Kitabı oku: «Reformierte Theologie weltweit», sayfa 6
2. Biographischer Überblick6
2.1 Herkunft und theologische Ausbildung
Niesel wurde am 7. Januar 1903 in Berlin geboren und katholisch getauft. Im Jahre 1918 wurde er durch Günther Dehn konfirmiert7, der ihn in den jugendbewegten Neuwerk-Kreis und zum Studium der evangelischen Theologie brachte. Nach dem Abitur 1922 studierte Niesel zunächst zwei Semester in Berlin (u. a. bei Adolf von Harnack, der damals mit Barth über die Wissenschaftlichkeit der Theologie stritt8), sodann ein Semester in Tübingen und schliesslich von Oktober 1923 bis August 1925 in Göttingen bei Barth.9 Nach dem Ersten Theologischen Examen vor dem Konsistorium der Mark Brandenburg lebte Niesel von Dezember 1926 bis zum Oktober 1928 bei Peter Barth in Madiswil (Schweiz) und arbeitete mit ihm an der Herausgabe der «Opera selecta» Calvins.10 Karl Barth nannte dies |74| das Madiswiler «Calvinlaboratorium».11 Seitdem und nach Peter Barths Tod 1940 als alleiniger Herausgeber erarbeitete Niesel sich die Schriften Calvins und durfte wohl als einer der besten Calvin-Kenner im deutschsprachigen Raum gelten. Die Evangelisch-theologische Fakultät Münster promovierte ihn 1930 mit einer Arbeit über Calvins Abendmahlslehre12 und einer Vorlesung über Schleiermachers Verhältnis zur reformierten Tradition.13 Doktorvater war Karl Barth.14
2.2 Kirchenkampf15
Nach einem Jahr im reformierten Predigerseminar in Elberfeld, einem kurzen Vikariat in Wittenberge und dem Zweiten Examen wurde Niesel 1930 als Pastor und Studieninspektor des Elberfelder Predigerseminars gewählt und somit Mitarbeiter von D. Hermann Albert Hesse, der ab Januar 1934 für den entschiedenen kirchenpolitischen Kurs des Reformierten Bundes verantwortlich war.16 Daneben unterrichtete Niesel gelegentlich |75| an der Theologischen Schule Elberfeld, die von Otto Weber (1902–1966)17 geleitet wurde. Hier begann Niesel mit Vorlesungen über Calvin, deren Resultat u. a. seine «Theologie Calvins»18 wurde. Niesel forschte Zeit seines Lebens über Calvin, auch wenn die späten Arbeiten kaum noch Neues boten.
Niesel erlebte zwölf Jahre Kirchenkampf. Bereits im Frühjahr 1933 nahm er an der Rheydter Versammlung teil, erarbeitete die Düsseldorfer und Elberfelder Thesen mit, war Gründungsmitglied des Gemeindetages unter dem Wort und des Coetus reformierter Prediger Deutschlands und natürlich Hesses Berater.19 An der Barmer Synode nahm Niesel als «Beobachter» teil und gehörte zu dem Ausschuss, der der Barmer Theologischen Erklärung die letztgültige Form gab. Niesel konnte Barmen später «eine […] Sternstunde der Kirche»20 nennen.
