Kitabı oku: «MUSIK-KONZEPTE 192-193: Sándor Veress»

Yazı tipi:

Ulrich Tadday (Hrsg.)

MUSIK-KONZEPTE 192/193 IV/2021

Sándor Veress


MUSIK-KONZEPTE

Die Reihe über Komponisten

Herausgegeben von Ulrich Tadday

Heft 192/193

Sándor Veress

Herausgegeben von Ulrich Tadday

April 2021

Wissenschaftlicher Beirat:

Ludger Engels (Berlin, Regisseur)

Detlev Glanert (Berlin, Komponist)

Jörn Peter Hiekel (HfM Dresden/ZHdK Zürich)

Laurenz Lütteken (Universität Zürich)

Georg Mohr (Universität Bremen)

Wolfgang Rathert (Universität München)

Print ISBN 978-3-96707-389-8

E-ISBN 978-3-96707-391-1

Umschlaggestaltung: Victor Gegiu

Umschlagabbildung: Magyar Képszolgálat 1948 (PSS, Sammlung Sándor Veress)

Die Hefte 1–122 und die Sonderbände dieses Zeitraums wurden von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn herausgegeben.

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021

Levelingstraße 6a, 81673 München

www.etk-muenchen.de

Inhalt

Vorwort

I Zur Biografie von Sándor Veress

CLAUDIO VERESS

Auswandern – wohin, wann, wie? Zur Vorgeschichte von Sándor Veress’ Emigration

CLAUDIO VERESS Zu einem unerwarteten Fund in der Musiksammlung der ­Budapester Széchényi-National­bibliothek (OSZK) Sándor Veress’ Bühnenmusik zu Imre Madáchs Az ember tragédiája (Die Tragödie des Menschen)

II Sándor Veress in der Kompositionsgeschichte: Fremd- und Selbstzeugnisse

SÁNDOR VERESS New Trends in European Music since World War II Herausgegeben von Thomas Gerlich

THOMAS GERLICH Im Konflikt mit der Avantgarde Zu Sándor Veress’ Vortrag »New Trends in European Music since World War II«

PETER LAKI Ein Dauphin im Exil Anmerkungen zum Lebenslauf von Sándor Veress

III Werkinterpretationen

ROLAND MOSER Musikalische Spielobjekte und ihre durchlässigen Ränder Mit Beispielen aus den Sonatinen für Kinder (1932–35) und Orbis tonorum (1986)

DAGMAR SCHMIDT-WEHINGER Formale Strategien als Quelle musikalischen Ausdrucks in den Sonatinen für Kinder (1932–35) Sándor Veress als Musikpädagoge

PETER LAKI Eine »japanische« Episode in der 1. Sinfonie (1940) von Sándor Veress?

IOANA BAALBAKI Quattro danze transilvane von Sándor Veress

ANDREAS TRAUB Zur Zwölftonkomposition im 2. Satz des Streichtrios (1954) von Sándor Veress

HEINZ HOLLIGER Sándor Veress: Passacaglia concertante für Oboe und Streichorchester (1961)

GREGOR WITTKOP Verweigerter Einklang Sándor Veress vertont Hermann Hesse

BODO BISCHOFF »… bildend, verwerfend, abändernd …« Zum kompositorischen Prozess des Kopfsatzes (Madrigale I) aus Sándor Veress’ Komposition Das Glasklängespiel anhand der Skizzen und Entwürfe

BODO BISCHOFF »Sternbildern gleich ertönen sie kristallen« Zu einem harmonikalen Motiv im Madrigale I-Satz von Sándor Veress’ Komposition Das Glasklängespiel

