Kitabı oku: «Reformierte Theologie weltweit», sayfa 7
4. Orientierungspunkte: Glaubensgehorsam und Gemeinschaft mit Christus
Auch und gerade nach dem Ende des Krieges steht die Arbeit des Theologen und Kirchenpolitikers Wilhelm Niesel unter der Überschrift «Reformiert? Jawohl, reformiert!»71 Anhand zweier mehrfach gehaltener Vorträge, die von Niesel selbst ausgewählt wurden, um in einem repräsentativen Sammelband – als er mit der Wahl zum Präsidenten des Reformierten Weltbundes den Zenit seines Wirkens erreicht hatte – wieder abgedruckt zu werden, und anhand eines Abschnitts aus seiner Konfessionskunde soll dargelegt werden, wie gradlinig Niesel frühere Positionen auch unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen weiterhin vertreten konnte, wie er aber auch sowohl ein reformiertes Charakteristikum profiliert als auch ein Theologumenon so betont, dass es geradezu als theologisches Erbe Niesels gelten kann.
4.1 Glaubensgehorsam
4.1.1 Darstellung
In seinem Vortrag «Reformiertes Bekenntnis heute» (1955)72 wiederholt Niesel bereits bekannte Positionen, expliziert diese jedoch in durchgehender |89| Anlehnung an die Barmer Theologische Erklärung: «Reformiert» hiesse genauer gefasst «nach Gottes Wort reformiert», also gelte allein das «Wort Gottes» und keine Konfession. Richtschnur sei – gemäss der 1933 erinnerten ersten Berner These – die 1934 bekannte erste These der Barmer Theologischen Erklärung: «die Gegenwart Christi in seinem Wort».73 An dieser Richtschnur müssen sich auch die daraufhin nachgeordneten Bekenntnisschriften relativieren lassen. Stärker als dies vorher in einem totalitären Staat realistisch gewesen wäre, betont Niesel nach 1945 die notwendige Kraft zur Weltgestaltung reformierten Glaubens. Die «aus den gottlosen Bindungen dieser Welt» Erlösten wüssten sich freigemacht «zu freiem, dankbarem Dienst an Gottes Geschöpfen» (Barmen II).74 Niesel deutet das «frei» natürlich nicht auf eine gewisse Freiheit ethischen Urteilens, sondern als Freiheit zum Dienst auch für andere: Jesu Anspruch «heute zu bewähren», kann eben nicht bedeuten, wie «man von lutherischer Seite schon wieder [!] ethische Entscheidungen dem Ermessen des Einzelnen zuschiebt […], anstatt zum Gehorsam zu rufen».75 Gottes Zuspruch und Gottes Anspruch würden gelebt in der Gemeindekirche ohne jegliches weltliches «Führerprinzip», «in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt» (Barmen III). Die «Botschaft von der freien Gnade Gottes» sei an alle Welt, «an alles Volk [auszurichten]» (Barmen VI). Daher seien der Christ und die Kirche verpflichtet «zum Dienst in der Welt auf allen Gebieten des Lebens».76 Auch wenn keine parteipolitischen Optionen möglich seien, so doch politische Lobby-Arbeit, indem Staatsmänner und alle durch die Kirche «an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit» erinnert würden (Barmen V).
