Kitabı oku: «SOKO Marburg-Biedenkopf», sayfa 3
Die Kofferträger von Amöneburg
PETER GODAZGAR
Amöneburg also. Klar, man könnte einfach hinfahren und sich das Städtchen angucken. Bisschen rumspazieren, in einem Café einkehren, schön Käffchen trinken. Könnte man machen.
Geht aber nur, wenn man nicht mit Claus Corinth verheiratet ist. Claus Corinth fährt nicht einfach irgendwo hin. Er spaziert auch nicht einfach so rum.
Corinth bereitet sich vor. Corinth recherchiert. Corinth druckt aus. Corinth heftet ab. Und dann packt Corinth alles in seinen schwarzen Aktenkoffer. Corinth macht Ausflüge grundsätzlich nur mit seinem schwarzen Aktenkoffer. Er stand mit seinem schwarzen Aktenkoffer schon im Louvre und auf dem Brocken. Nicht ohne meinen Aktenkoffer – das ist Corinths Maxime. Und im Aktenkoffer: Leitz-Ordner. Manchmal einer. Manchmal mehrere. Und in den Leitz-Ordnern: die ausgedruckten Informationen zur Reise.
Sigrid, Corinths Frau, erinnert sich an den Brasilien-Urlaub: zwei Aktenordner, zwei Reiseführer.
Ägypten: Drei Ordner, vier Reiseführer.
Berlin: Drei Ordner, fünf Reiseführer.
Über Amöneburg gibt es keinen Reiseführer. Oder jedenfalls hat Claus keinen gefunden. Darum hat er nur einen Leitz-Ordner. Einen schmalen. Rückenbreite 50 Millimeter.
* * *
Amöneburg also. Klar, man könnte einfach hinfahren, und sich das Städtchen angucken. Bisschen rumspazieren, in einem Café einkehren, schön Käffchen trinken. Könnte man machen.
Kevin kann das nicht. Er muss was erledigen in Amöneburg. Was Wichtiges. Keine komplizierte Sache, eigentlich. Miguel hat gesagt, er soll einfach nur den verdammten Koffer mit dem verdammten Geld nehmen und zu der verdammten Ruine gehen. Dort würde ein Mann mit einem anderen Koffer warten. Einem Koffer voller Koks. Sie würden die verdammten Koffer tauschen und sich dann wieder vom Acker machen und zwar rápido. Das müsste er, Kevin, doch eigentlich hinkriegen, auch wenn er nur das Gehirn eines verdammten Geckos besitzt, verdammt noch mal! Hatte Miguel gesagt.
Kevin ist sauer. Miguel hat immer schlechte Laune, das nervt. Und noch mehr nervt, dass Miguel seine schlechte Laune immer an Kevin auslässt. Zur Beruhigung hat Kevin vor der Fahrt eine Tüte geraucht. Und dann noch eine während der Fahrt.
* * *
Amöneburg also. Klar, man könnte einfach hinfahren, und sich das Städtchen angucken. Bisschen rumspazieren, in einem Café einkehren, schön Käffchen trinken. Könnte man machen.
Fragt sich bloß: Warum um alles in der Welt sollte man das machen?
Stulle schüttelt den Kopf. Was das nun wieder sollte. Amöneburg! Komplizierter ging’s wirklich nicht. Die Kofferübergabe hätten sie genauso gut in Marburg erledigen können. Oder gleich in Frankfurt. Aber nein, warum einfach, wenn’s umständlich geht? Na ja, schön ist’s hier ja immerhin, dieser weite Blick ins Land, hinter ihm die Burgruine. Stulle sieht sich um. Und welche Bank meinte sein Chef nun, hier gibt’s mehrere Bänke. Na ja, sie würden sich auf dem freien Gelände schon nicht verpassen. Er spaziert zu einer Bank und stellt den Koffer daneben ab. Er guckt auf die Uhr und stellt fest: Er ist viel zu früh. Ächzend sackt Stulle auf die Bank, zückt sein iPhone und schickt eine Nachricht an Estefania.
* * *
Vor seiner Pensionierung war Claus Corinth Sachbearbeiter bei einer Versicherungsgesellschaft, zuständig für die Namen »Kl« bis »Pr«. Wenn Claus Corinth nicht anwesend war, nannten ihn seine Kollegen nur bei seinem ebenso naheliegenden wie wenig schmeichelhaften aber gleichwohl treffenden Spitznamen. Ja, sein Nachname war Teil des Spitznamens.
