Kitabı oku: «PHANTASTISCH! PHANTASTISCH!», sayfa 3
Kai Focke:
Eine Führung durch die Phantastische Bibliothek Wetzlar
Mit großen Augen folgte die zehnköpfige Besuchergruppe Thomas Le Blanc durch die mit über dreihunderttausend Büchern gefüllten Räume des ehemaligen Hessischen Staatsbauamts. Thomas Le Blanc war sowohl Gründer als auch Leiter der 1989 eröffneten Phantastischen Bibliothek Wetzlar, der mittlerweile größten und in ihrer Vollständigkeit einzigartigen Sammlung deutschsprachiger phantastischer Literatur.
Die Führung hatte in der Kinder- und Jugendbuchabteilung begonnen. In den liebevoll mit Kuscheltieren und Spielfiguren dekorierten Zimmern waren die Bücher jedoch nicht nach Autoren, sondern thematisch geordnet.
»Unseren kleinen Leseratten ist es egal, wer etwas geschrieben hat, sie suchen gezielt nach ihren Interessengebieten«, begründete Thomas Le Blanc die ungewöhnliche Systematik. »Daher haben wir die Bücher nach Drachen-, Ritter-, Feen- oder Tiergeschichten sortiert.«
Nachdem die Gruppe erfahren hatte, dass sich das Bibliotheksteam auch aktiv in der Sozialarbeit engagiert und beispielsweise Lesepaten ausbildet, gelangte sie über eine breite Steintreppe ins erste Untergeschoss. Das Herzstück bildete der bereits unzählige Male fotografierte Büchergang, ein breiter, auf beiden Seiten von Regalreihen gesäumten Korridor. Auf dieser Ebene befanden sich weiterhin das, um ein Himmelbett herum aufgebaute Märchenzimmer, Areale mit Werken der High-Fantasy und der traditionellen Phantastik, ein überschaubares, jedoch stetig wachsendes Steampunk-Archiv sowie eine Sammlung klassischer Sagen und Legenden aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Die Besucher zeigten sich beeindruckt, aber auch erstaunt über einen großzügigen, mit Schreibtischen und Flipcharts ausgestatteten Arbeitsbereich.
»Die Phantastische Bibliothek wird nicht nur von fantasiebegeisterten Bücherwürmern besucht, sondern auch von Studenten, Doktoren und Professoren«, hob Thomas Le Blanc nicht ohne Stolz hervor. »Beispielsweise untersuchen Germanisten das Schriftgut mithilfe literaturwissenschaftlicher Methoden, Soziologen betrachten die Abhandlungen in Romanen oder Heftreihen im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen und Zukunftsforscher versuchen, sowohl Trends als auch Ideen aus den Werken der Science-Fiction herauszulesen. Letzteres konkretisiert sich in der Sektion Future Life, die in Zusammenarbeit mit Unternehmen, Verbänden und Hochschulen hilft, innovative Produkte zu entwickeln sowie Studien veröffentlicht.«
»Zukunftsforschung: Das ist doch Spinnerei!«, warf eine Besucherin kritisch ein.
»Eben haben Sie den Büchergang mit Ihrem Smartphone fotografiert«, stellte Thomas Le Blanc spitzbübisch fest. »Die Entwicklung der Mobiltelefone, die Vorgänger Ihres Smartphones, wurden nicht zuletzt von den Tricordern in Raumschiff Enterprise inspiriert, einer Fernsehserie aus den 1960er-Jahren. Dies ist nur ein Beispiel von vielen: Science-Fiction bringt uns die Zukunft näher.«
Das zweite Untergeschoss beherbergte sämtliche seit 1961 wöchentlich erscheinenden Perry-Rhodan-Hefte – in allen fünf Auflagen – sowie die gebundenen Ausgaben, eine fünfundvierzig bibliothekarische Regalmeter umfassende Bücherwand voller Star-Trek-Romane sowie zwei von Kunststoffspinnen und Plüschfledermäusen bewachte Räume mit Horrorliteratur. Ein vollständig aus Perry-Rhodan-Sammelbänden gefertigter Thronsessel lud zum Verweilen ein und erfreute sich als Hintergrund für Erinnerungsfotos großer Beliebtheit.