Niesel sah entsprechend zum in Anspruch nehmenden Gott den Glauben nicht zuletzt als «Gehorsam» gegen Gottes Wort.77 Dieser Dual von «Zuspruch und Anspruch» und «Glauben und Gehorsam» findet sich prononciert im Vortrag «Das Zeugnis der reformierten Kirchen in der |90| Welt von heute» (1954).78 Nach sehr ähnlichen Bezügen auf die Barmer Theologische Erklärung rekurriert Niesel hier mehr auf die Christuszentrierung und die «Dankbarkeit» des Heidelberger Katechismus: «Der viel besprochene Aktivismus der reformierten Kirchen hat nicht zuletzt darin seinen Grund, dass alle, die Christi eigen sind, ohne Bedenken und Zweifel ans Werk gehen und sich darin als Eigentum Christi und Kinder Gottes erweisen können.»79 Niesel nennt die in Ost und West getrennte Welt und die Massenvernichtungswaffen: «[D]en «Mächten der Finsternis» möge man durch «festen Widerstand» nicht unterliegen.80
4.1.2 Kritik und Würdigung
Hatte sich Niesel während des Kirchenkampfes an Barths Überlegungen gehalten, dass es sich bei der Bestimmung der je eigenen confessio um das richtige Bekenntnis der – einen – Kirche handelte und damit um das je aktuelle Bekennen, das sich alleine auf die Schrift zu beziehen habe, so schrieb Niesel diese klare Position auch nach 1945 fort und geriet damit nolens volens selbst in eine gewisse Kirchenkampf-Orthodoxie: Bei späteren Bestimmungen des Reformierten setzte er Barmen als normativ voraus. Die von ihm mit Selbstverständlichkeit genannten «Väter» aus der reformierten Tradition wurden je länger je abständiger. Niesel meinte damit nicht die Pluralität der reformierten Tradition, sondern lediglich diejenigen Väter, die aus seiner Perspektive mit Johannes Calvin zusammen zu denken waren. So las Niesel sowohl den Heidelberger Katechismus als auch Karl Barth fast ganz von Calvin her81 – andere reformierte |91| Stimmen fanden nahezu kein Gehör, höchstens einige Aussenseiter oder solche, die gegen aufgeklärt-liberal-moderne Theologien ins Felde geführt werden konnten, etwa Hermann Friedrich Kohlbrügge oder Paul Geyser. Niesel hatte mit dieser schroffen Theologie gute Erfahrungen im «Dritten Reich» gemacht, schaute zurück auf die «Zeit, die das Führerprinzip proklamierte», «als Christus […] sich an uns lebendig erwies».82 Diese für Niesel geschichtlich verifizierte und erfahrene Offenbarungstheologie hatte sich als Grundlage für einen klaren Widerspruch gegen häretische Theologien bewährt. Dieser Widerspruch konnte, musste allerdings nicht auch automatisch zu einem Widerspruch gegen das NS-Regime führen, wie in der historischen Analyse festgestellt werden muss. Aber es war doch mindestens ein Unbehagen gegen die Grundlagen des totalitären Weltanschauungsstaates zu spüren. So war ihm der «Kirchenkampf» geradezu die idealtypische Situation der treuen Kirche. Mit diesem Bekenntnisgestus gestaltete Niesel auch seine Kirchenpolitik während des «Kalten Krieges», denn «das Zeugnis der Bekennenden Kirche [hat] sich in all den Jahren bis auf den heutigen Tag [sc. Mai 1964] als befreiendes Wort bewährt».83 «Zeugnis» ist eine religiöse Kategorie und spielt im Zusammenhang mit der Bekennenden Kirche sicherlich nicht unabsichtlich auf martyrein an: das mit dem Leben und der Lebenshingabe bezeugte und bewahrheitete Bekennen zu Jesus Christus als dem Herrn.
Nicht, dass Niesel als Erbe der reformierten Tradition und der Bekennenden Kirche nun die «Heiligung» als zentral ansieht oder dass er dies als «Glaubensgehorsam» bestimmt, ist problematisch. Bereits sein Vortrag auf der Freien reformierten Synode in Barmen im Januar 1934 trug diese |92| Konsequenz im Titel: «Der Weg der Kirche im Gehorsam des Glaubens».84 Niesel steht damit theologisch und kirchenpolitisch in gut reformierter Tradition. Auch Niesels theologischer Lehrer Barth hatte «Glaube und Gehorsam» in seinen Vorträgen und den ersten dogmatischen Entwürfen der 1920er Jahre positiv als reformiertes Charakteristikum benannt.85 Ebenso hatte Niesels kirchenpolitischer Ziehvater Hermann A. Hesse gar ganze Jahre unter das Motto «Gehorsam des Glaubens» stellen können.86
Problematisch scheint dagegen, dass erstens der Begriff «Gehorsam» durchaus anachronistisch klingt. Wie soll dieser Begriff mit seinen Konnotationen ein Leitbegriff der theologisch-ethischen Meinungsbildung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder im dritten Jahrtausend sein können? Sachlich problematischer scheint zweitens die missverständliche Deutung, als ob einfach alle zu entscheidenden Fragen des praktischen Lebens aus dem Glauben abzuleiten wären, quasi ohne Bruch, so dass in einem permanenten Prozess des Bekennens sich zwangsläufig die Frage des status confessionis ebenso ständig stellt.87
Konfessionskundlich werden die Reformierten durchaus positiv charakterisiert, was ihre Wahrnehmung des «Wächteramtes» anlangt, allerdings:
«Der Weg von prophetischer Gesellschaftskritik zum konkreten ethischen Argument erweist sich […] als schwierig. Ein kerygmatisches Verständnis des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags und ein dialogorientiertes liegen im Streit miteinander.»88 |93|
Ethisches Urteilen muss unabdingbar die zu beurteilende Situation zunächst wahrnehmen und interpretieren. «Da sich in ethischen Urteilen ein normatives Element mit empirischer Situationseinschätzung verbindet, sind sie nicht […] linear aus theologischen Prämissen zu deduzieren.»89 Damit wird auch hinter Barths Rede von der «schnurgeraden» Herleitung ethisch-politischer Positionen ein Fragezeichen gesetzt, die er in seinen Schriften «Rechtfertigung und Recht» und «Christengemeinde und Bürgergemeinde» und anderenorts dargestellt und ausgeführt hatte.