Auf der Autobahn versorgt Claus Corinth Sigrid mit den wichtigsten Erstinformationen über Amöneburg. In Kerstenhausen, gleich an der A 49, hat er getankt. Claus Corinth hat eine Handy-App, mit der er gucken kann, an welcher Tankstelle der Sprit gerade am günstigsten ist. Sigrid muss allerdings zugeben: Die Unterschiede sind in der Tat gewaltig. Preissprünge von mehr als zwanzig Cent sind keine Seltenheit. Sigrid versucht erst gar nicht, ein System dahinter zu entdecken. Claus jedoch hat den Ehrgeiz, das System – welches auch immer – auszutricksen.
Dann erreichen sie Amöneburg. Dieser Ort ist auf seine Weise wirklich einmalig. Ein einsamer Berg … nun ja, eine Erhebung. Und obendrauf ein Städtchen.
Claus lenkt den Wagen über eine kurvige Straße die Anhöhe hinauf.
»365«, sagt er. »Das kann man sich gut merken.«
»365?«, fragt Sigrid.
»365 Meter. So hoch ist Amöneburg. 365 Meter. So hoch wie es Tage im Jahr gibt.«
»Aha. Interessant.«
»Amöneburg steht auf einem Basaltkegel.«
»So?«
»Alles Basalt.«
»Interessant. Und was ist Basalt?«
Claus schüttelt nachsichtig den Kopf. »Eine Gesteinsart: Ein Ergussgestein, um genau zu sein.«
»Ergussgestein? Das klingt ja widerlich!«
»Entsteht, wenn Magma an die Erdoberfläche gelangt und schnell erkaltet.«
Sigrid hat nur mit halbem Ohr zugehört. »Toll!«
Claus registriert ihren Sarkasmus nicht. »Nicht wahr? Es muss hier irgendwo eine Stelle geben, an der man die Gesteinsschichten sehr gut sehen kann.«
Jetzt wird Sigrid hellhörig. »Irgendwo?« Diese Gelegenheit kann sie sich nicht entgehen lassen. »Weißt du etwa nicht genau, wo das ist? Was ist denn das für eine miserable Vorbereitung?«
Claus zieht eine säuerliche Miene.
* * *
Kevin parkt seinen alten Seat am Marktplatz. Er verspürt plötzlich ein irres Hungergefühl. Gut, dass da ein Dönerladen ist. Kevin bestellt einen Döner. Und danach noch einen zweiten. Dann ist er satt. Jetzt muss er nur noch diese Burg finden.
»Wosn hier die Burg?«, fragt er den Mann hinter der Theke.
Der Mann zeigt nach rechts. »Raus und dann rechts hoch. Zwei-, dreihundert Meter.«
Kevin nickt und verlässt den Dönerladen. Draußen überlegt er, was der Typ gesagt hatte. Ja, verdammt, er hat Konzentrationsprobleme, wenn er ein paar Tüten geraucht hat! Er sieht sich um. Und geht nach links unten.
* * *
Claus Corinth parkt den Audi kurz vor dem Ortseingang, sie steigen aus, er holt den Aktenkoffer auf dem Kofferraum, dreht das Zahlenschloss, lässt die Verschlüsse aufschnappen, greift den Aktenordner heraus und öffnet ihn. Obenauf liegt ein Stadtplan von Amöneburg. Darauf eingezeichnet, mit rosafarbenem Textmarker, eine kurvige Linie. Das ist der Weg, den sie gehen werden. Claus Corinth überlässt auch an einem so sonnigen Frühlingssonntag nichts dem Zufall.
»Mich würde vor allem interessieren, wo wir Kaffee trinken«, sagt Sigrid.
»Kein Problem! Gleich neben der Burgruine gibt es ein Café. Mit Terrasse und schöner Aussicht.«
* * *
Stulle starrt auf das Handydisplay. Estefania hat ihm gerade geschrieben, wie sehr sie ihn schon wieder vermisst, obwohl sie doch erst seit zwei Stunden getrennt sind. Stulle denkt über eine passende Antwort nach. Es muss irgendwas Romantisches sein. Endlich tippt er: »Gleichfalls.«
* * *
Claus und Sigrid spazieren auf einem Weg entlang der alten Stadtmauer. Der Blick ins Land ist herrlich. Claus plappert irgendwas von einem Wasserfall, irgendeine historische Geschichte, in der die Frauen von Amöneburg die Stadt vor Angreifern gerettet haben sollen: Die Angreifer waren am Neujahrstag erschienen, als die Amöneburger Männer noch besoffen waren, aber die Frauen hatten es bemerkt, weil sie trotz der frühen Stunde schon damit beschäftigt waren, Wäsche zu waschen. Jedenfalls haben sie den Angreifern die heiße Waschbrühe über die Köpfe geschüttet und sie auf diese Weise zurückgehalten, bis die Männer einsatzbereit waren.
