. Dagegen sind Emotionen soweit kulturell codiert, dass sie sprachlich repräsentiert werden können. Emotionen rekurrieren auf Affekte, um diese mit einem kulturell geprägten Repertoire von Artikulationsformen in Beziehung zu setzen. Insofern sind Emotionen nicht auf physiologische Empfindungen reduzierbar, sondern führen Empfindungen mit komplexen Konzepten zusammen, die diese Empfindungen artikulieren und dabei auch beeinflussen und kanalisieren. In diesen Konzepten manifestieren sich kulturell verankerte Klassifikationen, Interpretationen und Wissensbestände.2

Die besonderen Möglichkeiten einer affektorientierten Aufführungsanalyse werden deutlich, wenn man davon ausgeht, dass Affekte kein individuelles, inneres Geschehen sind, sondern sich in externen Relationen und Konstellationen manifestieren. Tatsächlich nutzen Regisseur*innen etwa die proxemische Dimension der Aufführung, d.h. die variable Positionierung der Akteure im Raum, um affektive Verhältnisse zwischen Figuren zu verdeutlichen (Nähe und Distanz, Anziehung und Abstoßung beispielsweise). Auch räumlich-visuelle und/oder klangliche Atmosphären sind ein wichtiges Mittel, um vielfach diffuse, unklare und uneindeutige affektive Dynamiken darzustellen. Anstatt zu psychologisieren oder über Gefühlszustände zu spekulieren, sollte die Aufführungsanalyse deshalb ihre Chancen nutzen, die in einer genauen Beschreibung von Situationen und Handlungsformen liegen: Wie bzw. in welchem Modus wird eine bestimmte Handlung, etwa ein einfacher Gang über die Bühne, ausgeführt? Welche Situation findet ein Akteur vor, wenn er die Bühne betritt? Wie adressieren die Akteure von der Bühne aus das Publikum? Kann in der Hinwendung zum Publikum ein affektiver Gestus beschrieben werden? Der Begriff des Gestus kann eine Orientierung für affektorientierte Analysen dieser Art geben. Er bezeichnet Haltungen von Akteuren, die sich sowohl kommunikativ als auch körperlich zeigen. Eine an Brecht orientierte Theatertheorie geht davon aus, dass solche Haltungen nie nur von einzelnen Akteuren eingenommen werden, sondern sich zwischen Akteuren entfalten und von sozialen Kontexten abhängen. Aussagen zum Gestus können insofern bei einzelnen Akteuren ansetzen, müssen sich von dort aus aber auf komplexe Situationen und soziale Verhältnisse erstrecken.3 Am Ende solcher Analysen, die – wie jede Aufführungsanalyse – immer weiter verfeinert werden können, steht kein Katalog von Emotionen, die einzelnen Akteuren zugeschrieben werden könnten, sondern die differenzierte Beschreibung einer situativen Konstellation, die den*die Analysierende*n stets mit einschließt.

Eine Aufführungsanalyse, die sich auf die affektive Dimension fokussiert, muss also materielle Relationen des Geschehens im Theaterraum herausarbeiten. Die Affekte sind aus dieser Perspektive die beschriebenen Relationen, es sind hingegen keine subjektiven Gefühle, die man individuellen Akteuren zurechnen könnte. Das soll zum Schluss exemplarisch an der Inszenierung Die Hamletmaschine vom Exil Ensemble4 des Berliner Gorki Theaters verdeutlicht werden (Regie: Sebastian Nübling, Premiere am 24.2.2018).

4. Eine relationale Perspektive

Wie viele Inszenierungen postmigrantischen Theaters wirkt die Hamletmaschine des Gorki Theaters von Beginn an sehr sprachbetont: Monologisches, dialogisches und chorisches Sprechen steht im Vordergrund, weshalb es naheliegt, in der Analyse von der textuellen Dimension der Aufführung auszugehen. Hamletmaschine ist ein Stück aus dem Jahr 1977 von Heiner Müller und der Form nach eine fragmentarische Textfläche, die nicht in ihrer Kürze (von etwa neun Druckseiten), wohl aber in ihrer postdramatischen, die dramatische Figuration konsequent überschreitenden Anlage auf die späteren Stücke von Elfriede Jelinek vorausweist. Der Text beginnt mit den markanten Sätzen: „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa.“1 Dieser Auftakt lässt heute an die Situation der Geflüchteten an den Grenzen Europas denken, ansonsten aber erscheint Müllers Stück nicht prädestiniert als Textgrundlage für eine postmigrantische Inszenierung. Es ist ein metatheatraler Text, der klassische europäische Theatertraditionen reflektiert, darunter vor allem das Shakespeare-Theater mit Hamlet und weiteren kanonischen Figuren sowie die antike griechische Tragödie mit den an sie anschließenden Diskursen über die Vergeblichkeit theatralen Handelns. Die Grundidee der Inszenierung des Exil Ensembles besteht darin, diesen vierzig Jahre alten Text über eine zerstörte, gewaltsame und zukunftslose Welt und die Rolle des Künstlers darin zu collagieren mit neuen Texten des syrischen Theatermachers Ayham Majid Agha, der, selbst Mitglied des Exil-Ensembles, auf der Bühne auch als Akteur zu sehen ist. Seine Texte handeln von Erfahrungen im vom Bürgerkrieg geschüttelten Syrien. Mit der Insertion der Texte von Agha erhält die textuelle Dimension der Aufführung zugleich eine multilinguale Struktur, denn die neu eingefügten Textfragmente sind auf Arabisch oder Englisch belassen, während die Müller-Texte primär auf Deutsch gesprochen werden.