ANDREAS TRAUB Zum Madrigale II im ­Glasklängespiel

Abstracts

Bibliografische Hinweise

Zeittafel

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Sándor Veress war Schüler Béla Bartóks und Zoltán Kodálys, dessen Nachfolger er als Professor für Komposition an der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dort György Kurtág, György Ligeti und Lajos Vass seine Schüler. Als der Stalinismus in Ungarn seinen Höhepunkt erreichte, emigrierte Veress in die Schweiz, wo er 1950 als Lehrer für Allgemeine Musikpädagogik, theoretische Fächer und Komposition an das Konservatorium Bern berufen wurde. Mit der Emigration wandte sich Veress in einer ihm eigenen, freien, undogmatischen Weise der Dodekaphonie zu und verfolgte einen kompositorischen Weg, der ihn nicht nur auf Distanz zum Darmstädter Serialismus brachte. Charakteristisch für Veress blieb eine gewisse Experimentierfreudigkeit, die sich erst in seinen späten Werken – melodisch gebrochen – abklären sollte. Veress ist als einer der bedeutendsten ungarischen Komponisten der Generation nach Bartók und Kodály anzusprechen. Er hat ein umfangreiches Œuvre hinterlassen, das es verdient, weiter entdeckt zu werden.

Die Autoren des vorliegenden Bandes geben gewissermaßen eine Gesamtschau über Sándor Veress’ Leben und Werk, und dies in drei konzentrischen Kreisen: Während der erste, innere Kreis die Lebensgeschichte des Komponisten in den Blick nimmt, schließt der zweite, mittlere Kreis die Wirkungsgeschichte mit ein. Der dritte, äußere und größte Kreis umfängt Interpretationen seiner Werke in einer Reihe von Einzelanalysen, angefangen bei den Sonatinen für Kinder über die Vier transsylvanischen Tänze und die Passacaglia concertante bis hin zum Glasklängespiel.

Der Dank des Herausgebers gilt allen beteiligten Autoren und Autorinnen, zuallererst aber Bodo Bischoff, der die Anregung zu diesem Band gegeben und ganz wesentlich zu dessen Verwirklichung gemeinsam mit Thomas Gerlich, Andreas Traub und Claudio Veress beigetragen hat. Zu danken gilt es der Paul Sacher Stiftung, namentlich Heidy Zimmermann (Kuratorin des Sándor Veress Nachlasses) und Evelyne Diendorf (Bibliothekarin) für die Herstellung und Freigabe der Abbildungen und Balász Mikusi (Széchényi-Nationalbibliothek Budapest), der zahlreiche, bislang unbekannte biografische und kompositorische Quellen zugänglich gemacht hat. Dank gebührt nicht zuletzt Thomas Schipperges für die Ausrichtung des Internationalen Sándor Veress Symposions 2017 am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Tübingen, auf das einige Beiträge des vorliegenden Bandes zurückgehen.

Ulrich Tadday

I Zur Biografie von Sándor Veress


Abbildung: Sándor Veress an Enid Veress-Blake, Rom, 1. Mai 1942, S. 2 (PSS, Sammlung Sándor Veress)

Die Seite ist ein repräsentatives Beispiel für das Zusammentreffen unterschiedlichster Inhaltsebenen in den großmehrheitlich sehr ausführlichen Rom-Briefen Veress’ an seine Frau in Budapest. Die Skizzen im »P. S.« sind eine liebevoll-humorige Erinnerung an die Adressatin, sich beim Schuhmachermeister unweit des Pester Brückenkopfs der Franz-Joseph-Brücke (heute: Freiheitsbrücke, Szabadság híd) nach dem Fortgang einer in Auftrag gegebenen Schuhreparatur zu erkundigen.

CLAUDIO VERESS

Auswandern – wohin, wann, wie?

Zur Vorgeschichte von Sándor Veress’ Emigration

»Es ist ein Fluch, in interessanten Zeiten zu leben.«

Hannah Arendt

Die Biografik zu Sándor Veress sieht sich mit einer komplexen Situation konfrontiert: Einerseits kann sie sich auf autorisierte Darstellungen stützen, die v. a. im letzten Lebensjahrzehnt des Komponisten, eröffnet durch ein im Umfeld seines 75. Geburtstages (1. Februar 1982) neu erwachendes ungarisches Interesse an seiner Person und seinem Werk, erschienen sind.1 Andererseits kann und muss sie von der Tatsache Gebrauch machen, dass Veress spät im Leben beschlossen hatte, seinen gesamten – nicht nur kompositorischen – Nachlass der Basler Paul Sacher Stiftung (PSS) zu Forschungszwecken zur Verfügung zu stellen. Und in diesem ausgesprochen reichhaltigen Material findet sich, wie nicht anders zu erwarten, etliches, das, nimmt man die erwähnten Selbstzeugnis-gestützten Publikationen zum Maßstab, Züge einer inoffiziellen Biografie erkennen lässt, deren Rekonstruktion durch nicht zuletzt politisch unwegsames Gelände führt. Die Herausforderung an Spätgeborene besteht darin, sich zu dieser Sachlage so objektiv, aber auch so besonnen wie möglich zu verhalten.