Bei aller «Orthodoxie» glänzt allerdings bei Niesel auch ein überraschender dynamischer Zug auf, der dann eine der grossen Innovationen der reformierten Theologie und darüber hinaus werden sollte. Der typisch reformierte Zug zu den Taten aus dem Glauben wird nicht etwa nur rechtfertigungstheologisch und daraus abgeleitet über den tertius usus legis erklärt, sondern eschatologisch:
«[U]nser unvollkommener täglicher Dienst [ist] eingeordnet […] in die neue Schöpfung, die der wiederkommende Herr heraufführen wird. Weil das geschehen wird, weil der wiederkommende Christus der gequälten Menschheit die Erlösung bringen wird, können wir heute nicht nur voller Zuversicht zur vergebenden Gnade Gottes unser Tagwerk tun, sondern auch voller Freude auf die Vollendung in Christus.»90
Wer denkt bei einer solchen theologischen Begründungsumkehrung nicht sofort an Jürgen Moltmann? Moltmann und Niesel haben interessante Berührungspunkte gehabt. So erinnert sich Moltmann an die gemeinsam mit Niesel an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal verlebte Zeit, wo er selbst zunächst vor allem theologiegeschichtliche Vorlesungen hielt – entsprechend der Themen seiner akademischen Qualifikationsarbeiten –, um sich nach einigen Jahren auch der aktuellen Debatte zuzuwenden:
«1963/64 trug ich dann meine Theologie der Hoffnung in Wuppertal und zugleich in Bonn vor […] Wilhelm Niesel ermahnte mich, er sei hier |94| [sc. in Wuppertal] der Vertreter für die reformierte Theologie, ich solle mich auf die Theologiegeschichte beschränken.»91
Niesel war möglicherweise auch wegen des universitären Erfolgs des jungen Kollegen etwas verschnupft. Interessanter ist jedoch, dass der alte Haudegen diese theologische Neukonzeption Moltmanns als reformiert identifizieren konnte. Ob Niesel mehr als andere gesehen hat, dass Moltmanns mutiger Entwurf auch auf dem Hintergrund von dessen theologiegeschichtlichen Studien zu sehen ist, in denen er sich nicht zuletzt der reformierten Föderaltheologie gewidmet hatte?92 Auch weiterhin begleitete Wilhelm Niesel den fast eine Generation jüngeren Jürgen Moltmann eher mit Wohlwollen: «Niesel blieb mir gleichwohl wohlgesonnen, auch wenn ich ihm nicht astrein aus reformierten Holz geschnitzt erschien.»93 |95|
4.2 Communio cum Christo94
4.2.1 Darstellung
Die Behauptung scheint kaum übertrieben zu sein, dass die «Gemeinschaft mit Jesus Christus» nicht nur alle Beiträge des Nieselschen Sammelbandes als «Gesamtthema» durchklinge95, sondern als die theologische Grundorientierung des reformierten Theologen Niesel zu gelten habe. Durch seine zahlreichen Studien zur Theologiegeschichte der Reformierten vorbereitet, verfasste Niesel ein Lehrbuch der Symbolik nach seinen Vorlesungen an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal.96 Das erste Kapitel über die Kirchen der Reformation stellt er unter die Überschrift «Gemeinschaft mit Christus» und nennt diese «[d]as grundlegende Bekenntnis der Reformierten».97 Niesel sieht hier – wie auch an anderen Stellen – Calvin und den Heidelberger Katechismus ganz einig. Jesus Christus hat nicht allein durch sein Leiden und Sterben gewirkt, sondern wirkt auch heute noch als der Herr dieser Welt. Er ist den Seinen nahe und gewährt seine Gemeinschaft. Damit können keine «frommen Dreistigkeiten»98 eines Gerhard Tersteegen und anderer Mystiker gemeint sein. Vielmehr müssten alle gegenwärtigen Gnadengaben als Christi Werk verstanden werden, wodurch die Glaubenden mit ihm Gemeinschaft haben. Nicht zuletzt für die Abendmahlslehre ist dies entscheidend. Christus selbst ist Gabe und Geber des Abendmahls; seine – wie auch immer genau zu fassende – reale Gegenwart konstituiert das Abendmahl als Sakrament. |96|
