Kitabı oku: «Next Energy»

Yazı tipi:

DR. WERNER BRINKER (HRSG.) UND KIRSTIN HENGELAGE

Next Energy

Erzählungen aus unserer Zukunft

Unter Mitarbeit von Prof. Dr. Carsten Agert; Prof. Dr. Christoph Böhringer; Prof. Dr. Gert Brunekreeft; Dr. Jörg Buddenberg; Dr. Jörg Hermsmeier; MBA EUM Sebastian Jurczyk; Prof. Dr. Dr. h. c. Hans Kaminski; Prof. Dr. Stephan Rammler; Prof. Dr. Ulrich Wagner


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86936-610-4

Lektorat: Eva Gößwein, Goldbach

Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de Umschlagfoto: 75tiks/Fotolia

©2014 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem 2014 erschienenen Buchtitel “Next Energy” von Dr. Werner Brinker (Hrsg.) und Kristin Hengelage, ©2014 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-610-4

ISBN epub: 978-3-95623-137-7

www.gabal-verlag.de

Inhalt

Willkommen in der Zukunft

1 | Wie leben wir morgen?

Wir sind Familie Janssen – Personen und Orte der Zukunftserzählung

Samstag, 20. August 2050: Friesenhaus auf Fitnesskur

2 | Wie funktioniert unser Energiesystem?

Donnerstag, 15. September 2050: den Energiedinosauriern auf der Spur

Menschen brauchen Energie – Energiegeschichte ganz kurz

Es werde Licht! Elektrizität hat die Welt verändert

Energiewirtschaft, die große Unbekannte – Ein Blick auf die Energiemärkte

Welche Energien nutzen wir heute? Eine Frage der Umwandlung

Wo kommt der Strom her? Kraftwerkspark in Bewegung

Immer schön im Takt! Stromtransport unter Dauerspannung

3 | Wie sieht eine zukunftsfähige Energieversorgung aus?

Montag, 19. September 2050: intelligent organisiert von A nach B

Smart Home, Smart Grid, Smart City: Unser Energiesystem wird intelligenter

Intelligenter wohnen und arbeiten – Smart Home: mit der Haustechnik auf Du und Du

Intelligenter unterwegs – Elektromobilität: Antriebsbatterien im Dialog mit dem Energiesystem

4 | Warum müssen wir unser Energiesystem nachhaltig ändern?

Mittwoch, 21. September 2050: „rasten und rosten“ unmöglich

Mehr Menschen brauchen mehr Energie – die Bevölkerungsuhr tickt weiter

Vom Umgang mit begrenzten Ressourcen – was machen die Rohstoffpreise?

Den Klimawandel bremsen – alle Mann an Bord!

5 | Wie erreichen wir eine zukunftsfähige Energieversorgung?

Donnerstag, 22. September 2050: keine Veränderung ohne Vertrauen

Ein Blick auf unsere Stromrechnung – Rechnungsposten heute

Neue Regeln für den Strommarkt

Bitte nicht vor meiner Haustür – Akzeptanz als Kostenfaktor der Energiewende

Hinterm Gartenzaun geht’s weiter – Europas Stromversorgung wächst zusammen

Wie sieht die Stromrechnung morgen aus? Rechnungsposten im Jahr 2050

6 | Wie schaffen wir die nötige Veränderungsbereitschaft?

Freitag, 23. September 2050: Wissen macht klug, Erfahrung macht klüger

Offen für neue Technologien? Chancen und Risiken sachlich abwägen

Keine Frage der Ehre – ohne Wissen und Anreize kein energiebewusstes Handeln

Keine Energiewende ohne Bildungswende – Energiebildung für alle

7 | Los geht’s!

Samstag, 24. September 2050: viele Gäste, viele Meinungen

Einfach Energie sparen – Checkliste für einen energie- und umweltbewussten Alltag

Literatur- und Quellenverzeichnis

Glossar – Energiewende im Kurzüberblick

Herausgeber und Autoren

Willkommen in der Zukunft
Ein Vorwort der Autoren und Herausgeber

Liebe Leserin, lieber Leser,

haben Sie Zeit für ein wenig Zukunft? Dann laden wir Sie ein ins Jahr 2050, auf einen Besuch bei der norddeutschen Familie Janssen. Es sei gleich gesagt: Familie Janssen fliegt nicht mit ihrem Auto durch eine vertikal gewachsene Megastadt aus futuristischen Wolkenkratzern. In diesem Buch geht es nicht um Zukunftsvisionen à la Hollywood. Wir meinen, dass die kommenden Jahrzehnte auch ohne fliegende Autos oder böse Androiden äußerst spannende Herausforderungen bereithalten: Klimaveränderungen, das Wachstum der Weltbevölkerung, den demografischen Wandel und nicht zuletzt die Energiewende und damit den klima- und ressourcenschonenden Umbau der Energieversorgung.