Um sich den affektiven Relationen der Aufführung analytisch zu nähern, gilt es nun, zwei Verhältnisse zu fokussieren, in die der neu konstituierte Theatertext in dieser Inszenierung eintritt, nämlich einerseits das Verhältnis von Sprache und Raum und andererseits das Verhältnis von Sprache und Körper. Die hervorstechendste Regie-Idee ist es, den auf der Bühne gesprochenen Text, die aus Müller- und Agha-Material kompilierten Textflächen, nicht nur akustisch, sondern auch visuell zu verräumlichen. Die sieben Schauspieler*innen agieren auf der weitgehend leeren, in Schwarz getönten Bühne hinter einer Art Gaze-Schirm, auf den der gesprochene deutsche, arabische oder englische Text in unterschiedlichen Lichtintensitäten und in verschiedenartigen Lineaturen projiziert wird. Zugleich sind oben rechts und links der Bühne aber auch – wie in allen Aufführungen des Gorki Theaters üblich – Übersetzungen des gesprochenen Textes als Übertitel zu lesen. Diese Konstellation hat weitreichende Folgen: Durch die filigrane Projektionstechnik sieht man die Schriftzeichen in drei verschiedenen Sprachen als Einschreibungen auf den Körpern der Schauspieler*innen. Im Zusammenspiel der agierenden Körper und der stetig wechselnden, fließenden Schriftprojektionen ergibt sich der Eindruck größter dynamischer Komplexität. Die gesprochene Sprache wirkt nicht nur auf die Körper geworfen, sondern zugleich auch von diesen gelöst, denn die Bewegung des Schriftbilds erscheint mit der der Körper nicht synchronisiert. Der multilinguale Text schiebt sich als lichtstarke Projektion auf dem Gaze-Schirm buchstäblich zwischen Akteure und Zuschauer. Auf diese Weise wird der potentiell trennende Charakter der Sprache, aber zugleich auch die ästhetische Schönheit der verschiedenartigen Schriftzeichen erfahrbar. Schrift und Sprache affizieren die Körper der Schauspieler*innen und die Wahrnehmungstätigkeit der Zuschauer*innen gleichermaßen, aber in unterschiedlicher Richtung.

Die Art der Projektion wird entscheidend dadurch geprägt, dass alle Darsteller*innen auf der Bühne in clownesken Ganzkörper-Masken aus Gummi agieren (Kostüme: Eva-Maria Bauer). Da zudem die Stimmen in der indirekten Wiedergabe über Mikroports teilweise wie durch Lachgas verzerrt klingen, erhält die gesamte Inszenierung einen grotesken Grundton. Die in den Medien viel diskutierte Zusammensetzung des Exil Ensembles aus nach Deutschland geflüchteten Schauspieler*innen aus Syrien, Palästina, Afghanistan und anderen Regionen des nahen und mittleren Ostens ist unter den Gummi-Kostümen und durch die Transformation der Stimmen schlicht nicht mehr wahrnehmbar. Die Körper scheinen sich aber nicht nur der Zuschreibung von Nationalitäten und anderen Identitätsmerkmalen zu entziehen, sie sind auch nicht lesbar im Hinblick auf individuell zurechenbare Emotionen. Neben der Maskierung der Gesichter ist es die Form der Inszenierung als Groteske, die es unmöglich macht, einzelnen Akteuren bzw. Figuren ernsthaft bestimmte Emotionen zuzuordnen. Es wäre auch unklar, auf welchem kulturellen Repertoire diese Emotionszuschreibung hier fundiert werden könnte. Gaze-Schirm, Schrift-Projektionen und Clowns-Kostüme unterstreichen als dreifache Barriere zwischen Publikum und Schauspieler-Körper die radikale Indirektheit und Unzugänglichkeit des sichtbaren Ausdrucks. Zugleich wirken die Gummi-Kostüme in mehreren Richtungen affizierend: Sie sorgen für den Grundton der Groteske, der das gesamte Bühnenarrangement dominiert. Sie bestimmen die mimischen und gestischen Ausdrucksmöglichkeiten der Schauspieler*innen. Und sie prägen entscheidend auch die Erfahrungen der Zuschauer*innen, denn ganz gleich wie man je individuell auf aggressive clowneske Fratzen und gummihaft eingeschnürte Körper reagiert: In jedem Fall sind es Eindrücke, die das affektive Vermögen der Wahrnehmenden über den gesamten Zeitraum der Aufführung beschäftigten. Das politische Potential der Aufführung ergibt sich aus eben dieser sinnlich-räumlichen Erfahrung: dass eine künstlerische Auseinandersetzung mit Krieg, Gewalt und Flucht nur in komplexer sprachlich-ästhetischer Vermittlung und damit höchst indirekt, gebrochen und offen für Missverständnisse vielfältigster Art möglich ist.