Auf dem Rückweg ins Erdgeschoss lag die Toilettenanlage der Bibliothek. Verwundert stellten die Besucher fest, dass es statt zwei insgesamt drei Toilettentüren gab, wobei die dritte Tür nicht etwa ein Transgendersymbol zierte, sondern ein großes A mit dem Schriftzug Aliens.
»Das ist unsere Alientoilette«, erklärte Thomas Le Blanc, »zu der es eine amüsante Geschichte gibt. 2018 wurde ein in Wetzlar anberaumter Parteitag einer rechtsextremen Partei verboten. Da man gewalttätige Demonstrationen beider Seiten des politischen Spektrums erwartete, waren umfangreiche Polizeikräfte im Einsatz. Die auf offener Straße ihren Dienst verrichtenden Ordnungshüter sahen sich nach mehreren Stunden verständlicherweise mit einem uns allen gut bekannten Bedürfnis konfrontiert. Sie baten daher, die Toilettenanlage der Phantastischen Bibliothek benutzen zu dürfen. Aufgrund des Andrangs an Uniformierten fragten sie schließlich nach, ob man – neben der Herren- und Damentoilette – auch den Abort für Außerirdische öffnen könnte.« Nach einer kurzen Pause fuhr Thomas Le Blanc schmunzelnd fort: »Wir mussten an uns halten, um nicht in Gelächter auszubrechen. Die Alientoilette ist natürlich nur ein Spaß. Tatsächlich befindet sich hinter der Tür ein ordinärer Putzraum.«
Die Besucher lachten und ein älterer Herr mit Sakko und Krawatte meldete sich zu Wort: »Eine schöne Anekdote! Existieren noch weitere Geschichten oder Mythen?«
»Sicher«, bejahte Thomas Le Blanc. »Es wird gemunkelt, dass unsere Bibliothek in Vollmondnächten von Aliens und Fabelwesen besucht wird. Buchwichtel, bibliophile Verwandte der Heinzelmännchen, die nachts unsere Räume säubern und die Bestände sortieren, überwachen dann die Ausleihe. Warum sollten sich junge Drachen oder Aliens nicht auch für die Abenteuer der Zauberschüler von Hogwarts interessieren?«, fügte er mit einem vieldeutigen Augenzwinkern hinzu.
Der Krawattenträger lächelte versonnen. Ihm war anzusehen, dass er sich gerade vorstellte, wie ein Marsmännchen den Standort der Harry Potter-Romane bei einem Buchwichtel erfragte …
»Lassen Sie uns zum Abschluss der Führung den Konferenz- und Raritätenraum besichtigen«, forderte Thomas Le Blanc zum Weitergehen auf. »Dort verwahren wir einzigartige Schätze der deutschen Science-Fiction, darunter auch Zukunftsliteratur aus den Zeiten der Weimarer Republik.« Erwartungsvoll setzte sich die Gruppe wieder in Bewegung.
Stunden verstrichen, der Vollmond erklomm den Nachthimmel und die Phantastische Bibliothek öffnete erneut ihre Pforten.
»… und dazu noch Nebenan von Bernhard Hennen«, wisperte Schavart, während er den Titel auf der Leihkarte vermerkte.
Mit einem dankbaren Nicken nahm die Angesprochene den Bücherstapel entgegen und gab den zuvor entliehenen Toilettenschlüssel zurück.
»Ich habe gehört, dass sich hinter den beiden anderen Türen in Wirklichkeit Putzräume befinden würden. Stimmt das?«
»Möglicherweise. Es gibt hier viele Bücher und noch mehr Gerüchte«, hauchte Schavart grinsend. »So heißt es, die Menschen würden unsere Bestände als Phantastik bezeichnen. Dabei handelt es sich doch offensichtlich um Sach- und Gegenwartsliteratur.«
Mit einem vieldeutigen Augenzwinkern verabschiedete der greise Buchwichtel die junge Marsianerin.