»Und so konnte der Angriff abgewehrt werden«, doziert Claus.
Sigrid wüsste jemanden, dem sie auch mal Waschbrühe über den Kopf schütten würde.
* * *
Kevin spürt, dass er falsch ist. Hatte der Dönermann ihn vielleicht doch nach rechts geschickt? Mist! Er blickt auf die Uhr. In zehn Minuten muss er am Treffpunkt sein. Er tritt auf ein Ehepaar zu, der Typ textet seine Alte zu.
»Wo geht’s denn hier zu dieser Burg?«, fragt Kevin.
»Sie meinen vermutlich die Burgruine? Eine intakte Burg gibt es hier nämlich nicht«, sagt der Mann.
Korinthenkacker, denkt Kevin und nickt.
Der Mann weist ihm den Weg.
Kevin dreht sich auf dem Absatz um und läuft los.
»Nichts zu danken!«, ruft ihm der Mann sarkastisch nach.
* * *
»Hier ist ein Café«, sagt Sigrid ein paar Minuten später. »Das sieht doch hübsch aus.« Das Haus klebt quasi am Berghang, es hat eine Terrasse, die von der Sonne beschienen wird.
Claus schüttelt den Kopf. »Nein, ich habe ein anderes ausgesucht.« Er ärgert sich immer noch über den Typen ohne Manieren, dem er eben den Weg gezeigt hatte.
Sigrid stöhnt.
* * *
Endlich erreicht Kevin diese verdammte Burg. Er blickt sich um, sieht eine Bank und stellt den Koffer daneben ab. Was sollte er jetzt machen? Er verspürt schon wieder ein gewisses Hungergefühl. Die Wirkung der Joints hat ihren Höhepunkt erreicht. Er muss was essen. Sofort. Wenn er nur wüsste, wo dieser Dönerladen war. Er macht sich auf den Weg.
* * *
Sigrid und Claus erreichen die St. Johann-Kirche und dann die überreste der Amöneburg. Der Wind pfeift ordentlich über die Kuppe. Claus hat seinen Aktenkoffer neben eine Bank gestellt und doziert, den aufgeschlagenen Aktenordner in der Hand: »Der Name Amöneburg leitet sich von Amana ab, das ist der keltische Namen für die Ohm.«
Sigrid hat sich auf der Bank niedergelassen und genießt den Blick in die Landschaft.
»Ohm?«
»Der Fluss.«
Sigrid schließt die Augen.
Claus vermittelt sein Wikipedia-Wissen: Merowinger, Bonifatius, Erzbistum Mainz, Zerstörung, Wiederaufbau, Dreißigjähriger Krieg, Besetzung, Rückeroberung, erneute Zerstörung, endgültiger Abriss im Jahr 1839.
»Interessant, oder?«
Sigrid öffnet die Augen. »Wo ist denn jetzt dieses Café.«
* * *
Stulle ist in eine Whatsapp-Plauderei mit Estefania vertieft. Er kennt sie seit zwei Wochen, und sie verspricht ihm gerade, dass sie ihn heute Abend richtig verwöhnen wird. Stulle grinst. Es dauert einen Moment, bis er das alte Paar sieht, das da ein paar Dutzend Meter weiter auf eine andere Bank zugeht. Der Mann plappert irgendwas. Die Frau lässt sich auf der Bank nieder und schließt die Augen.
Stulles Handy vibriert. Estefania schreibt, dass sie … Stulle muss schlucken. Estefania, also wirklich …
In Stulles Hose vibriert es ebenfalls. Stulle schaut unkonzentriert zu den alten Leutchen und wird aufmerksam. Der Opa stellt einen schwarzen Koffer neben die Bank, dann geht die Frau auf einmal los, und der Alte hastet ihr hinterher. Stulle starrt auf den Koffer. Er ist verwirrt. Estefania. Der Koffer. Er steht auf.
* * *
»Wo ist denn jetzt dieses Café«, fragt Sigrid erneut.
Claus macht ein beleidigtes Gesicht. »Gleich dahinten, hinter der Schule.«
Sigrid steht auf und marschiert los.
»He!«, ruft Claus und läuft ihr nach. »Man muss doch auch wissen, was man sieht. Man muss sich doch für die Umwelt interessieren.«
Sigrid läuft weiter. Hohes Tempo. »Ich interessiere mich ganz wahnsinnig für meine Umwelt. Aber nur, wenn in dieser Umwelt gleich ein Kaffee steht.«
»Also bitte … Was soll denn das?« Claus hastet hinter ihr her.