Die communio cum Christo blieb für Niesel ein ihn lebenslang begleitendes Theologumenon. Theologisch gediegen und überaus willig zur geforderten Welt(um)gestaltung führte er angesichts der Stimmungslage gerade auch in der Ökumene am Ende seiner kirchenpolitischen Karriere beinahe verzweifelt aus:
«Die Gemeinschaft mit Christus ist Quell für alles, was heute [sc. 1970] die Gemüter so stark bewegt und begehren lässt: Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, Wandlung der Verhältnisse zu einem menschenwürdigen Dasein aller. Die Aktivität hierfür müsste wirklich radikal sein, von der guten Wurzel herkommen, dem neuen Menschen Jesus Christus und unserer Gemeinschaft mit ihm! Eine blosse Veränderung von Strukturen99 vermag unsere Welt nicht heil zu machen, weil dadurch die Menschen nicht von innen her anders werden.»100
Ist dies jedoch geschehen, wird es keinen anderen Weg mehr als den des «Glaubensgehorsams» geben können.
4.2.2 Wichtiger als ein theologisches Prinzip: die Person Jesu Christi
Sowohl in seiner Symbolik als auch im Aufsatz zum Jubiläum des Heidelberger Katechismus im Jahr 1963 findet sich eine Kritik bzw. eine Relativierung der Rechtfertigungslehre durch Wilhelm Niesel. Diese Lehre ist natürlich grundlegend wichtig, darf aber nicht als theologisches Prinzip |97| verstanden werden. Anders als Luthers Kleiner Katechismus behandelt gerade auch der Heidelberger Katechismus «die Grundlehre der Reformation von der Rechtfertigung des Sünders aus lauter Gnaden».
«Aber er versteift sich nicht darauf. Das ist in der reformatorischen Theologie mitunter geschehen. Wo die Rechtfertigungslehre als das ein und alles der Christenheit proklamiert wurde, übersah man, dass sie nur Ausdruck der Christusbotschaft des Neuen Testaments ist. Christus ist unser ein und alles; und er ist reicher für uns als eine einzelne derartige Lehre es zu umschreiben vermag.»101
Wer die Rechtfertigungslehre als alleiniges theologisches Prinzip versteht, gelangt notwendig zu einem eingeschränkten Verständnis des Bekenntnisses, nämlich zur irrigen Ansicht, dass Bekennen darin bestünde, theologische Richtigkeiten zu benennen – das war die Gefahr des Luthertums spätestens seit 1580. Tatsächlich geht es aber im christlichen Glauben um eine lebendige Person: Jesus Christus.102 Das hat Konsequenzen für den Glaubens- und Lebensstil. Nicht allein theologische Positionen müssen Jesus Christus entsprechen, sondern das ganze Leben. Eine Rechtfertigung des Faktischen kann es dann nicht geben, das, was ist, muss nicht vernünftig sein. Niesel und seine Weggefährten hegten auch deshalb Skepsis gegenüber Schöpfungsordnungen, die ja durch die begrenzte und getrübte Erkenntnisfähigkeit des Menschen ohnehin unklar bleiben. Aber auch ein quietistischer Lebensstil ist nicht möglich. Die Reformierten präferieren das Prophetische. |98|