Technische Fortschritte und neue wissenschaftliche Erkenntnisse werden – hoffentlich – dazu beitragen, diese Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen. Allerdings werden effiziente, intelligente, umweltschonende Techniken nur wirksam, wenn viele Menschen Zugang dazu haben und bereit sind, in diese Techniken zu investieren und ihr Energieverhalten zu verändern. Begleiten Sie unsere Modellfamilie Janssen durch den Spätsommer 2050, und erfahren Sie, wie der ganz normale Alltag nach der Energiewende aussehen könnte. Bis dahin wird dieses gesellschaftliche Großprojekt Sie, uns und die heranwachsende Generation voraussichtlich noch intensiv beschäftigen, denn grundlegende Veränderungen brauchen Zeit.

Was passiert bis Mitte des Jahrhunderts?

Um ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie weit die unbekannte Zukunft des Jahres 2050 entfernt ist, werfen wir einen Blick zurück in die Vergangenheit. Die 1970er-Jahre sind zeitlich von unserem heutigen Alltag etwa ebenso weit entfernt wie das Jahr 2050. Damals fuhren junge, moderne Menschen gern Käfer oder Ente. Die Haare trugen sie vorzugsweise lang oder dauergewellt, die Hosenaufschläge weit, die Röcke lang und geblümt oder supermini. Man bangte um die Besatzung der Mondrakete Apollo 13 und erfuhr, dass der unschickliche Frauenfußball nach langem Verbot wieder offiziell erlaubt war. Farbfernseher in den Wohnzimmern waren ebenso rar wie Geschirrspüler in den Küchen. Die Röhrenfernseher boten drei Schwarz-Weiß-Programme und nach Sendeschluss das Testbild. Kinder liebten den Fernsehhund Lassie, Erwachsene folgten gespannt den ersten Folgen des Tatorts oder den Worten kettenrauchender Fernsehmoderatoren.

Otto Normalverbraucher telefonierte meist im Hausflur mit einem grauen Wählscheibentelefon. Außer Haus hieß es: „Fasse dich kurz!“ Diese Mahnung prangte in vielen Telefonzellen, denn bei zwei Groschen (20 Pfennigen oder rund 10 Cent) für ein unbegrenztes Ortsgespräch bildeten sich vor den gelben Häuschen schon mal Warteschlangen. Heute selbstverständliche und weit verbreitete Helfer wie Handys, Heimcomputer oder das Internet blieben noch für weitere Jahrzehnte Spezialisten vorbehalten oder Spock und Captain Kirk aus der damals anlaufenden Science-Fiction-Serie Raumschiff Enterprise. Fast Food gab es höchstens in München, wo eine US-amerikanische Hamburger-Kette gerade ihre erste deutsche Filiale eröffnete. Deshalb griffen die meisten zum Butterbrot. Doch schon türmten sich die ersten Tiefkühlpizzen in den Supermarkttruhen …

Zeit für Helden

In der Gegenwart fragen wir uns nun, wie es zukünftig sein wird. Werden wir Alltagsaufgaben anders bewältigen als heute, vielleicht schneller und komfortabler? Welche technischen Neuerungen werden uns dabei unterstützen? Unsere Grundbedürfnisse werden sich nicht wesentlich verändern, unabhängig davon, wie bequem oder aufwendig es sein wird, sie zu erfüllen: Auch in Zukunft benötigen wir ausreichend Nahrung, Energie, sauberes Wasser und klare Luft zum Leben. Wir werden sicher weiter großen Wert legen auf angenehme Wohn- und Arbeitsbedingungen, auf Mobilität, Kommunikation, ein anregendes kulturelles und ein funktionierendes gesellschaftliches Umfeld. Diese Lebensbedingungen werden sich im Jahre 2050 rund neun Milliarden Menschen wünschen – zwei Milliarden mehr als heute.

Heutige Trends lassen erahnen, wie sich die technischen Möglichkeiten weiterentwickeln könnten. Alltagstechnik wird künftig wahrscheinlich noch kompakter, leistungsfähiger, vielseitiger sein. Schon in den kommenden Jahren werden Informations-, Kommunikations- und Energietechnologien stärker miteinander verschmelzen. Diese Kombination bietet die Chance, uns energiebewusster zu verhalten. Fortschritte in der Bio- und Nanotechnologie oder in der Entwicklung von künstlicher Intelligenz können neue Materialen, bessere Herstellungsverfahren, neue Produkteigenschaften und individuellere Anwendungen hervorbringen.