Sie passieren das Schulgebäude, aus dem gerade das Pausenzeichen ertönt, und laufen an einem Friedhof vorbei.
* * *
Stulle nimmt den Koffer und betrachtet ihn. Ziemlich leicht, denkt er. Er versucht, ihn zu öffnen, aber es gelingt ihm nicht, weil ein Zahlenschloss dran ist. Sein Handy vibriert. Er schaut aufs Display. Er grinst. Diese Estefania, Junge, Junge! Gedankenverloren setzt er sich in Bewegung, während er mit einer Hand eine Antwort an seine Freundin tippt.
* * *
Kevin ist stolz auf sich. Er hat den Dönerladen tatsächlich gefunden. Er will gerade eintreten, da fällt ihm ein, was Miguel gesagt hatte: Stell den verdammten Koffer hin – und nimm den anderen verdammten Koffer! Kevin betrachtet seine Hände. Sie sind leer. Beide. Kevin wird heiß. Er dreht sich um und fängt an zu rennen. Nach ein paar Metern bleibt er stehen. Wo war diese verdammte Burg?
* * *
»Und wo ist dieses Café nun?«, fragt Sigrid gereizt.
Claus bleibt stehen und blättert in dem Aktenordner. »Das muss …«, er zögert, schaut auf, blickt wieder auf die Karte, glotzt auf das Haus, vor dem sie stehen. »Das muss hier sein. Eigentlich.«
»Das ist ein ganz normales Wohnhaus.«
»Nein, das kann nicht sein. Hier …« Er hält ihr den Ordner mit dem aufgeschlagenen Plan entgegen. Plötzlich blickt er sich hastig um. »Mein Aktenkoffer!«, ruft er.
Sigrid stöhnt. Claus dreht sich um und hastet in Richtung Burgruine.
* * *
Kevin ist noch stolzer auf sich. Er hat die Ruine wiedergefunden. Wo ist denn jetzt diese Bank? Er blickt sich hektisch um. Da! Und da steht auch der Koffer! Er atmet erleichtert auf. Er greift den Koffer und stapft davon.
* * *
»Ich habe ihn an der Bank stehen gelassen«, ruft Claus über die Schulter. »Das ist nur deine Schuld! Du mit deinem blöden Kaffee!« Er hastet am Friedhof vorbei und am Schulgebäude, aus dem gerade einige Kinder herauskommen.
Sigrid trottet hinter ihm her. Sie holt ihn erst an der Ruine ein, er steht vor der Bank.
»Der Koffer ist weg«, ruft er, und in seiner Stimme liegt echte Verzweiflung.
Sie zeigt nach rechts. »Da steht er doch.«
Claus stutzt. »Aber … Ich dachte … Ich hatte ihn doch hier abgestellt.«
Er geht zu der anderen Bank, beugt sich hinab und hebt den Koffer in die Höhe. »Das ist nicht meiner«, murmelt er, und dann öffnet sich der Koffer. Dinge fallen heraus, viele Dinge. Kleine Säckchen. Gefüllt mit irgendeinem Pulver.
* * *
Stulle tippt grinsend auf seinem Display. Ein Speichelfaden läuft an seinem Mundwinkel herab. Er wischt ihn mit einer schnellen Bewegung ab.
* * *
Sigrid und Claus starren auf die Säckchen, die auf dem Boden liegen.
Sie hören Geschrei. Lachen. Rufen.
Claus blickt sich hastig um. Er bückt sich, nimmt eines der Päckchen, hebt es hoch.
Das Päckchen reißt, weißer Staub ergießt sich, der Wind bläst einen Gutteil des Staubs gegen Claus’ schwarzen Anzug. Claus entfährt ein Schreckensschrei.
Ein paar Jugendliche kommen näher. Jeder, wirklich jeder einzelne Jugendliche hält ein Smartphone in der Hand. Die Jugendlichen knuffen sich in die Seiten, sie richten ihre Handys auf Claus.
»Cool, Alter«, sagt ein Junge. »Verkaufste uns was?«
Ein paar seiner Kumpels lachen.
»Das … Das ist nicht von mir«, stammelt Claus.
* * *
Kevin sitzt in seinem Seat und starrt in den Koffer. Es sind Geldscheine drin. Gebündelte Geldscheine. Er versucht sich an das zu erinnern, was Miguel gesagt hatte. Sollte er nicht Koks abholen? Es dauert einige Minuten, bis er sich einen Reim drauf machen kann. Er muss da was falsch verstanden haben, sagt er sich. Wahrscheinlich ging es nicht um Drogen, sondern um Falschgeld. Er verzieht das Gesicht. Ihm soll’s egal sein. Er zündet sich einen weiteren Joint an. Dann startet er den Motor.