Die Phantastische Bibliothek (www.phantastik.eu) befindet sich in der Turmstraße 20 in Wetzlar und heißt – während der Öffnungszeiten – Interessierte jeden Alters herzlich willkommen. Sollten Sie, liebe Leserinnen und Leser, an einer Führung teilnehmen, dann verraten Sie bitte nicht das Geheimnis der Alientoilettentür …
Sabine Frambach:
Eckstein, Eckstein
»Du musst bis hundert zählen!«
Aisha und Renée rannten los. Tammy presste die Stirn gegen die Wand, spürte den Putz, aufgeheizt durch die Sonne. Sie legte einen Arm über den Kopf und kniff die Augen zu, sie blinzelte niemals, schummelte nicht. »Eins. Zwei. Drei.«
Sie zählte laut, übersprang keine Zahl. »Einundsechzig, zweiundsechzig.« Das Licht schwand; Kälte auf ihren Armen. Gänsehaut. Tammy zählte weiter. »Achtundneunzig, neunundneunzig. Hundert.« Sie hob den Kopf und rief: »Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein, über mir, unter mir, links und rechts neben mir, hinter mir, das gilt ja nicht, eins, zwei, drei, vier: Ich komme!«
Erst jetzt durfte sie von der Wand fort. Tammy rieb über ihre Arme. Die Sonne war verschwunden. Aisha versteckte sich fast immer hinter einem Baum, und Renée lief bis zur Scheune. Mama sagte, dass sie dort nicht spielen sollten. Sie stand seit Jahren leer, nur die Spinnen wohnten darin, spannten die Netze und warteten auf Fliegen. Die Dielen in der Scheune knarrten unter jedem Schritt. Irgendwann stürzte sie wohl ein, das Dach hatte Löcher, und es roch nach fauligem Holz. Doch Renée rannte immer wieder dorthin und stieg die Leiter bis zum Boden hinauf. Tammy schlich weiter, sie durfte die anderen nur nicht übersehen und an ihnen vorübergehen. Wenn Aisha und Renée zur Wand liefen, hatten sie gewonnen. An der Hauswand waren sie sicher.
Leise, die knackenden Äste auslassend, schlich Tammy den Weg entlang, die Bäume wisperten, die Luft schmeckte feucht. Kalt war es hier unter dem Blätterdach. Tammy glaubte, Aishas rotes Shirt hinter einer Eiche zu sehen, doch als Tammy um den Baum lief und rief: »Hab dich!«, war niemand dort. Die Scheune, sie mussten beide zur Scheune gelaufen sein!
Tammy rannte los. Es wurde bereits dunkel. Vor ihr sah sie die Scheune, der Platz davor säuberlich gefegt, ein paar Hühner stoben davon. Tammy riss die Tür auf, sie quietschte nicht. Es roch nach sauberem Stroh. »Gleich hab ich euch!«, rief Tammy, griff nach der Leiter und stieg hinauf. Die dritte Stufe, sie knarrte nicht. Tammys Fuß schwebte, sie stellte ihn nochmals auf, doch die Stufe gab nicht nach, seufzte nicht, knarrte nicht. Tammy schaute durch die Luke. Stroh, säuberlich geschichtet.
»Du suchst bestimmt deine Freundinnen.«
Die Stimme kam von unten, Tammy schaute hinab. Ein Mann stand da, die Hände hinter dem Rücken. Älter als Papa schätzte Tammy, obwohl er aufrecht stand. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen. Tammy schwieg.
»Deine Freundinnen sind im Haus. Komm doch hinunter. Wir trinken Milch mit Honig. Komm mit. Du willst sie doch wiedersehen.«
Tammy nickte. Sie kletterte vorwärts hinab, die Hände nach hinten gestreckt, um den Mann zu sehen. Die dritte Stufe. Kein Knarren. »Wer bist du?«, fragte Tammy.