Eine so ausgerichtete Analyse würde also gerade nicht darauf abzielen, einzelnen Akteuren bestimmte Emotionen zu unterstellen oder überhaupt die emotionale Dimension des Theaters in den Vordergrund zu rücken. Es geht vielmehr um den Versuch, durch eine relationale Sicht auf das Geschehen nach dessen affizierenden Potentialen zu fragen. Die Beziehungsverhältnisse der Aufführung sollen analysiert werden, ohne sich dabei auf die personalen Interaktionen auf der Bühne oder die Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum zu beschränken. Die materiellen Arrangements wären in einem umfassenden, nicht mehr anthropozentrischen Sinne zu erfassen. Affekttheorie, Objekttheorie, spekulativer Realismus und andere theoretische Impulse der letzten Jahre verweisen auf die Notwendigkeit, eine Schreibweise zu überwinden, die alle Elemente einer Aufführung stets auf die Position des*der Schreibenden zu beziehen tendiert. Aufführungen sind affizierte und zugleich affizierende Konstellationen, die sich in permanenter Bewegung befinden und in dieser Bewegung die Positionen des Agierens und Zuschauens immer wieder neu verteilen. So käme es für affektorientierte Aufführungsanalysen darauf an, sich von vornherein auf Relationen und Konstellationen statt auf die eigenen subjektiven Empfindungen zu konzentrieren. Es liegt auf der Hand, dass beides nicht einfach voneinander zu trennen ist. Aber gerade in politischer Hinsicht bedeutet es einen Unterschied, ob man subjektive Empfindungen, den eigenen, individuellen Standpunkt stark macht – oder aber Relationen und Verdichtungen betont, die den eigenen Standpunkt immer auch destabilisieren können.

Eine Differenz zu betonen zwischen solchen Schreibweisen, die das eigene Empfinden in den Mittelpunkt rücken, und anderen, die sich auf das Beschreiben von Relationen im Aufführungsraum konzentrieren, darf den Blick nicht davor verschließen, dass Aufführungsanalysen immer an spezifische Perspektiven und Positionen gebunden sind. Die Perspektivik des Beschreibens ist unhintergehbar, und man würde hinter die Standards schon der frühen, semiotischen Aufführungsanalyse zurückfallen, wenn man die Abhängigkeit des Analysierens von der eigenen sozialen und kulturellen Situiertheit leugnen wollte. Aus der Anerkennung dieser grundsätzlichen Perspektivik aufführungsanalytischen Schreibens lassen sich aber unterschiedliche Konsequenzen ziehen. Man kann sich umso entschiedener auf die sprachliche Repräsentation des eigenen Erlebens festlegen.2 Eine andere Vorgehensweise, für die ich hier plädieren möchte, relativiert die eigene Position durch eine relationale Perspektive – und interessiert sich darüber hinaus für die Frage, wo sich die verschiedenen Perspektiven auf die Aufführung manifestieren bzw. an welchen Materialien sie untersucht werden können.

Eine Theateraufführung, das sei hier nur als Ausblick angedeutet, bringt solche Materialien selbst hervor. Aufführungen sind nicht nur auf Diskurse bezogen, sie generieren auch ihrerseits Diskurse, und diese generative Seite von Aufführungen müsste in der Analyse stärker beachtet werden. Was bedeutet es, Aufführungen als diskursgenerierende Ereignisse zu konzeptualisieren? Es bedeutet ernst zu nehmen, dass das Hier und Jetzt der Aufführung in allen Richtungen diskursive Erweiterungen hervorbringt. Die Texte, in denen sich diese Weiterungen niederschlagen, reichen von frühen Interviews mit dem Dramaturgen oder der Regisseurin über Programmhefte, Notizen und Diskussionsprotokolle von den Proben, Vorabberichte der Presse, Publikumsgespräche, begleitende Podiumsdiskussionen bis hin zu Rezensionen, Blogs und weiteren Rezeptionsdokumenten. Durch Interviews mit Teilnehmenden hat die Theaterwissenschaft die Möglichkeit, die Palette der aus der Aufführung heraus entstehenden Texte sogar noch zu erweitern. Sicher kann man einwenden, dass auch diese Materialien bei weitem nicht alle Perspektiven auf die Aufführung abdecken und erneut nur die Sichtweise eines ohnehin schon dominanten ‚Theatermilieus‘ reproduzieren. Gleichwohl zeigt sich, dass die von der Aufführung generierten Texte von innerer Vielstimmigkeit geprägt sind und auf Machtkonflikte und Deutungskontroversen hinweisen, die einer internalistischen Sichtweise verborgen bleiben würden.

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