Aufgrund der schieren Tatsache der Emigration von Ost nach West in weltpolitisch bewegtester Zeit und der selektiven Hinweise, die Veress immerhin selbst gegeben hatte, versteht es sich fast von selbst, dass sich mit schon bald nach seinem Tod am 4. März 1992 einsetzender Quellensichtung biografische und schaffensbiografische Fragestellungen herausbildeten, die zu Re-Lektüren v. a. des Zeitraums 1939–49 führten. Der vorliegende Beitrag knüpft an diese Bemühungen an, ein möglichst differenziertes Bild des wohl kritischsten Jahrzehnts in Veress’ Biografie zu gewinnen, indem er einerseits Ergebnisse aus Recherchen resümiert, die durch neuere Akquisitionen der Budapester Nationalbibliothek (Országos Széchényi Könyvtár, OSZK) aus dem Nachlass Endre Veress’, des Bruders des Komponisten, und kürzliche Funde im Budapester Nationalarchiv (Magyar Nemzeti Levéltár, MNL) möglich wurden, andererseits Korrespondenz-Bestände der PSS Basel neu berücksichtigt, von denen man bisher nur eine vage Vorstellung hatte.2 Der Focus wird dabei auf fünf thematischen Hauptkomplexen liegen: Rom 1940/41 und 1942, Budapest 1945, London 1947, schließlich Rom 1949. Der Anspruch kann im Rahmen des hier zur Verfügung stehenden Raums selbstredend nur sehr bescheiden sein. Gewonnen wäre schon einiges, wenn die gegebenen Hinweise geeignet wären, zu vertiefenden Untersuchungen anzuregen.

I Rom 1940/41

Veress war im November 1939, knappe drei Monate nach Kriegsausbruch, aus London, wo er fast ein Jahr zusammen mit seiner Freundin und späteren Ehefrau, der aus Bombay im damaligen Britisch-Indien gebürtigen Pianistin Enid Blake, verbracht hatte und wo sich vielversprechende Verbindungen zur Musikabteilung der BBC und zum Verlagshaus Boosey & Hawkes ergeben hatten3, nach Ungarn zurückgekehrt – von außen und im Nachhinein betrachtet wider alle kalkulierende Vernunft, aber mit der Vision einer humaneren Gesellschaft vor Augen, zu deren Verwirklichung auf ungarischem Boden er seinen Beitrag leisten wollte.4 Das Projekt – gleichzeitig ein persönlicher Lebensentwurf – lässt sich mit vier Stichworten charakterisieren: Musikethnografie, Musikpädagogik, Klavier, Komposition »guter Musik«5. Dem erstgenannten Anliegen konnte er immerhin in einer staatlich geförderten Position nachleben – einer schon 1936 angetretenen Assistenzstelle unter Bartóks, später Kodálys Federführung im großen Anthologie-Projekt der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, das ab 1951 zur Edition des Corpus Musicae Popularis Hungaricae führen sollte.6 Ein existenzsicherndes Lehramt, vorzugsweise an der Liszt-Akademie, lag aber noch in weiter Ferne. Und was die Komposition guter Musik angeht, lag zwar eine respektable, wenngleich weitgehend unpublizierte Reihe von Partituren kleiner und mittlerer Besetzungsgrößen – darunter etliche unter Beteiligung des Klaviers – vor, noch nicht aber das öffentlichkeitswirksame Werk sinfonischen Anspruchs. Die Komposition der 1. Sinfonie kurz nach der Rückkehr aus England liegt in der Logik dieser Konstellation.7 Indem Veress sie als Hungarian Greetings zum 2600-Jahr-Jubiläum des japanischen Imperiums einreichte, lief er freilich Gefahr, sein erstes groß besetztes Werk der politischen Instrumentalisierung durch die aktuell dominierenden Mächte auszuliefern. Dieses Risiko scheint in seiner Einschätzung weniger schwer gewogen zu haben als der stark gefühlte – nicht zuletzt familiär kultivierte – Imperativ, von seiner Kunst auch materiell existieren zu sollen.