»Ich bin Herr Eckstein«, antwortete der Mann. »Ihr habt meinen Namen gerufen. Wie oft ihr mich gerufen habt, doch ich fand euch nicht. Deine Freundinnen waren im Stroh versteckt, dieses Mal habe ich sie entdeckt. Nun sind sie meine Gäste. Komm mit.«
Tammy nickte. »Ich komme!«, rief sie. Dritte Stufe. Sie knarrte nicht. Zweite Stufe. Der Mann schaute sie an, legte den Kopf schief und leckte hastig über seine Lippen. Tammy starrte zurück, beugte die Knie, stieß sich mit den Händen ab und sprang auf den Mann zu. Er wich im letzten Moment aus, die Augen weit aufgerissen. Tammy schlug einen Haken und stürzte an ihm vorbei. Ein kleiner Spalt, sie drückte gegen die Tür, schob sich hindurch und rannte. Seine Stimme folgte ihr, ein Echo aus der Ferne. »Komm zurück, komm, deine Freundinnen warten auf dich!«
Hinter ihr dröhnten Schritte, immer lauter, je näher sie kamen. »Gleich hab ich dich«, rief er. Tammy schaute sich nicht um. Nicht hinsehen, nicht umdrehen, sie rannte durch den Wald, über die knackenden Zweige, hinter ihr tobte die Kälte, hinter ihr hallte die Stimme. Tammy floh, streckte die Hände aus, der Wind fuhr ihr mit eisigen Fingern ins Gesicht, da prallte sie gegen die Hauswand. Hier war sie sicher, hier konnte nichts geschehen. Wer an der Hauswand stand, war geschützt. Dunkelheit leckte über den Boden, doch Tammy kniff die Augen zu, legte einen Arm über den Kopf, ihre Stirn presste gegen den Putz. Sie wollte zurück, nur zurück. Kalte Finger glitten über ihren Rücken. Leise zählte Tammy: »Hundert, neunundneunzig, achtundneunzig.« Die Finger tasteten über ihr Gesicht, die Stimme kreischte. »Zweiundsechzig, einundsechzig.« Tammy schluckte und zählte immer weiter. »Drei. Zwei. Eins.« Sie schaute auf. Es war hell. Sie fuhr herum, wischte mit dem Ärmel die Tränen fort. Aisha und Renée starrten sie an. »Was ist jetzt, Tammy? Wir wollen Verstecken spielen.«
Tammy trat fort von der Wand, wischte nochmals über ihr Gesicht, rieb mit den Händen über die Arme und schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Ich bin zu alt für Verstecken.«
Hans-Dieter Furrer:
Das wundersame Puppenhaus
Tante Sofia wohnte in einem schmucken Haus aus der Gründerzeit. In ihrer »guten Stube«, einem Wohnzimmer, das fast nie benutzt wurde, standen auserlesene Stilmöbel. Im Buffet bewahrte Tante Sofia ihr feinstes Porzellan auf. Und in einer gläsernen Vitrine stand das große Puppenhaus, das seit Generationen in Familienbesitz war. Seine Zimmer waren aufs Feinste ausgestattet und möbliert. Tischchen und Stühlchen mit gedrechselten Beinchen, handgeknüpfte Teppiche, gehäkelte Vorhänge. An den tapezierten Wänden hingen miniaturisierte Meisterwerke der Malerei. In der Küche stand ein Herd mit kleinen Pfännchen und Töpfchen aus Kupfer. Und im Studierzimmer ein volles Bücherregal mit winzigen Büchern.
Eigentlich war das Puppenhaus zum Spielen viel zu schade. Aber als Amelie kurz nach ihrem siebten Geburtstag ihre Tante besuchte, machte diese eine Ausnahme. Sie öffnete ihren Sekretär, ein stilvolles Möbel, in dem sie Briefschaften, Verträge und Quittungen aufbewahrte, nahm einen kleinen Schlüssel aus einem Fach ganz oben und schloss damit die gläserne Vitrine auf. Amelie durfte sich auf einen kleinen Hocker vor das Puppenhaus setzen.