Die Zukunft ist offen. Nicht nur Forscher, Politiker und Großunternehmer gestalten sie mit, sondern jeder und jede von uns – Sie, wir und bis 2050 auch Ihre und unsere Kinder und Enkel. Auf den folgenden Seiten finden Sie Zukunftserzählungen zum Nachdenken und ausführliches Hintergrundwissen zum Mitreden. Ein weiteres Kapitel widmet sich der Frage, was zu tun wäre, um künftig mehr Energiebildung zu vermitteln und so gesellschaftlich eine energiebewusstere Lebensweise zu fördern.

Willkommen in einer funktionierenden, aber keineswegs selbstverständlichen Zukunft! Wir würden uns freuen, wenn Sie sich bei Keno, Frauke, Joost, Hanna, Jan und Martin Janssen wohlfühlen. Und wir hoffen, dass unser Bild von einer möglichen Zukunft nach einer erfolgreichen Energiewende Ihnen Lust macht, den Weg dorthin aktiv mitzugestalten.

Viel Freude bei der Lektüre wünschen Ihnen

Carsten Agert, Christoph Böhringer, Werner Brinker, Gert Brunekreeft, Jörg Buddenberg, Kirstin Hengelage, Jörg Hermsmeier, Sebastian Jurczyk, Hans Kaminski, Stephan Rammler und Ulrich Wagner

Vorwort Handelsblatt

Wenn ich meinem Urururururururururenkel etwas raten könnte – ich würde ihm sagen, dass er nach Grönland ziehen soll. Denn wenn sich die gängigen Klimamodelle bewahrheiten, wird es sich an kaum einem anderen Fleck auf der Welt so unbeschwert leben lassen.

In den vergangenen 100 Jahren hat sich die Weltbevölkerung vervierfacht. Wir haben erstaunliche Fortschritte in allen Lebensbereichen gemacht. Doch der gewonnene Wohlstand hat seinen Preis: Mit dem Wirtschaftswachstum wurde das ökologische Gleichgewicht derart durcheinandergebracht, dass es nur noch darum gehen kann, die Folgen des Klimawandels einzugrenzen – völlig abzuwenden sind sie ohnehin nicht mehr.

Next Energy ist ein Denkanstoß: Um dem Klimawandel wirksam etwas entgegenzusetzen, müssen gemeinsame Lösungen gefunden werden. Die Frage lautet: Ist der Zwang zum ewigen Wachstum wirklich alternativlos? Feststeht: Die Welt wird 2050 anders funktionieren. Sie werden Familie Janssen kennenlernen, die, wie viele andere auch, ökologisch denkt und handelt. Ihre Welt ist im Hinblick auf Energie und Verkehr besser als unsere heutige, und sie ist keine Utopie.

Dieses Buch macht Mut – ohne Idealismus vorauszusetzen. Die Lebenserwartung meines Urururururururururenkels wird um 23 Jahre höher sein als meine. Er lebt in einer Gesellschaft, die im Einklang mit der Umwelt ist. Die Frage ist nur, wie hart der Weg dorthin sein wird. Noch haben wir die Wahl. Dieses Buch hilft dabei, dass jeder Einzelne die richtigen Entscheidungen trifft.

Thorsten Giersch

Mitglied der Chefredaktion Handelsblatt Online

1. KAPITEL
Wie leben wir morgen?
Wir sind Familie Janssen – Personen und Orte der Zukunftserzählung

In den folgenden Kapiteln begleiten wir Familie Janssen durch den Spätsommer 2050. Vier Generationen betrachten die Situation im Jahre 2050 aus ihrer eigenen, durch ihre persönlichen Lebens- und Alltagserfahrungen geprägten Perspektive. Freunde und Bekannte runden mit ihren Ansichten das Bild vom Leben zur Jahrhundertmitte ab.

Das regionale und gesellschaftliche Umfeld

Die Zukunftserzählung ist im Nordwesten Deutschlands angesiedelt. Urbane Lebensräume wie die Großstadt Hamburg ziehen unverändert viele Menschen an. Hier lebt Keno mit seinen Eltern Frauke und Joost. In der ostfriesischen Region um die mittelgroße Stadt Leer, wo Kenos Großeltern und sein Urgroßvater zu Hause sind, geht es beschaulicher zu. Die Küstenregion Niedersachsens hat es geschafft, dem demografischen Wandel in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts etwas entgegenzusetzen: Mit ihrer langen Tradition in der Windenergienutzung hat die Region von der Energiewende profitiert und seit den 2010er-Jahren neue Industrien ansiedeln können. Die starke Windindustrie und die maritime Wirtschaft haben sich als Zugpferde für weitere Branchen erwiesen. Die reizvolle Landschaft bietet hohe Lebensqualität, und attraktive touristische Angebote ziehen Naherholungssuchende an.