* * *
»Das ist nicht von mir.« Claus wiederholt diesen Satz wie ein Mantra. »Das ist nicht von mir.«
»Sie wollen uns doch nicht ernsthaft einreden, Sie hätten den Koffer hier gefunden«, sagt der Polizist.
»Hier, in Amöneburg«, ergänzt sein Kollege und verdreht die Augen.
»Doch!«, ruft Claus. Er dreht sich zu Sigrid um, aber seine Frau ist verschwunden.
* * *
Stulle sitzt in seinem Renault, der Koffer liegt auf dem Beifahrersitz. Er startet den Motor und macht das Radio an. Eine gute Stunde würde er bis nach Frankfurt brauchen. Er freut sich auf Estefania. Bis dahin würde er sich mit dem Hörbuch ablenken, das er schon auf der Hinfahrt gehört hatte. Eine total verrückte Story über einen misslungenen Drogendeal. Bereits auf dem Weg nach Amöneburg hatte er ordentlich lachen müssen über diese ganzen Deppen.
* * *
Sigrid sitzt auf der Terrasse des Cafés am Berghang und schaut übers Land. Die Sonne wärmt ihr Gesicht, der Kaffee wärmt ihren Körper. Sie trinkt einen Schluck. Claus soll jetzt erst mal ein bisschen warten. Amöneburg, denkt sie. Was für ein hübsches Städtchen.
Blutmondnacht
JÜRGEN HÖVELMANN
Einige Kilometer südlich von Marburg, am Zusammenfluss von Lahn und Allna, ist unweit des Ortes Niederweimar die »Zeiteninsel« geplant. Auf einem künstlich aufgeschütteten Areal in den Flussauen wird in der Nähe von historischen Ausgrabungsstätten ein Gelände entstehen, auf dem fünf verschiedene Zeitstationen von der römischen Kaiserzeit (um Christi Geburt) bis zurück in die Mittelsteinzeit (ca. 9000 v. Chr.) dargestellt bzw. erlebbar gemacht werden.
Die Geschichte, um die es hier geht, spielt in einem kleinen Weiler der Eisenzeit (ca. 500 v. Chr.), wie er in der zweiten Station der Ausstellung auf der »Zeiteninsel« präsentiert werden soll.
Ja, man nennt mich Peredur, das ist mein Name. Ich spüre eure fragenden Blicke und auch die Anklage, die in ihnen liegt. Viele werden mich für verrückt halten, aber sagt selbst: Wie viel verrückter wäre es wohl gewesen, den Dingen ihren freien Lauf zu lassen?
Ich lebe mit meiner Sippe am Zusammenfluss von Lahn und Allna. Früher war ich bekannt als Jäger, aber heute, wo sich mein Leben dem Ende zuneigt, bin ich für alle nur noch ein alter Mann. Sehr lange weile ich nun bereits unter den Lebenden und wer weiß schon, wie wenig Zeit mir noch bleibt, bis mich irgendeine Krankheit oder ein anderer heimtückischer Dämon endgültig dahinrafft? Es kann nicht mehr allzu lange dauern, denn ich bin einer der betagtesten Männer meiner Sippe.
Es ist schon unzählige Monde her, dass ich bei der Jagd verkrüppelt wurde. Mein rechter Arm ist seitdem ein einziges schlecht verheiltes Wundmal. Drei Finger meiner rechten Hand fehlen, und auch Teile meines Gesichts haben die Wölfe entstellt – an jenem Tag, als sie mich in einen Hinterhalt lockten, aus dem es kein Entrinnen gab. Aber das ist eine andere Geschichte. Die Ereignisse, derentwegen ich mich heute zu rechtfertigen habe, sind erst seit einigen Monden vergangen.
Seit ich entstellt wurde, bin ich kein Jäger mehr. Die Gemeinschaft lässt mich Holz sammeln, denn dazu tauge ich noch, wie auch zum Hüten der Schafe und Rinder. Keine Arbeiten für einen Mann, der einmal zu den stolzesten Ernährern der Sippe gehörte. Aber auch wenn mein Haar langsam grauer wird, so ist mir wenigstens meine frühere Muskelkraft geblieben. Die meisten von uns arbeiten auf dem Felde, aber dafür kann ich nicht mehr eingesetzt werden. Seit meiner Verwundung fehlt mir einfach das Geschick, einen Acker zu bestellen.