»Sei bitte vorsichtig!« mahnte Tante Sofia. »Es ist ein sehr wertvolles Puppenhaus.« Dann ging sie in die Küche, um nach dem Schokoladekuchen zu sehen, den sie Amelie zuliebe in den Backofen geschoben hatte. Und Amelie war schon bald völlig in ihre Spielwelt versunken. Was es in diesem Puppenhaus nicht alles gab! Bei einem Kommödchen konnte sie behutsam die Schublädchen herausziehen. Und im Schlafzimmerschrank fand sich eine ganze Garderobe für die Puppendame des Hauses. Neben dem Schlafzimmer gab es ein Kinderzimmer mit zwei kleinen Bettchen und einem fein geschnitzten Schaukelpferdchen. Daneben stand ein Turm aus winzigen Bauklötzchen. Das Puppenhaus bewohnten kleine Stoffpuppen. Eine ganze Puppenfamilie, die Amelie jetzt im Wohnzimmer versammelte. Sie holte die Mutter aus der Küche, den Vater aus seiner Studierstube, die zwei Kinder aus ihren Bettchen und setzte alle auf Stühlchen rund um den Tisch. Als sie dann so überlegte, wie das Spiel weiter gehen sollte, fiel ihr Blick wie zufällig auf den blau lackierten Briefkasten mit dem gelben Posthorn an der Seitenwand des Puppenhauses. Im Einwurf steckte ein briefmarkengroßer Umschlag, den Amelie neugierig herauszog und öffnete. Ein Kärtchen mit folgendem Text in klitzekleiner Schrift kam zum Vorschein:
Willst du hinein,
dann denk dich klein,
ich lass dich rein.
Leise vor sich hin murmelnd las Amelie das Sprüchlein und stellte sich vor, dass sie ganz klein wäre wie die Bewohner des Puppenhauses. Und schwupp! Schon stand sie im Wohnzimmer und war püppchenklein. Erst war sie erschrocken, dann konnte sie es kaum glauben. Sie setzte sich auf einen freien Stuhl am Tisch und musterte die reglosen Stoffpuppen mit ihren aufgemalten Gesichtern. Die Puppenfamilie war gekleidet wie auf den alten Fotografien, die ihr Tante Sofia einmal gezeigt hatte. Am besten gefiel Amelie der Vater. Sein Hals steckte in einem steifen hohen Hemdkragen, den Tante Sofia einen »Vatermörder« nannte, was Amelie irgendwie unheimlich fand. Nach einer Weile stand sie auf. »Ich sehe mich ein bisschen im Haus um«, sagte sie mehr sich selbst als zu den stummen Puppen, ging in die Küche und zählte die Pfannen und Töpfe. Dann ging sie einen Stock höher ins Schafzimmer und schüttelte die Decken. Was war das für ein wundersames, aber auch irgendwie seltsames Gefühl, durch ein Puppenhaus zu gehen. Sie trat ins Kinderzimmer, setzte sich auf das Schaukelpferdchen und sah sich um. Da entdeckte sie das Puppenhaus. Es sah ganz genau so aus, wie das Puppenhaus, in dem sie sich befand. Und Amelie fragte sich, ob darin ein weiteres Puppenhaus war? Und in diesem noch eins?
»Amelie, es gibt Schokoladekuchen! Kommst du?«, rief Tante Sofia. Aus der guten Stube kam keine Antwort. »Amelie, kommst du bitte!« Immer noch keine Antwort. Und als die Tante die gute Stube betrat, fand sie den Hocker vor dem Puppenhaus leer.
»Amelie, wo bist du? Wo hast du dich versteckt?« Tante Sofia suchte in allen Ecken, in jedem Zimmer, sah unter Tische, öffnete Wandschränke. Keine Spur von Amelie! Beunruhigt lief Tante Sofia die Treppe hinunter ins Erdgeschoss und durch die Hintertür hinaus in den Garten. »Amelie! Amelie!«
Wie aus weiter Ferne hörte Amelie die Rufe ihrer Tante. Sie hatte die Zeit völlig vergessen. Sie musste schnell in die gute Stube zurück, aber wie? – Jetzt nur keine Panik! Das Kärtchen! Darauf stand bestimmt auch, wie man wieder aus dem Puppenhaus hinaus kam. Sie eilte nach oben ins Wohnzimmer und griff nach dem kleinen Umschlag, den sie auf den Tisch gelegt hatte. Rasch zog sie das Kärtchen heraus, drehte es um – und war erleichtert. Auf der Rückseite stand:
Willst du hinaus,
denk dich vors Haus,
ich lass dich raus.