Seit Mai 1934 war er Mitglied im Bruderrat der altpreussischen Bekennenden Kirche (BK). Zum Herbst 1934 wechselte er als reformierter Referent zum Präses der Bekennenden Kirche, Karl Koch, nach Bad Oeynhausen (neben Hans Asmussen als lutherischem Pendant21) und 1935 als |76| «Geschäftsführer» des Bruderrates der Evangelischen Kirche der Altpreussischen Union (ApU) nach Berlin. In Berlin war er massgeblich an den Entwicklungen in der ApU beteiligt.22 Bleibenden Einfluss sicherte sich Niesel durch seine Vorarbeiten zur Zweiten freien reformierten Synode im März 1935 in Siegen, auf der der Anstoss zur Gründung Kirchlicher Hochschulen gegeben wurde.23 Seit dem Wintersemester 1935/1936 lehrte Niesel Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Dahlem, praktisch seit dem ersten Semester im Untergrund. Wie bereits im Rheinland leitete er in Berlin-Brandenburg das Ausbildungsamt der Bekennenden Kirche.24
Der Kirchenkampf war nicht allein eine theologische Auseinandersetzung in den Jahren 1933 und 1934, deren strittige Fragen dann mit Barmen haben geklärt werden können. Der reale und Existenz bedrohende Kampf des nationalsozialistischen Gewaltstaates gegen den christlichen |77| Glauben führte zu wachsenden Repressionen: Zunächst die offene Propagierung des «Neuheidentums» seit 1935, sodann die Einsetzung der Kirchenausschüsse und Hanns Kerrls und schliesslich die wachsende Verfolgung von Christen durch den totalitären Staat, die als immer bedrohlicher empfunden wurde. Deshalb wurde das erste Jahr der massiven Repressionen (1937) von Niesel als das schwerste aus der Sicht der Bekennenden Kirche bezeichnet. Niesel war und blieb steter Gegner von kirchenleitender «Realpolitik» und von konfessioneller «innerer Emigration». Nach einem Ausreiseverbot aus Berlin 1938 und mehreren Prozessen und Haftzeiten wurde Niesel 1941 mit Redeverbot und Ausweisung aus Berlin belegt. Aus dieser Zeit stammt das Wort vom «Eisernen Wilhelm», der so selbstverständlich ins Gestapo-Gefängnis ging wie andere Menschen zu alltäglichen Verrichtungen. Von 1941 bis 1943 fand Niesel Zuflucht als Hilfsprediger in Breslau. Danach bot die lippische Landeskirche unter Landessuperintendent Wilhelm Neuser dem ständig Bedrohten Unterschlupf als Pastor der Gemeinde Reelkirchen. Auch während der Kriegsjahre war Niesel an Planung und Organisation der Bekennenden Kirche und ihrer Synoden beteiligt. Noch vor Kriegsende begann – mit englischer Genehmigung – Niesels Einsatz für den Wiederaufbau legitimer kirchlicher Strukturen, nur kurz in Lippe, sehr bald wieder – als Vertrauensmann des Bruderrates – auf der Ebene der Altpreussischen Union, sodann in der EKD, aber schliesslich in erster Linie in reformierten Kontexten.
2.3 Die Zeit des Kalten Krieges
Niesel zählte während des Kirchenkampfes nicht zu den «jungen Brüdern», sondern war vielmehr von der Bekennenden Kirche aus als Vertrauensmann der Theologiestudenten und als Dozent für sie verantwortlich. An vorderster Stelle für die Reformierten innerhalb der Bekennenden Kirche standen Ältere: Hermann A. Hesse, Karl Immer, Martin Albertz u. a. Während die einen zu jung, die anderen zu alt für neue Führungsaufgaben waren (oder verstorben), legte Niesel nach 1945 seine Rolle als Referent und Mitarbeiter ab und avancierte in der Tat zum ersten Mann der deutschen Reformierten. Als reformierter Vertreter wurde er zu einem der Sprecher des neu gebildeten Rates der EKD in Treysa berufen.25 |78| Im Jahr 1946 wurde er zum Moderator des Reformierten Bundes gewählt, im selben Jahr trat er die Pfarrstelle der reformierten Gemeinde in Schöller und die seitdem damit verbundene Dozentur an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal an – Professuren in Mainz und Bonn schlug er in den Jahren 1946 bis 1948 mehrfach aus.26 Wenn er auch anders als andere Leute der Bekennenden Kirche auf eine Hochschulkarriere verzichtete, so verabschiedete er sich dennoch nicht aus der Wissenschaft und der internationalen Calvin-Forschung. Niesels wissenschaftliche Verdienste wären darzustellen an den zahllosen Aufsätzen v. a. zu Calvin27, der Calvin-Bibliographie28, der Symbolik29 u. v. m. – diese Verdienste wurden durch fünf Ehrendoktorate anerkannt: Göttingen (1948), Aberdeen (1954), Genf (1958) und Strassburg (1964) und Debrecen (1967). Mehrfach war er Gastprofessor im Ausland: in Schottland, Amerika und Japan.