Immerhin genießt mein Wort bei unseren Anführern einige Wertschätzung, das kann mir niemand mehr nehmen. Der weise Myrddin lässt mich häufig an seinen überlegungen teilhaben. Oft diskutieren wir bis spät in die Nacht. Wenn alle anderen schon in ihren Hütten verschwunden sind, sitzen wir noch am Lagerfeuer und teilen einander unsere Gedanken mit.
Auch bei Koloman, der die Geschicke unserer Sippe leitet, genieße ich hohes Ansehen. Bevor er seine Entscheidungen trifft, werde ich häufig nach meiner Meinung gefragt. Das sind die Momente, in denen mir bewusst wird, dass ich doch noch zu etwas tauge. Dann denke ich manchmal, dass mein Dasein doch noch mehr bereithält, als das eines einfachen Holzsammlers und Viehhirten. Ihr seht, ich habe einen gewissen Rang in unserer Gemeinschaft. Niemand käme also auf den Gedanken, ich könnte den Verstand verloren haben.
So haben mich auch am Vorabend der Ereignisse Myrddin und Koloman wieder ins Vertrauen gezogen. Was der weise Schamane uns zu sagen hatte, war aber auch von größter Bedeutung für unser aller Leben: Er sagte, eine Krise würde heraufziehen. Die Götter hätten sich gegen uns verschworen und würden uns schon bald auf eine schwierige Probe stellen. Die Mächte der Natur sollten sich gegen uns wenden und die Götter würden nur durch eine Opfergabe wieder zu besänftigen sein.
Das sagte er mit einem Blick auf mich. Ich wusste sofort, dass ich dies als Aufforderung zu verstehen hatte, mich der Sache anzunehmen.
»Denkst du an jemand bestimmtes?«, fragte ich ihn unsicher, obwohl ich für meinen Teil bereits eine Entscheidung getroffen hatte.
»Das überlasse ich ganz deinem Willen«, antwortete er. »Aber wir wissen alle drei, wer aus unserer Sippe sicher nicht zum Wohlgefallen der Götter handelt.«
»Ihr Verhalten ist eine Schande für unsere gesamte Gemeinschaft«, sagte Anführer Koloman und wendete sich dann ganz offen mir zu. »Also meinen Segen hast du!«
Am nächsten Abend stand ich auf dem zentralen Feuerplatz unserer kleinen Ansiedlung und hatte bereits begonnen, Holz aufzustapeln. Später, wenn die Nacht Einzug hielt, wollten wir das Feuer entfachen, um uns daran zu wärmen und um wilde Tiere fernzuhalten. Ich schaute hinüber zu den Stallungen. Unweit der Stelle, wo auch wir Menschen des Weilers uns regelmäßig erleichterten, sah ich sie!
›Oh, Belana! Zu lange schon hast du meine Blicke auf dich gezogen. Kaum einen Mann der Sippe hast du jemals ausgelassen, nur an mir konntest du stets vorbeigehen.‹
Und wie sie ihr Fleisch an den muskulösen Körper Adairs drückte. Hatte ich sie nicht erst vor einigen Tagen mit seinem Bruder Alanus gesehen? Junge, gut gebaute Jäger in ihrer vollen Manneskraft konnten ihr wohl gefallen.
›Ich weiß schon, was du bei ihnen suchst, was du bei mir nicht zu finden glaubst. Können sie es dir geben?‹
Adair sagte etwas, worauf sie ihn herzlich anlachte. Ihr Frohsinn tat mir in der Seele weh. Warum konnte sie mir niemals so begegnen? Sie mit ihren wollüstigen Lippen, der langen Mähne und der weit offenen Karobluse, die großzügige Einblicke auf ihren vollen Busen bot, hätte jeden Mann der Sippe haben können – und vermutlich hatte sie bereits fast jeden von ihnen.
Am Nachmittag hatte ich ihr gesagt, dass wir beide in der Nacht an den Fluss wandern müssten. Sie hatte nur genickt, ahnte nichts mit ihrem allzu kindlichen Gemüt.
Ich stapelte weiter das Holz auf, aber konnte nicht anders, als immer wieder zu den beiden jungen Leuten hinüberzublicken, die sich immer näherkamen. Es brannte mir in den Augen und noch mehr auf der Seele, ihnen zuschauen zu müssen, aber dennoch konnte ich meine Blicke nicht von ihnen lassen.