Ganz überraschend findet diese Kategorie der Gemeinschaft mit Christus eine aktuelle Erwähnung: «Christliche Ethik hat ihre Identität in Christusgemeinschaft und der Nachfolge Christi, um in ihr ‹die bessere Gerechtigkeit› (Mt 5,20) sichtbar werden zu lassen, aber sie findet ihre Relevanz in den Problemen und Nöten ihrer Zeit.»103 Ein zweites Mal stossen wir überraschend auf eine Berührung Niesels mit Jürgen Moltmann – überraschend deshalb, weil der ältere für ein konfessionell-konservatives Reformiertentum steht, der jüngere dagegen für ein innovatives Format dieser protestantischen Spielart. Auch Moltmann kann eine sich selbst genügende Rechtfertigungslehre kritisieren, da «Rechtfertigung» allein auf den Täter blickt und auf dessen Zurechtbringung in einer jenseitigen Welt. Gemeinschaft mit Christus bedeutet aber weiter zurück und weiter nach vorn zu schauen, als alleine den Vorgang der Rechtfertigung eines Individuums zu fokussieren, nämlich Christus als den alleinigen Grund zu sehen und im Glaubensgehorsam bereits hier das Leben zu gestalten, mit Christus auf der Seite der Opfer zu stehen, weil Christus selbst Opfer wurde.104 Es kann deshalb auch nicht verwundern, dass die Reformierten bei den Aufgeregtheiten im Zusammenhang mit dem Rechtfertigungskonsens zwischen Rom und «Wittenberg» kurz vor der Jahrtausendwende kaum vernehmbar waren. Gewiss sind sie treue Anhänger paulinisch-augustinischer Theologie, aber gerade deshalb sind sie mit dieser Theologie auch weiter fortgeschritten und verstehen die Rechtfertigung nicht absolut, sondern in einem vitalen Verhältnis zum Leben und also zur Heiligung und Weltgestaltung.105 |99|
5. Niesels Name und der Name, der über alle Namen ist
Wilhelm Niesel gehört heute nicht zu den bekannten Personen der jüngeren Theologie- und Kirchengeschichte Deutschlands. Weder ein bedeutsames noch ein einheitliches Werk hat Niesel hinterlassen, so dass sein theologisches Œuvre nicht wirklich überragend ist, auch wenn eine umfangreiche Bibliographie vorliegt.106 Er hat keine «Schule» gebildet, es gibt keine Theologen von Rang, die sich unmittelbar als seine Schüler verstünden. In der Kirche wurde ihm zu Lebzeiten keine herzliche Sympathie entgegengebracht, eher Respekt und manchmal wohl auch Furcht, weil er derart unnachgiebig war: intransigent in der vom ihm vertretenen Glaubenslehre, unnachgiebig im von ihm geforderten Glaubensgehorsam. Die Zeitläufte haben ihn aber an vordere kirchen- und konfessionspolitische Plätze getragen. Diese Einschätzung soll weder seine Begabungen noch seine Leistungen mindern, ihn aber doch historisch kontextualisieren und relativieren.
Es war hier Aufgabe, an Wilhelm Niesel zu erinnern und ihn in seiner Bedeutung für die reformierte Identität im 20. Jahrhundert auch in globalen Bezügen vorzustellen. Bei ihm hatten Theologie und Kirchenpolitik – beides Funktionen der Kirche – einen Grund, eine Ausrichtung und ein Ziel. Der christliche Glaube als Glaube an Jesus Christus kann nicht anders als bei allem, was im Glauben getan wird, «Zeugnis» zu sein und zu geben (vgl. 1Kor 9,16). In der reformierten Tradition entdeckte Niesel dafür gute Grundlagen, in der für ihn zeitgenössischen Theologie Karl Barths sah er das entscheidende Interpretationsformat und im Kirchenkampf machte er die prägenden Erfahrungen seines Lebens. Wenn es nach Wilhelm Niesels zu vermutendem eigenen Willen ginge, dann wird er für seinen Namen und seine Person wohl nur ernsthaft eine Bedeutung |100| erhofft haben, nämlich dass sein Lebenszeugnis Hinweis sein darf für den einen Namen, der über alle Namen ist: Jesus Christus.