Niesel hat versucht, «das Erbe der Bekennenden Kirche», «den Ertrag des Kirchenkampfes» nach 1945 umzusetzen bzw. in der kirchenleitenden Praxis anzuwenden.30 Möglicherweise hat die Erfahrung des Kirchenkampfes dann in einer neuen Staatsform weniger innovativ gewirkt als vielmehr verhindert, dass aufgrund neuer Situationen auch neue theologische |79| Antworten gegeben werden konnten. Niesel sieht den modernen Menschen und damit auch den zeitgenössischen Christen «durch mächtige Propagandaapparate» bedrängt, sich «dem westlichen Denken oder der östlichen Ideologie zu verschreiben»31. Als ob nicht zu unterscheiden gewesen wäre zwischen den liberalen Demokratien des Westens und den totalitären Unrechtsstaaten des Ostens! Immer wieder spürt man bei Niesel eine gewisse Distanz zur staatlichen Macht, so dass ihm auch ein solennes Bekenntnis zum demokratischen Rechtsstaat schwer zu fallen scheint. Bei allen möglichen Unterschieden, die Niesel freilich nicht benennt, sieht er «die Staaten» unterschiedslos als eine Grösse:
«Die Mächtigen der Erde, obwohl verschiedener Weltanschauung, scheinen sich in einem Punkte einig zu sein. Sie wetteifern miteinander an einer Art von Turmbau zu Babel, nur dass sie heute weniger bis in den Himmel vorzustossen suchen, als vielmehr in die Geheimnisse der Schöpfung eindringen wollen und diese damit zu zerstören drohen.»32
Niesel orientierte sich theologisch, kirchenpolitisch und politisch an Karl Barth und an Barmen.33 Die Thesen einer bereits für den Kirchenkampf |80| festgestellten «Verkirchlichung des deutschen Protestantismus»34 und einer «Prolongierung des Kirchenkampfes»35 nach 1945 wären an Niesels Tun gut zu überprüfen.
Die bereits genannten Arbeitsgebiete überschritt Niesel durch seine Mitarbeit im Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und im Reformierten Weltbund. Höhepunkt seiner ökumenischen und kirchenpolitischen Karriere waren zweifelsohne die Jahre 1964 bis 1970, in denen er als Präsident des Reformierten Weltbundes die Welt bereiste. Diese Jahre waren freilich aber auch schon der Beginn einer Entfremdung vom zeitgenössischen Reformiertentum: Die Frankfurter Generalversammlung hatte 1964 noch den weltbekannten Calvin-Forscher und tapferen Kirchenkämpfer zum Präsidenten des Reformierten Weltbundes gewählt, und als solcher hat er in diesen Jahren sein Amt ausgefüllt, indem er nicht müde wurde, auf das theologische Erbe der Bekennenden Kirche und die reformierte Tradition hinzuweisen. Doch in den 1960er Jahren wurden die gesellschaftspolitischen und globalen Fragen nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit und Frieden auch im Reformierten Weltbund immer dringlicher. Niesels Verdienste um die Verschmelzung der Presbyterianer und der Kongregationalisten zu einem Weltbund 1970 in Nairobi wurden überschattet von kräftigen Dissonanzen.36
Als Niesel Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre seine kirchlichen Ämter niederlegte, gab es viel Lob. Aber alle Würdigungen zu seinem 70., 75. und 80. Geburtstag lassen doch erkennen, dass Niesels Person, seine Theologie und sein Führungsstil anachronistisch geworden waren. Es |81| kommt wohl nicht von ungefähr, dass seine Kirchenkampf-Erinnerungen37 von der Fertigstellung bis zur Publikation fast vier Jahre benötigten. Einigermassen unzeitgemäss erscheint dann auch Niesels «theologisches Testament», eine Vorlesungsreihe 1978 in Japan unter dem Titel «Lobt Gott, den Herrn der Herrlichkeit. Theologie um Gottes Ehre».38 In diesem letzten Buch vertritt Niesel politisch und kirchlich zwar durchgängig «progressive» Positionen, aber dem Buch haftet ein repristinierender Ton an, indem immer wieder auf Schrift und Bekenntnis rekurriert, nein: gepocht wird. – Wenige Wochen nach seinem 85. Geburtstag ist Wilhelm Niesel am 13. März 1988 in Königsstein im Taunus gestorben und im reformierten Dörflein Schöller nahe Wuppertal beerdigt worden.