Kaum hatte Amelie diese Zeilen gelesen und sich vors Haus »gedacht«, sass sie wieder in voller Größe auf dem Hocker vor dem Puppenhaus. Schnell steckte sie den kleinen Umschlag, den sie immer noch zwischen den Fingern hielt, in den blauen Briefkasten an der Seitenwand. Und dann lief sie ins Wohnzimmer, wo Tante Sofias feiner Schokoladekuchen auf dem Tisch stand.
Außer Atem kam die Tante aus dem Garten ins Haus zurück. »Wo warst du, Kind? Ich hab dich überall gesucht!«
»Ich war im Puppenhaus, ich war ganz klein«, antwortete Amelie keck und blickte ihre Tante treuherzig an.
»Was heißt das, im Puppenhaus? Das ist unmöglich! Das hast du dir nur ausgedacht. Du hast eine blühende Fantasie, mein Kind!«
Was war eine blühende Fantasie? Amelie wollte Tante Sofia fragen, ließ es dann aber sein und stellte sich ein über und über mit fantastischen Blumen bewachsenes Puppenhaus vor.
Esther Geißlinger:
Im Papierparadies
Schlimmer als der Elefant im Porzellanladen
ist ein Drache im Bücherregal.
Bibliothekaren-Sprichwort
Woher das Ei stammte, ließ sich später nicht feststellen. Es lag in einem Korb, der eines Morgens auf meinem Schreibtisch stand. Als ich es in die Hand nahm, zerbrach die Schale.
Zu jenem Zeitpunkt leitete ich die Bibliothek seit fünf Jahren. Sie war mir als Erbteil zugefallen, obwohl ich einem verarmten Zweig der gräflichen Familie entstamme und mit dem alten Grafen Gundamar nur weitläufig verwandt war. Doch anders als seine Kinder teilte ich seine Liebe zu Büchern, hielt mich am liebsten in der Bibliothek auf und sog ihren Geruch nach Leder und Staub ein wie ein Parfüm. Zuerst verjagte Gundamar mich, den armen Hausgast, aus seinem Papierparadies, doch als ich mich wieder und wieder zurückschlich, duldete er mich, wurde mein Lehrer und väterlicher Freund. Häufig, wenn wir über einem Text brüteten, sagte er: »Dankwart, eines Tages ist dies alles dein.«
Als er starb, saß ich an seinem Bett, während seine Söhne und seine Tochter in fernen Ländern weilten und erst zur Testamentseröffnung ins Schloss zurückkehrten. Für sie enthielt der Letzte Wille ihres Vaters eine Überraschung, und es war keine freudige. Während der Verlesung tastete mein Vetter Florbert nach seinem Dolch, Sigmar ballte die Fäuste, und meine Base Eidrun stieß »Erbschleicher!« durch ihre prallen Lippen. Doch an dem Text gab es nichts zu deuteln: Mein war die Bibliothek, mein war das Schloss, um die kostbaren Bücher zu lagern, und mein war das Vermögen, um den Schatz zu erhalten. Meine Verwandten verließen den Stammsitz der Familie unter Flüchen, und ich winkte ihnen ein Lebewohl hinterher.
Der Erhalt einer solchen Bibliothek erfordert Geld und Erfahrung. Ersteres hatte das Erbe mir verschafft, Letztere errang ich im Lauf der Zeit durch Austausch, Gespräche, den Zukauf neuer Werke und zwei, drei Bändchen aus eigener Feder. Fünf Jahre nach Antritt des Erbes stand die gräfliche Bibliothek weithin in hohem Ansehen. Von meinen Vettern und der Base hörte ich nur gerüchteweise: Eidrun war ins Ausland gegangen und gänzlich heruntergekommen, Florbert bei einem Duell gestorben. Einzig Sigmar, der ältere Sohn Gundamars, schien Ruhe gefunden zu haben. Er lebte in einem nahen Wald, wo er der Jagd nachging und die Natur erforschte.