Es wurde langsam dunkler, längst war das Feuer entfacht, das Nachtmahl eingenommen. Kälte schien vom Fluss heraufzuziehen, sich aller zu bemächtigen. Hier war der Ort, wo die Gemeinschaft gerne am Abend zusammenkam, um miteinander zu trinken und sich zu beratschlagen. In jener Nacht jedoch war alles anders. Kaum jemand sagte etwas. Obwohl Myrddin niemandem außer Koloman und mir von seiner Vision erzählt hatte, lag eine stille Spannung über dem Platz.
Wenngleich ich nah am Feuer saß, zog ich den überwurf enger über meinen Kittel, denn mir liefen kalte Schauer über den Rücken. Die Flammen malten zuckende Lichter auf die Gesichter der Anwesenden. Alle waren sie in jener Nacht gekommen, selbst die Schwachen und Kranken, die sich sonst schnell in ihre Hütten zurückzogen. Sogar die Schwachsinnigen waren an diesem Abend mit dabei. Obwohl alle stets streng darauf achteten, sich nur mit den Mitgliedern der Sippe zu paaren, damit unsere Linie bewahrt blieb, kam es immer wieder zu Fällen von Geisteskrankheit oder auch seltsamer körperlicher Gebrechen in unserer Gemeinschaft. Sie waren sonst eher Außenseiter und gingen ihre eigenen Wege, aber an jenem Abend schienen auch sie wie magisch angezogen von etwas Seltsamem, das in der Luft lag.
»Hört ihr?« merkte die alte Moja, die große Mutter, auf. Angsterfüllt und rastlos blickten ihre Augen in der Runde umher.
»Ja«, flüsterte Sirona, die nach der keltischen Göttin der Heilung Benannte, mit belegter Stimme. »Die Tiere geben seit einer Weile keinen Ton mehr von sich. Das ist unheimlich!«
Alle rückten noch ein kleines Stück näher zusammen. Das Gefühl der Gemeinschaft hatte etwas Wohltuendes an sich.
»Beruhigt euch!«, rief Koloman zur Ordnung auf und versuchte, seiner Stimme den Anschein von Gelassenheit zu geben. »Immerhin haben wir eine Vollmondnacht. Wir haben also beste Sicht. Es wird schon nichts passieren.«
Sehr überzeugend war er dabei nicht. Zu sehr konnte er sich an die Weissagung des alten Myrddins erinnern, den er nun auch sorgenvoll anblickte.
»Es hat begonnen«, raunte dieser mir im Brustton der überzeugung zu und teilte den anderen nun ebenfalls seine Vision mit. »Die Götter haben sich gegen uns verschworen, ich habe es gewusst!« Mit ruhiger, gefasster Stimme erzählte er den Mitgliedern der Sippe, was er Koloman und mir bereits am Vortag gesagt hatte.
Mit großem Entsetzen hörten ihm alle zu. Sein Wort hatte großes Gewicht in der Gemeinschaft. Viele Male schon hatte er mit seinen Voraussagen recht behalten.
Die Minuten verstrichen und immer mehr machte sich ein ungutes Gefühl in der Runde breit. In allen Anwesenden schien die Gewissheit aufzusteigen, dass sich Myrddins Prophezeiung einmal mehr als richtig erweisen sollte. Den ganzen Tag über hatten dunkle Wolken den Himmel verhangen, aber seit einer ganzen Weile ließen größere Lücken Mond und Sterne hervorscheinen.
»Da seht!«, schrie einige Zeit später eine junge Frau namens Meriel auf und deutete zum Himmel, »dort liegt ein Schatten auf dem Mond!«
Wir konnten es kaum glauben, aber die junge Frau hatte recht. Langsam, immer weiter und weiter, schien sich ein kreisrunder Schatten von links über den Mond zu ziehen, der an diesem Abend auch noch ganz besonders groß wirkte.
Es half nichts, ich musste das Versprechen, das ich den beiden anderen gegeben hatte, einhalten. Bald schon würde ich mit Belana zum Fluss gehen. Es gab keine andere Lösung, jetzt wo sich Myrddins Weissagung zu bewahrheiten schien.
»Oh ihr Götter!«, schrie die alte Moja. »Welcher Frevel mag euch erzürnt haben, dass ihr das Antlitz der Natur auf diese Weise entstellt. Ich habe schon so vieles erlebt, aber das ist mehr als mein Geist erfassen kann.«
Alle waren aufgestanden und schauten ungläubig zum Himmel. Selbst jene, die sonst immer zu allem viele Worte fanden, konnten, so schien es, nicht begreifen, wie ihnen geschah.