3. Kirchen- und konfessionspolitische Argumentationsmuster
Konfessionelle Selbstbestimmung diente bei Niesel vor allem der Frage nach dem, was denn Kirche sei. Dass Niesel später so vehement für die Abendmahlsübereinkünfte von Arnoldshain und Leuenberg und für die EKD als Kirchengemeinschaft – und nicht etwa nur als ein mehr oder minder losen Bund von Landeskirchen – eintrat, findet seinen Grund nicht zuletzt in den im Kirchenkampf erkämpften Positionen. Es ging gerade nicht um konfessionelle Quisquilien, sondern um die Existenz und das Sein der Kirche. Bereits in der ersten gewichtigen Äusserung der Reformierten im Frühjahr 1933 markieren die Düsseldorfer Thesen mit einem Zitat der Berner Thesen von 1528 die grundsätzliche Bedeutung der Auseinandersetzungen: «Die heilige christliche Kirche, deren einiges Haupt Christus ist, ist aus dem Wort Gottes geboren, in demselben bleibt sie und hört nicht die Stimme eines Fremden.»39 Die bekenntniskirchlichen Reformierten |82| verweigern sich einem konfessionell-strategischen Denken nach Machtanteilen innerhalb einer organisatorisch neu zu ordnenden Kirche. Sie wollen nicht Anpassung, sondern Reformation, gehen deshalb auch nicht nur auf die veränderten gesellschaftlich-politischen Verhältnisse ein, sondern greifen in ihren Argumentationen weiter in die Geschichte des Protestantismus zurück.
In einem Vortrag vor der Ersten freien reformierten Bekenntnissynode im Januar 1934 in Barmen40 stellt Niesel fest, dass es einfach mit einem Bekenntnispostulat in der gegenwärtigen Lage nicht getan sei; andere Trennungen hätten sich aufgetan, reformatorisch-bibeltreue Kirche versus Neuprotestantismus oder deutschchristliche Häresie. Deshalb gälte: «Die Namen lutherisch und reformiert sind heute [1934] zu Vokabeln geworden, die nichts sagen, wenn sie nicht erläutert werden.»41 In den Unionskirchen gab es ja bereits ein Miteinander von lutherisch, reformiert und uniert bekennenden Gemeinden. Und da sich über die Konfessionsgrenzen hinweg ein neues, unter Umständen sogar gemeinsames Bekennen abzuzeichnen begann, ging es um die «Kernfrage»: «Ist unsere Kirche, der wir angehören, Kirche, oder ist sie es nicht? Dürfen wir in ihr die Kirche Jesu Christi glauben oder nicht?»42
Besonders innerhalb der Bekennenden Kirche wurde um ein gemeinsames Bekennen gerungen, war es doch beispielsweise bis dahin noch nicht möglich, während der Barmer Bekenntnissynode gemeinsam das Abendmahl zu feiern. Es entstanden etwa die beiden Schriften «Was heisst lutherisch?» von Hermann Sasse (München 1934, 21936) und «Was heisst reformiert?» von Wilhelm Niesel (München 1934), und weitergehend hat man sich innerhalb der Bekennenden Kirche auch um eine Klärung |83| des Abendmahlsverständnisses bemüht, vor allem durch Helmut Gollwitzers grosse Studie43 und die «Abendmahlssynode» in Halle 1937.44