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Reinhold Niebuhr (1892–1971): «Christlicher Realismus» in Zeiten der Krise
Matthias Zeindler
1. Hüben unbekannt, drüben berühmt …
Unter der Nr. 844 findet sich im Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz das folgende Gebet:
«Gott, schenke mir Gelassenheit,
das hinzunehmen, was ich nicht ändern kann,
Mut, das zu ändern, was ich ändern kann,
und Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.»
Es ist dies einer der bekanntesten und am weitesten verbreiteten christlichen Gebetstexte. Die Anonymen Alkoholiker haben ihn sogar zu ihrem offiziellen Gebet gemacht. Weniger bekannt ist sein Autor. Vor allem in Deutschland wurde lange Zeit ein Mann namens «Oetinger» als Verfasser angegeben, und viele Leute waren der Meinung, es handle sich dabei um den grossen pietistischen Theologen Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782). In Wirklichkeit heisst der Autor des Gebets Reinhold Niebuhr. Im Sommer 1943 hatte er es in einem Gottesdienst in der kleinen Dorfkirche in Heath, Massachussetts, gesprochen. Es war auf die Rückseite eines Briefumschlags notiert.1 Von dieser Dorfkirche aus machte das Gebet seinen Weg durch die Welt.2 |102|
Reinhold Niebuhr gehört in den USA zu den wichtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts.3 Dabei ist seine Wirkung weit über die Grenzen von Kirche und akademischer Theologie hinausgegangen – Niebuhr war während Jahrzehnten eine Figur des öffentlichen Lebens. Als einer von ganz wenigen Theologen war er auf dem Titelbild von «Time» abgebildet4. Nehmen wir als Indikator seiner Bedeutung in seiner Heimat nur einige Aussagen amerikanischer Präsidenten. John F. Kennedy sagte von Niebuhr einmal: «We are all his disciples» (Wir sind alle seine Schüler)5, Jimmy Carter war tief beeinflusst von seinen Ideen zu Moral und Gerechtigkeit6, und Barack Obama nannte Niebuhr in einem Interview mit der «New York Times» «one of my favorite philosophers» (einer meiner wichtigsten Philosophen)7.
Im Unterschied zu den USA weiss man in der deutschsprachigen Theologie von Reinhold Niebuhr in der Regel wenig.8 Ich werde mich im Folgenden auch mit der Frage befassen, inwiefern dies mit der Spezifik seines Werks zu tun hat. Abgesehen von personenbezogenen Gründen drückt sich in dieser spärlichen Präsenz von Niebuhr im deutschsprachigen theologischen Bewusstsein aber auch die allgemeinere Tatsache aus, |103| dass die US-amerikanische Theologie hierzulande nach wie vor ungenügend präsent ist. Seit zwei Jahrzehnten ändert sich dies zwar langsam, aber eine breitere Kenntnis, und insbesondere eine Kenntnis der Geschichte der Theologie in den USA, gibt es nach wie vor nicht. In der Gegenrichtung verhält es sich anders: Schleiermacher und Troeltsch, Barth und Brunner, Moltmann und Pannenberg sind in der Theologie der USA selbstverständlich gegenwärtig – übrigens auch unter Studierenden.
Niebuhr soll in diesem Buch auch als reformierter Theologe dargestellt werden – was auf einen ersten Blick eine nicht ganz einfache Aufgabe ist. Reinhold Niebuhr hat sich selbst nicht als konfessionell reformierter Theologe verstanden, und eine spezifisch reformierte Tradition als Teil seiner kirchlichen Identität oder als Dimension seiner theologischen Position findet sich in seinen Werken nicht erwähnt. Eine Thematisierung seines Reformiertseins wird man bei Niebuhr vergebens suchen. Auch von aussen ist Niebuhr zwar als protestantischer, nicht aber als reformierter Theologe wahrgenommen worden. Umso interessanter ist die Frage, ob und inwiefern es bei ihm trotzdem theologische Aspekte gibt, die am besten von seiner reformierten Herkunft her verstanden werden können. Wir kommen auf diese Frage am Ende des Beitrags zurück.
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