Ein ähnlich dimensioniertes, jedoch in ganz anderem Gattungsfeld angesiedeltes Projekt eröffnete sich Veress Ende 1940 durch seine auf das Jahr 1937 zurückgehende Freundschaft mit dem Choreografen, Tänzer und Regisseur Aurél von Milloss. Dieser hatte 1938/39 in Zusammenarbeit mit Béla Paulini und dessen Truppe Magyar Csupajáték Veress’ Kammer-Ballett A Csodafurulya (Die Wunderschalmei) in je ca. 30 Vorstellungen in Budapest und London zur Aufführung gebracht und für November 1940 weitere Aufführungen des Stücks am Teatro delle Arti zu Rom – seinem Lebensmittelpunkt seit 1937 – unter der musikalischen Leitung von Fernando Previtali aufs Programm gesetzt.8 Im Anschluss an die dritte Aufführung vom 24.11.1940, die Veress ursprünglich selbst hätte leiten sollen, zu der er aber offenbar erst im letzten Moment hatte anreisen können9, wollten Komponist und Choreograf, unterstützt durch einen Dritten im Bunde, den Maler und Bühnenbildner István Pekáry, »etwas wirklich (S)chönes und (G)rosses (…) schaffen«10: ein längeres, größer besetztes Stück, dessen Plot wiederum auf einem ungarischen Volksmärchenstoff basieren sollte und das sich in den großen Häusern Italiens – Scala di Milano, Gran Teatro La Fenice di Venezia, Teatro del Maggio musicale Fiorentino, Teatro Reale dell’Opera di Roma –, mit denen Milloss vernetzt war, realisieren ließe. Diesem Zweck sollte ein längerer Aufenthalt in Rom dienen, der aber finanziert werden musste. Daher hatte sich Veress in seiner Eigenschaft als ausgewiesener Musikethnograf im Herbst 1940 beim Nationalen Ungarischen Stipendienrat auf ein einsemestriges Forschungsstipendium an der Römer Regia Accademia d’Ungheria (alias Collegium Hungaricum11) beworben. Als akademisches Vorhaben definierte er ein Feldforschungsprojekt, das ihn wahrscheinlich in Dörfer des Latium geführt hätte, wäre es realisiert worden.12 Das Stipendium wurde dem Gesuchsteller zwar kurz nach dessen Ankunft in Rom durch das Budapester Unterrichtsministerium bestätigt und hätte ihm einen kontinuierlichen Aufenthalt bis Ende Juni 1941 ermöglicht.13 Veress reiste jedoch schon nach einem Monat wieder ab, verbrachte Jahreswechsel und Januar zuhause und begab sich Anfang Februar 1941 zunächst mit dem Geiger Sándor Végh auf eine kurze Konzerttournee durch Norditalien, bevor er sich Ende des Monats wieder in Rom niederließ. In der Folge erwiesen sich allerdings die praktischen Hindernisse, seine Lebensgefährtin – immer noch Inhaberin eines britischen Passes, da nicht mit Veress verheiratet – nach Rom nachreisen zu lassen, als derart unüberwindbar, dass er den Versuch (vermutlich gegen Mitte April) abbrach, nach Budapest zurückkehrte und das Stipendium verfallen ließ. Was eigentlich intendiert war, die Utopie eines gemeinsamen freien Lebens in Rom, schildert einer der ersten Briefe an Enid Blake vom Dezember 1940:

»Du würdest dich (hier) sehr gut (be)finden, da trotz andere(r) kleine(r) Schwierigkeiten wir etwas haben könnten, was uns in Bpest so sehr fehlt: Unabhängigkeit und ein viel freieres Leben als in der Hunfalvy-utca. (…) Selbstverständlich nur so, dass wir uns verheiraten. Man weiss() freilich nicht, wie die Verhältnisse sich verändern werden, aber jetzt sieht es jedenfalls so aus, dass (…) für mich, mit de(m) Erfolg meines Balletts, weitere Möglichkeiten sich geben werden. Aber wenn auch nichts, nur, dass ich die Möglichkeit habe, ein halbes Jahr mit Milloss zusammen (zu) arbeiten (…), es ist der Mühe wert, diese Möglichkeit auszunützen.«14

II Rom 1942

Der abgebrochene Versuch des Frühjahrs 1941 fand ein Jahr später eine erstaunliche Fortsetzung: Veress hatte im Sommer bei der Behörde nachgehakt und ein Folgestipendium erwirken können, diesmal auf acht Monate angelegt.15 Zwischen Ende März und Anfang August 1942 lebte er wiederum im Collegium Hungaricum, kehrte dann für einen kurzen Monat nach Budapest zurück und brach schon im September wieder Richtung Venedig auf, um am 8.9.1942 an der dortigen Biennale mit Végh seine drei Jahre zuvor komponierte Seconda Sonata aus der Taufe zu heben.16 Den Oktober und November verbrachte er nochmals – und diesmal zusammen mit Enid Blake, die er am 12.7.1941 in Budapest geheiratet hatte – in Rom.

Obwohl der Komponist sein erklärtes Ziel, das während des Frühsommers konkrete Gestalt annehmende neue Ballett Térszili Katicza in einem der erwähnten Häuser zu lancieren, schließlich nicht realisieren konnte, brachte ihm der zweite Rom-Aufenthalt eine Fülle von Anregungen, deren Bedeutung für seine künstlerische Entwicklung gar nicht überschätzt werden kann. Das Geschenk eines ungestörten Arbeitsorts in einzigartiger Umgebung, mitten im historischen Zentrum der Stadt und mit Aussicht auf den nahen Tiber gelegen, deblockierte nach fast zwei Jahren schmerzlich erlebter kompositorischer Unfruchtbarkeit im Budapester familiären Bienenkorb seine kreativen Energien. Milloss befand sich zwar zwischen Ende April und Ende Juni gar nicht in Rom: Grund dafür war – ausgerechnet – ein Engagement an der Budapester Oper.17 Aber die Klammer von Perioden fast täglichen Austauschs, die sich um diese Abwesenheitslücke des Freundes schloss, scheint doch die weitgehende Fertigstellung der Katicza-Partitur ermöglicht zu haben. Am 6.7.1942 schreibt Veress aus Rom nach Budapest, sowohl Mario Labroca in Florenz (Maggio Musicale) als auch Tullio Serafin in Rom (Teatro dell’Opera) zeigten substanzielles Interesse an einer italienischen Uraufführung des Balletts. Der Kriegsereignisse wegen konnte es aber weder in der italienischen Saison 1942/43 noch im Budapester Winter 1943/44, wie vom Komponisten ursprünglich erhofft, zu einer solchen kommen. Vielmehr sollte es bis Februar/März 1949 dauern, bis sich in Stockholm und Rom wieder eine entsprechende Konstellation ergab.18

Die künstlerische Atmosphäre, die Veress in Rom vorfand, war trotz mancherlei ideologisch motivierter Beschränkungen, die sich seit Beginn der 1930er Jahre auch im faschistischen Italien immer deutlicher bemerkbar gemacht hatten, verglichen mit den Zuständen in Ungarn und dem Deutschen Reich, auffällig offen für progressive Impulse. Näher gesehen handelte es sich hierbei um die eine, quasi-liberale (und von Mussolini persönlich weitgehend gedeckte) Seite einer komplexen Gemengelage, die Umberto Eco in seinem Essay Eternal Fascism wie folgt beschreibt:

»Der italienische Faschismus war zweifellos eine Diktatur, aber er war nicht durchgehend totalitär (…). Es gab keinen faschistischen Shdanow, der eine strikte kulturpolitische Linie vorschrieb. Es gab in Italien zwei bedeutende Kunstpreise: Der Premio Cremona wurde von einem ungebildeten und fanatischen Faschisten wie Roberto Farinacci kontrolliert, der eine propagandistische Kunst förderte (…); der Premio Bergamo wurde von dem gebildeten und einigermassen toleranten Faschisten Giuseppe Bottai finanziert, der sowohl die L’art-pour-l’art-Richtung schützte als auch die vielen Arten der Avantgardekunst, die in Deutschland als ›entartet‹ und ›kryptokommunistisch‹ galten, da allein der Germanenkitsch zugelassen war.«19

Ein ähnliches Bild – spezifisch auf die Verhältnisse in der Musikszene gemünzt – zeichnet Goffredo Petrassi, von 1937 bis 1940 Intendant des Teatro La Fenice di Venezia und seit 1939 Kompositionslehrer am Römer Conservatorio di Santa Cecilia, in einem von Harvey Sachs 1987 veröffentlichten Interview.20

So befremdlich es »with the benefit of hindsight« erscheinen mag: Freiräume dieser Art, die es in Ungarn und Nazi-Deutschland nicht mehr gab, machten anscheinend den entscheidenden Unterschied aus, den der junge Komponist in seiner existenziellen Suche nach einem geschützten Ort kreativer Unbelangbarkeit wahrnahm – und der ihn geradezu euphorisierte. Da er das Zufallsglück hatte, nicht persönlich von ihnen betroffen zu sein, konnte er die Tatsache, dass es inzwischen auch in Italien rigide Rassengesetze nach dem Modell des Dritten Reiches21 gab, die die jüdischen Beiträge zum kulturellen Überbau systematisch von diesem ausschlossen, gleichsam dem – wenn auch unliebsamen – »Hintergrundrauschen« der Zeit zuschlagen, vor dem die relative Toleranz seines Gastlandes gegenüber avantgardistischem Schaffen erkennbar abstach.22 Im Briefwechsel mit seiner Frau finden sich denn auch Tagträume, in denen er – vermutlich nicht gänzlich unbeeinflusst von kulturpolitischen Elementen mussolinischer Rhetorik auf dem damaligen hegemonialpolitischen Höhepunkt der »Achse Rom-Berlin«23 – Wunschprojektionen auf eine Nachkriegszeit unter der kulturellen Ägide Italiens freien Lauf lässt und die belegen, dass die Rom-Fluchten in seiner Biografie alles andere als akzidentelle Episoden, vielmehr höchst ernsthaft unternommene Emigrations-Proben waren. Dabei taucht zum ersten Mal in bislang bekannten Selbstzeugnissen auch die Kategorie »Europa« auf, die in späteren Reflexionen des Emigrationskontexts unter inzwischen gewandelten Vorzeichen in der Formel vom »weiten europäischen Horizont« zum nicht nur geografisch-politischen, sondern ästhetischen Bekenntnis24 werden sollte:

»Ich habe Dir mehr als einmal über meinen Glauben und meine Überzeugung geschrieben, wonach Italien im neuen Nachkriegs-Europa die führende Nation in allen kulturellen und künstlerischen Belangen sein werde. (…) Der hohe Standard der Musik, ihr (der Italiener, Anm. CV) Ernst und ihr Bestreben, ihr Bestes zu geben, ihr Interesse an moderner Musik, der Reichtum der Konzert- und Theaterprogramme und ihr gesunder Internationalismus, der auf nichts anderes als die Qualität der Kunst achtet (…), geben Anlass zu bester Hoffnung für dieses Volk. Ich muss sagen, dass ich mehr und mehr beginne, ein Bürger Europas als eines bestimmten Landes zu sein, was nicht bedeutet, dass ich Ungarn nicht lieben würde – aber was ich sicherlich nicht liebe, ist Budapest und jenen scheusslichen Ungeist, der jede tiefergehende künstlerische Initiative tötet. Ich kann mir vorstellen, mein Leben gerade so glücklich in Rom oder London zu verbringen, wie es sich andere Ungarn ausschliesslich vorstellen können, in Budapest zu leben.«25