In seiner Schrift «Was heisst reformiert?» traktiert Niesel dann auch kaum die konfessionelle Frage, sondern klärt zahlreiche grundsätzliche ekklesiologische Fragen und schreibt die oben markierten Positionen «im heutigen Kampfe um die Kirche»45 fort. «Reformiert» im Sinne von «erneuert» bezieht sich stets auf die Kirche, nicht auf eine Konfession. Deshalb fragt Niesel nach der «Regel und Richtschnur für die Erneuerung der Kirche»: Reformiert bedeute genaugenommen «nach Gottes Wort reformiert». Daraus folge die unbedingte Anerkenntnis des Wortes Gottes, «wie es uns in der Heiligen Schrift gesagt wird»46. Dabei, so Niesel, «wird […] deutlich, dass es sich beim Schriftwort letztlich um Christus handelt»47. Auch das Alte Testament soll ganz christologisch gelesen werden, da es sich in beiden Testamenten um den einen Bundesgott handelt.48 In dieser Schrift wendet sich Niesel deshalb auch nicht gegen andere Konfessionen, argumentiert nicht konfessionell-polemisch49, sondern attackiert |84| mit scharfen Worten alle Theologie und Kirchenpolitik, die nicht steil allein bei der Offenbarung ansetzt:
«Wer die Konfession als Gestalt versteht, die […] entstanden ist und sich dann in der Geschichte ausbreitet, der weiss nicht, dass Konfessio immer das Bekenntnis der einen Kirche zu ihrem Herrn ist.»50
Konfessionell bedeutet bei Niesel, jedenfalls dem eigenen Anspruch nach, bekennend zu sein, das heisst den Herrn der Kirche in dieser Welt bekennend, nicht jedoch ein kirchenpolitisches Agieren für die Stärkung der eigenen Konfession im Sinne von Denomination. Gewiss trifft die Charakterisierung Niesels zu: «Geist und Wirklichkeit des reformierten Bekenntnisses prägen ihn [sc. Niesel].»51 Aber ein Konfessionalist war Niesel keineswegs: «Obschon Niesel seine reformierte Herkunft nie verleugnet hat, stehen konfessionelle Rechtfertigungen während des Kirchenkampfes nicht im Vordergrund seines Interesses.»52
In Niesels Vorträgen und Schriften des Kirchenkampfes stösst man – abgesehen von den Zitaten und Anspielungen auf Johannes Calvin, den Heidelberger Katechismus und wenigen «reformierten Vätern» wie etwa Paul Geyser – auf die Entscheidungen der Bekenntnissynoden. Besonders rekurriert Niesel aber auf Barths Werk, so etwa – um nur ein Beispiel zu nennen – auf die dreifache Gestalt des Wortes Gottes aus Kirchlichen Dogmatik I/1 (§4).53 Und ganz offenkundig schliesst sich Niesel auch bei der Frage der konfessionellen Selbstbestimmung den Überlegungen Barths an, die dieser, der Shootingstar am reformierten Theologenhimmel, bereits ein Jahrzehnt zuvor geäussert hatte und damit die etablierten Reformierten einigermassen brüskiert haben dürfte.