Die Personen

Zentrale Figur ist Keno Janssen (geb. 2039), ein Hamburger Stadtkind, das mit den Vorzügen moderner Informationstechnik, intelligenter Gebäude und einer effizient organisierten Mobilität aufgewachsen ist. Vieles, was er von seinen Großeltern Hanna und Jan oder seinem Urgroßvater Martin über die Zeit um die Jahrtausendwende hört, erscheint ihm wahrlich vorsintflutlich, wie auf Papier gedruckte Schulbücher.

Kenos Vater Joost (geb. 2012) ist Ingenieur und Mediator. Sein Arbeitsschwerpunkt ist es, im Auftrag von Firmen und Institutionen die öffentliche Akzeptanz für neue Infrastruktur-, Energieerzeugungsoder Industrieprojekte zu fördern. Kenos Mutter Frauke (geb. 2013) vermittelt in Hamburg als Lehrkraft die Themen Wirtschaft, Energie und Nachhaltigkeit, kurz: „WEN“.

Kenos Großeltern Hanna (geb. 1986) und Jan Janssen (geb. 1985) zählen 2050 zur mittleren Generation einer deutlich älteren Bevölkerung. Sie haben die Höhen und Tiefen der Energiewende sehr bewusst miterlebt und konsequent in eine sparsame und langfristig kostengünstige Energieversorgung ihres alten Friesenhauses investiert. Hanna arbeitet unter anderem im Restaurant „Friesenstube“, Jan ist IT-Spezialist.

Kenos Urgroßvater Martin Janssen (geb. 1960) feiert 2050 seinen 90. Geburtstag. Er lebt im Wohncampus, einer Vorzeigeeinrichtung der Stadt Leer. Seine Berufserfahrungen als ehemaliger Mitarbeiter eines Energieversorgungsunternehmens spiegeln den Stand der Energieversorgung in Deutschland Mitte der 2010er-Jahre wieder.

Samstag, 20. August 2050: Friesenhaus auf Fitnesskur

06.00 Uhr. Aus den Lautsprechern des Nachttischs erklingt leise Mozarts kleine Nachtmusik. Die Melodie schleicht sich in Jan Janssens Träume, während das Schlafzimmer langsam in rötliches, dann in helleres Licht getaucht wird. Jan hat die Zimmerdecke mit einer hauchdünnen Schicht organischer Leuchtdioden überziehen lassen, die ihm pünktlich zur Weckzeit einen gefühlten Sonnenaufgang bescheren. Jan blinzelt kurz und dreht sich noch einmal um. Doch nicht nur die zunehmende Helligkeit stört seinen Schlummer, sondern auch das Streichorchester meint es ernst. Unerbittlich steigert sich die Lautstärke der Musik mit einer unüberhörbaren Botschaft: aufstehen! Jan gähnt und reibt sich die Augen. Die andere Hälfte des Doppelbettes ist verlassen, stellt er fest, Hanna ist bereits aufgestanden. Sie ist eine echte Frühaufsteherin – ganz im Gegensatz zu Jan. Er klatscht kurz in die Hände, die Streicher verstummen. Dann überlegt er es sich noch einmal anders, schnippt mit den Fingern und sagt: „Beatles“. Aus den Lautsprechern schallt ein aktueller Remix von „Good Day Sunshine“. Den Hit aus dem Jahr 1966 kennt Jan in- und auswendig, es ist ein Lieblingssong seines Vaters Martin Janssen – allerdings nur in der Ursprungsversion. Martin blieb sogar seinen Beatles- und Rolling-Stones-Schallplatten noch lange treu, als die Plattenspieler andernorts CD-Playern und USB-Sticks wichen. Für Jan sind die Hits als Kindheitserinnerungen fest verbunden mit seinem Elternhaus, das er vor Jahren übernommen und grundlegend modernisiert hat.