Aus den Konzertereignissen neuer Musik – auf ein schlechthin prägendes des Spätherbstes wird noch näher einzugehen sein – stechen v. a. ein Radiokonzert unter der Leitung Previtalis Ende April und der Florentiner Maggio Musicale von Ende Mai hervor. Bei Ersterem handelte es sich um Veress’ initiale Begegnung mit Bartóks Divertimento und einem Werk Luigi Dallapiccolas für Frauenchor und Kammerorchester: »ein hervorragendes Stück, das ich sogar noch mehr genoss als den Bartók«26 (welch bemerkenswertes Urteil!). Über das zweite Ereignis berichtet prospektiv – ob der Plan verwirklicht wurde, lässt sich anhand der erhaltenen Korrespondenz nicht zweifelsfrei belegen – ein Brief an Alfred Schlee bei der Universal Edition:

»Ende dieses Monats fahre ich nach Florenz um Busonis Doktor Faust und die von Dallapiccola neulich bearbeitete Oper von Monteverdi ›Il ritorno di Ulisse‹ anzuhören. Kommen Sie nicht hin? Es wäre schön, ein wenig Zeit zusammen mit unseren Freunden in Florenz zu verbringen.«27

Es steht stark zu vermuten, dass Dallapiccola von Veress als zu dem hier erwähnten »Freundes«-Kreis gehörig mitgemeint ist. Der Florentiner Kollege schreibt jedenfalls gut drei Wochen früher ebenfalls an Schlee, dass er Veress seine Canti di prigionia anlässlich eines Besuchs in Budapest Anfang März überlassen habe und fest damit rechne, dass jener nach Florenz komme und ihm die Partitur dieses Werks zurückbringe, er wolle sie nämlich Anton Webern schicken.28 Andreas Traub vermutet zu Recht, dass eine solche Überlassung eines frischen Manuskripts – noch dazu eines politisch so klar Stellung beziehenden – nicht unter Kollegen hätte stattfinden können, die nicht in einem Vertrauensverhältnis zueinander standen.29 Leider gibt die Rom-Korrespondenz – und geben auch andere bisher bekannte Dokumente dieser Periode – keine weiteren Aufschlüsse über einen engeren Austausch zwischen Veress und Dallapiccola. Hätte es einen gegeben, dürften wir ihn möglicherweise zu den frühesten kollegialen Auseinandersetzungen zu Fragen der Reihentechnik in Veress’ Entwicklung als Komponist zählen.30

Was im Falle Dallapiccolas – zumindest bis auf Weiteres – vage bleiben muss, lässt sich im Fall des oben schon erwähnten Goffredo Petrassi wesentlich besser belegen.31 Schon kurz nach Veress’ Ankunft kam es hier zu einer ersten Begegnung:

»Freitag (a)bends war ich bei Petrassi eingeladen. Ich schätze ihn sehr hoch, als Künstler ebenso wie menschlich. Es ist in diesem Manne etwas so rein und unverdorben, was man heutzutage sehr selten finden kann. Dabei ist er ein ernster und hochbegabter Musiker. Es ist bemerkenswert, dass er vom Lande kommt, seine Eltern waren Bauern. Er ist also die erste Generation, welche immer so fein und stark ist.«32

In Petrassi lernte Veress einen Kollegen kennen, der neben verwandten ästhetischen Idealen auch seine eigenen musikethnografischen Interessen teilte. Dies geht u. a. aus dem Schlussbericht hervor, den er dem Nationalen Stipendienrat im Sommer 1943 einreichte, wo er die von Petrassi und Giorgio Nataletti 1930 herausgegebene Sammlung Canti della campagna romana besonders lobt.33 Dabei verrät der Hinweis auf Petrassis bäuerliche Herkunft viel über Veress’ eigenes ästhetisches Ideal, das er in der Person des anderen – in scharfem Kontrast zur Situation seiner eigenen »sentimentalischen« Vermitteltheit34 – geradezu verkörpert sehen konnte. Aus anfänglichen Sympathien scheint sich über die Wochen ein recht eigentlich freundschaftliches Verhältnis entwickelt zu haben (»Petrassi ist sehr liebenswürdig mit mir und ich habe ihn sehr gerne.«35) – und im Frühsommer kam es sogar seitens des Italieners zu einem professionellen Sukkurs, der für Veress’ künftige Laufbahn als Komponist von entscheidender Bedeutung werden sollte – einer Empfehlung an das Mailänder Verlagshaus Edizioni Suvini Zerboni:

»Ich habe gute Nachrichten. Es scheint, dass ich hier in Mailand durch einen sehr guten Verleger publiziert werden soll, der sich sehr für die Musik unserer Zeit interessiert und sehr schöne Editionen von modernen italienischen Komponisten wie Dallapiccola, Petrassi, Malipiero etc. herausbringt. Er kannte meinen Namen, aber es ist eigentlich Petrassi, der seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt hat, dass ich noch nicht verlegt bin, und ich habe ihn hier in Rom getroffen.«36

Was sich hier anbahnte, konnte sich zwar erst volle sieben Jahre später in größerem Umfang zu entfalten beginnen – Veress sollte Rom und Italien erst 1949 wiedersehen –, markiert jedoch nichtsdestoweniger die Grundlegung dessen, was im Sommer 1939 in London noch versäumt worden war, nämlich die stabile Bindung an ein seriöses, an neuer Musik substanziell interessiertes und international tätiges Verlagshaus.

Veress hat in späteren Jahren nur sehr sparsam über seine Rom-Erlebnisse der frühen 1940er Jahre gesprochen. Wenn er aber darüber sprach, malte er ein Ereignis in lebendigsten Farben aus – die italienische Erstinszenierung von Bergs Wozzeck, die am 3., 7, und 11. November 1942 unter der musikalischen Leitung Tullio Serafins in der Regie Aurél von Milloss’ am Teatro dell’Opera über die Bühne ging.37 Für Petrassi aus der Rückschau Schlüsselbeispiel des nicht nur unabhängigen, sondern sogar antifaschistischen Geistes der damaligen Römer Musikszene,38 hatte für Veress das Erlebnis dieser Aufführungen – er hörte sie alle und verfolgte auch die Proben – die Bedeutung einer ästhetischen Initiation.39 Die Werke der Wiener Schule hatten in seiner bisherigen künstlerischen Entwicklung so gut wie keine Rolle gespielt – im Ungarn der 1920er und 1930er Jahre gab es auch keine nennenswerte Rezeption dieser Impulse.40 Mit dem Wozzeck ging ihm eine neue Welt auf, wie er in einem nach der Rückkehr nach Budapest geschriebenen Brief an Schlee freimütig gesteht:

»Wie geht es Ihnen nach den schönen, vom Wozzeck gekrönten Tagen, die wir in Rom verbrachten? Ich höre noch immer diese wunderbare Musik, die mich so gefesselt hat, wie nur wenige zwischen den modernen Werke(n), die ich in den letzten Jahre(n) kennenlernte. Künstlerischer Stil und die Art, auf welche() Berg seine Gedanken in dieser Partitur dem Zuhörer mit(zu)teilen weiss – nichts zu sagen von seinem ungeheuren musikalischen Können – erscheinen mir in so einer vollkommenen Harmonie, die nur bei den grössten Künstler(n) vorhanden ist. Es ist eigentlich merkwürdig, dass ein musikalischer Stil wie die Schönbergische Schule in so kurzer Zeit mit Berg sich zu dieser Verfeinerung – Plastizität und Elastizität des künstlerischen Materials – entwickeln k(o)nnte. – Oder ist es vielleicht nicht einmal so merkwürdig; d(as) Genie braucht nur die Sprache – die immer zeitgenössische Sprache – um sich ausdrücken zu können und dann erfüllt e(s) die Form mit jenem unfassbaren, latenten Geist, der das Wesen alles wahren künstlerischen Schaffen(s) ist. War es nicht derselbe Fall mit den Mannheimer(n) und Mozart?«41

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