Zum einen ist dies Barths erster grosser Auftritt vor den deutschen Reformierten während der Hauptversammlung des Reformierten Bundes im September 1923 in Emden. In diesem fulminanten Vortrag erklärt der junge Professor seinen vermutlich erstaunten Zuhörern, dass zeitgenössische |85| Antworten auf die Frage nach «reformierter Lehre» unzureichend oder gar gefährlich seien: Ein schlichter Rückbezug auf die alten Überlieferungen sei die Antwort «des religiösen Heimatschützlers, des Freundes reformierter Art». Zu fordern sei aber gerade mit den «Vätern» die kritische Prüfung der Lehre mit Bibel und Geist.54 Auch Niesel kritisierte «ein romantisches Reformiertentum […], das sich in der Kultivierung mancher Formen gefällt»55 und betont: nach Gottes Wort reformiert.56 Barths wählt deshalb auch den Ansatzpunkt seines Frontalangriffs vom «die reformierte Lehre zunächst charakterisierenden Punkt» aus, nämlich dem «Schriftprinzip».57 Dabei pocht Barth allerdings auf ein dynamisches Verständnis der Offenbarung: Gewiss gilt das Wort Alten und Neuen Testaments, die ganze Schrift, aber doch «nie ohne das entscheidende Wort des Geistes, aus dem sie selbst stammt».58 Und schon hier, zehn Jahre vor dem Kirchenkampf, zitiert Barth den Beginn der Berner Thesen von 152859, der dann in Texten der Bekennenden Kirche zitiert wird und auf den sich auch Niesel immer wieder bezieht. Barth sieht «[d]ie grosse Misere des modernen Protestantismus» dann in allen späteren Epochen der Kirchengeschichte bis in die Gegenwart hinein60, so wie auch Niesel das Verdikt über den Neuprotestantismus und alle Formen von Liberalismus aussprechen |86| kann.61 Barth fordert quasi die Wiederentdeckung der Majestät Gottes und der daraus abzuleitenden Orientierung an dessen Gebot, die typisch reformiert «die Wendung von der Anschauung Gottes […] zurück zum Leben, zum Menschen und seiner Lage» mit einschliesst.62
Zum anderen: Durch Vermittlung Adolf Kellers – etwa zwei Dekaden zuvor Barths Vikarsmentor in Genf – erhält Barth den Auftrag vom Reformierten Weltbund, für den im Sommer 1925 bevorstehenden General Council in Cardiff über «Wünschbarkeit und Möglichkeit eines allgemeinen reformierten Glaubensbekenntnisses» nachzudenken.63 Zwei Jahre zuvor hatte Barth auf die Möglichkeit eines neuen Bekenntnisses verwiesen64, um einer nicht an der Bibel kritisch zu messenden Erstarrung der Lehre zu wehren; er nimmt diesen Gedanken auch jetzt nicht zurück65, trägt aber nun ernste Bedenken gegen ein «allgemeines reformiertes Bekenntnis» vor: Einerseits sei ein – reformiertes – Bekenntnis nicht die Definition einer konfessionellen Eigenart, sondern Stimme der una sancta ecclesia, andererseits könne es kein allgemeines Bekenntnis geben, da immer konkret lokal und aktuell bekannt werden müsse: «Wir, hier, jetzt – bekennen dies!»66 Diese Einsichten führten dann auch zu der von Barth doch wohl positiv verstandenen «bunten unbekümmerten Krähwinkelei |87| der reformierten Konfessionen».67 Als dritten Einwand formuliert Barth die Frage, ob man wirklich um Gottes (!) willen jetzt zu reden habe, nicht jedoch aus kirchenpolitischen oder anderen Gründen.68
Deutlich dürfte durch die Hinweise auf diese beiden Vorträge Barths69 geworden sein, dass bei aller Hinwendung zur reformierten Tradition Niesel doch von Barth übernommen haben dürfte, dass es bei der konfessionellen Selbstbestimmung immer um die gesamte Kirche zu tun ist und |88| dass diese Bestimmung und die Erneuerung der Kirche letztlich nicht anders als allein in Gottes Offenbarung, für die der Name Jesus Christus steht, zu begründen ist. Analog zum reformierten Verständnis der Bestimmung von «Kirche» und «Gemeinde» könnte hier formuliert werden: «Konfession» ist nicht etwa eine Teilmenge von «Kirche», sondern sozusagen ihre notwendige Form. «Kirche» existiert nicht anders als in Form von «Konfession», und in jeder «Konfession» existiert die ganze «Kirche». Nach Niesel sind «die Reformierten eine Konfession […], die keine Konfession sein [will]», wie er wenige Jahre nach dem Kirchenkampf resümieren konnte.70