Immer weiter rückte der Schatten über dem Mond vor. Ein großer Teil seiner linken Seite war schon bedeckt und es wurde immer dunkler. Selbst das Feuer schien erlöschen zu wollen, als würde es sich den seltsamen Ereignissen ergeben. Myrddin fasste zwei Mitglieder der Sippe bei den Händen und ließ sie alle gemeinsam einen großen Kreis bilden. Bald wurden hektisch Gebete angestimmt. In dem Stimmenwirrwarr konnte ich nur einzelne, kaum verständliche Wortfetzen ausmachen.
Ich fasste Belana bei der Hand, zog sie aber aus dem Kreis der Betenden heraus.
»Komm, mein Kind, wir müssen gehen!«
»Ausgerechnet jetzt?«, fragte sie entsetzt. Natürlich bereitete ihr der Gedanke Angst, den Schutz der Gemeinschaft zu verlassen und mit mir hinaus ins Ungewisse zu gehen.
»Ja, es muss sein«, betonte ich. »Es ist etwas, das wir für uns alle hier tun müssen!«
Ein wenig musste ich sie hinter mir herziehen. Fast unbemerkt von den anderen konnten wir uns von der Feuerstelle entfernen, denn wie gebannt starrten alle zum Himmel. Nur Koloman und eine der älteren Frauen nahmen kurz Notiz von uns und schauten uns einige Augenblicke hinterher.
»Wo gehen wir denn hin?«, fragte die junge Sünderin.
»Schweig, mein Kind. Du wirst es schon sehen.«
Noch bevor die Kleine schreien und weitere Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, schaffte ich sie von jenem Ort weg und einen kleinen Abhang hinab. Dahinter wurde die Landschaft wieder flacher und wir mussten unsere Schritte mit etwas weniger Bedacht setzen.
Und wieder ging mein Blick zum Himmel. Welch seltsames Schauspiel ereignete sich da? Nackte Panik stieg in mir auf. Hatte der Schamane wirklich recht, und die Götter sich gegen uns verschworen? Mittlerweile glaubte ich seiner Prophezeiung ohne jeden Vorbehalt. Hoffentlich würde meine Tat die gewünschte Wirkung erzielen. Immer widerwilliger ließ sich allerdings Belana mitführen.
Nach einigen Minuten erreichten wir das schilfige Randgebiet des Ufers.
»Ich will lieber zurück!«, rief sie und beschleunigte damit nur noch meine Schritte. Immer fester und unerbittlicher wurde der Griff meiner gesunden linken Hand.
›Hättest du mir nur jemals mehr Aufmerksamkeit geschenkt!‹, dachte ich bei mir. ›Vielleicht hätte ich jetzt eine andere dazu auserkoren. Es ist deine eigene Schuld, dass es so weit kommen muss.‹
Ich war häufig am Fluss, dort kannte ich mich aus. Wie oft schon war ich in einem unbeobachteten Moment hierher gekommen und hatte den Stimmen aus dem Reich der Toten gelauscht, die man hier unten am Fluss vernehmen konnte? Diese Stimmen, die ein Lied sangen von bitterer Vergänglichkeit. Sie wollten mich sanft zu sich auf den Grund des Flusses rufen. An jenem Abend hörte ich sie lauter als jemals zuvor.
›Da, ich höre sie ganz genau. Einige Augenblicke noch, dann sind wir ganz nah bei ihnen.‹
Ich verharrte an einer Stelle, um sie besser zu verstehen. Sie sprachen so klar und deutlich zu mir, wie ich gerade zu euch rede.
»Gleich sind wir da. Hörst du ihre Rufe?«, fragte ich Belana.
Die Hure schaute mich mit einem verständnislosen Blick an. Danach eilten ihre Augen panisch zwischen mir und dem Mond hin und her, dessen Fläche nun fast vollständig wie von einer zweiten flachen Scheibe bedeckt schien.
»Endet hier nun alles?«, fragte sie mit bebender Stimme, dabei schien sie allerdings weniger mit mir als mit dem Mond zu reden.
Wer war nun verrückt? Ich war es ganz gewiss nicht! Ich war vielmehr der Einzige, der die Gemeinschaft retten konnte. In meinen Händen lag unser aller Wohl und Wehe.
Ich führte sie weiter an den Rand des Flusses. Noch eine kurze Böschung und wir waren angelangt. Schon standen wir bis an die Knöchel im Wasser. Der Saum ihres langen Rockes wurde nass.
»Was geschieht denn nun?«, fragte sie wieder und ihre Augen weiteten sich, als sie sah, dass sich der Mond rot gefärbt hatte. Sie wollte noch etwas sagen, aber der Anblick hatte ihr die Stimme verschlagen. Auch ich konnte es kaum glauben und starrte wie gebannt hinauf.