Während er ins Bad schlurft, sinniert Jan darüber, warum wohl gerade die Beatles bei Jugendlichen aktuell wieder so angesagt sind. Schließlich stammen die Hits aus dem vergangenen Jahrhundert, sind also schon fast klassische Musik … Aus dem Spiegel schaut ihm ein verschlafener Mann entgegen, gut 60, unrasiert, die Haare zerzaust. „Kriech doch noch mal unter die Decke, nur ein Viertelstündchen …“, scheint sein Spiegelbild ihm anzuraten. Jan hadert kurz mit sich, bis sein Blick auf das Display am rechten Spiegelrand fällt: „Schulwechsel Keno, Beginn: 10 Uhr“, leuchtet es dort kurz und knapp. Sein Enkelsohn Keno besucht ab heute die weiterführende Zweitschule. Im Geiste sieht er den elfjährigen Blondschopf vor sich. Sein Spiegelbild beginnt, breit zu lächeln, und sieht jetzt tatsächlich fast wach aus. Jan freut sich darüber, dass sein Sohn Joost und seine Schwiegertochter Frauke ihrem Kind ebenfalls einen alten ostfriesischen Namen gegeben haben. Regionaltypisches liegt 2050 voll im Trend – von traditionellen Namen bis zu regionalen Gerichten und Bräuchen. Jan findet diese anhaltende „Retrowelle“ einerseits gut, andererseits verwunderlich, da doch zumindest virtuell jedem die ganze Welt nahezu grenzenlos offensteht. Aber vielleicht ist eben das der tiefere Grund für die Rückbesinnung auf – im wahrsten Sinne des Wortes – Naheliegendes.

Spieglein, Spieglein an der Wand …

Wie werden wir wohnen und leben?

Jans Blick fällt auf die im Spiegel eingeblendeten Wetterdaten. Wie selbstverständlich stehen sie dort zur Verfügung, frisch eingespielt aus dem Internet, ebenso wie sein privater Terminkalender für heute. Aktiviert wird der Spiegel über den Bewegungsmelder, der beim Betreten des Badezimmers auch für Licht sorgt. Die Wettervorhersage meldet Sonnenschein, den ganzen Tag! Offensichtlich werden die Beatles recht behalten, konstatiert er zufrieden. Um sich wie gewohnt beim Rasieren die aktuelle Energieversorgung des Hauses anzeigen zu lassen, tippt Jan mit dem Finger auf das Spiegeldisplay. Es erscheint eine einfache Grafik aus zwei Kurven: Eine Kurve steigt sichtbar an – sie stellt den aktuellen Stromverbrauch des Hauses dar. Die zweite Kurve zeigt, wie viel Strom die Photovoltaikanlage aktuell produziert. Noch befindet sich diese zweite Kurve nahe dem Nullpunkt, doch voraussichtlich wird sie schon am frühen Vormittag die Verbrauchskurve kreuzen. Dann produziert das Haus mehr Strom, als Hanna und Jan gerade benötigen. Bevor Strommengen ins öffentliche Netz eingespeist werden, wird zunächst die Hausbatterie im Wirtschaftsraum aufgeladen. Deren Kapazität reicht aus, um einige Tage lang ohne Strom aus dem öffentlichen Netz auszukommen.

„1902“ ist in gusseisernen Ziffern an der Stirnseite des alten Friesenhauses zu lesen. Es ist Jans Elternhaus. Zusammen mit Hanna hatte er sich 2030 entschieden, das Wohnhaus am Rand der ostfriesischen Küstenstadt Leer von seinem Vater zu übernehmen. Martin Janssen lebte damals bereits seit zehn Jahren allein. Zwar liebte Martin den schönen, mit einer dichten Buchenhecke umgebenen Garten, den Anblick der alten Bäume, Blumen- und Gemüsebeete. „Aber im Grunde“, hatte er Jan in seiner praktisch-nüchternen Art erklärt, „ist das Ganze hier für mich allein eine Nummer zu groß.“ In der Nähe entstand zu der Zeit ein moderner Wohncampus. Das städtische Vorzeigeprojekt warb um zukünftige Bewohner mit dem Versprechen, flexibel auf deren individuelle Bedürfnisse einzugehen. Zusammen mit zwei langjährigen Freunden informierte sich Martin, nahm schon in der Bauphase an einem Rundgang über das Gelände teil und besichtigte eine der ersten, nahezu fertiggestellten Wohnungen. Kurz entschlossen machte er Nägel mit Köpfen und bewarb sich auf eine der komfortablen, lichtdurchfluteten und mit intelligenter Technik ausgestatteten Zweizimmerwohnungen mit Terrasse und Blick auf den Park. Martins Freunde Werner Oesten und Tom Frerichs erkannten ebenfalls, dass sie im Campus am Julianenpark bis ins hohe Alter weitgehend eigenständig würden leben können, und reservierten Wohnungen gleich nebenan. Sein Friesenhaus bot Martin Hanna und Jan an.

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