Als das Ei in meiner Hand zerbrach, schob sich eine spitze Schnauze heraus. Aus winzigen Nüstern kräuselte Rauch, grüne Augen starrten mich an. Im nächsten Moment sprang ein Drache, kaum größer als eine Hand, aber perfekt bis in die Krallen, aus dem Ei, entfaltete winzige Flügel und flatterte auf ein Regal, wo er zwischen den Büchern verschwand.
Drachen bleiben an dem Ort, an dem sie schlüpfen. Dort bauen sie ein Nest und horten ihre Schätze. Eine Höhle, einen Wald oder eine Ruine, die ein Drache sich als Wohnort wählt, sollten Menschen meiden. Aber das Schloss und alle Bücher darin dem Drachen überlassen? Niemals!
Wir versuchten, das Untier zu töten. Nächtelang lauerte ich ihm auf, während meine Gehilfen Krach schlugen, um es aufzuscheuchen. Wir hörten den Drachen rumoren und poltern – je größer er wurde, desto schwerer seine Tritte, desto lauter das Flappen seiner Flügel. Doch es vergingen Wochen, bis ich unversehens zwischen zwei Regalen auf ihn stieß. Er hatte bereits die Größe eines Ponys und hätte mich verletzten können, aber er schnaubte nur und floh.
In dieser Nacht ging ich allein in die Bibliothek, mit einer Lampe statt mit dem Schwert. Ich wanderte durch die Gänge, leuchtete in alle Ecken. Bisher hatte der Drache keinen Schaden angerichtet, niemanden angegriffen, kein Buch beschädigt. Dafür nahm der Bestand an Mäusen im Schloss stetig ab. Vielleicht mussten wir den Eindringling gar nicht töten oder vertreiben?
In der großen Halle trafen wir aufeinander. Der Drache schwebte von der Decke herab, als ich eintrat. Seit unserer Begegnung schien er erneut gewachsen zu sein, nun war er groß wie ein Pferd. Seine Schuppen glänzten im Lampenlicht, seine runden, tassengroßen Augen starrten mich an. Aus ihnen sprach Intelligenz, wenn auch keine menschliche.
»Verstehst du mich?«
Er neigte den Kopf.
Ich beschloss, das als Ja zu nehmen. »Du frisst die Mäuse. Das ist gut. Du hast kein Buch beschädigt. Das ist auch gut.« Tief atmete ich durch. »Wollen wir uns vertragen?«
Er stieß ein Zischen aus, Rauch stieg aus seinen Nüstern.
»Kein Krach, kein Feuer!«, mahnte ich streng. »Dies ist eine Bibliothek, mein Freund.«
»Freuuunn…« Sein Maul war nicht gemacht für menschliche Sprache, aber er gab sich Mühe.
»Wenn die Mäuse nicht reichen, bringe ich dir Futter«, bot ich an. Der Unterhalt eines Drachen kostete Geld, aber ich konnte Gehälter für Wachen sparen. Sacht legte ich ihm eine Hand auf den schuppigen Hals.
Zwei Jahre später unternahm ich den ersten Ritt auf seinem Rücken. Der Flug führte uns in den Wald, in dem mein Vetter lebte. Als der Drache, nun schon ein stattlicher Bursche von acht Meter Länge, vor der Hütte landete, stürzte Sigmar schreckensbleich heraus.
»Du hast mir das Ei geschickt«, sagte ich anstatt eines Grußes. »Was hast du gedacht – dass der Drache mich umbringt?«
Sigmars Gesicht verzog sich hasserfüllt: »Die verdammten Bücher sollte er verbrennen!«
Schnaubend schob sich der Kopf des Drachen auf Sigmund zu: »Büücher düüüürfen nicht brrrennen!«
Sacht klopfte ich auf seine Flanke. »Wir sind Bibliothekare, wir bringen keine potenziellen Leser um.« Zu Sigmar sagte ich: »Komm ruhig vorbei, es ist täglich geöffnet. Nur eines: Wenn jemand Flecken in ein Buch macht oder die Leihfrist überschreitet, versteht mein Freund gar keinen Spaß.«
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