Kitabı oku: «Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart», sayfa 6
Asylanten 89 – „Wir bitten nicht, wir fordern“
Die Rückschau auf die Monate nach dem Fall der Mauer erinnert Schleef an seine eigene Flucht: „Der Osten hatte Berlin überflutet. […] in diesen Menschen sah ich mich selbst, sah mein eigenes In-den-Westen-Kommen.“1 Diese für die Tagebücher entworfenen Beobachtungen markieren den Ausgangspunkt auch für seine Arbeit an einer Asylanten-Tragödie, die heute noch etwas transportiert, was den ambitionierten Versuchen, Stadttheater zu Begegnungszonen mit Geflüchteten zu machen, fehlt. Zunächst ist es die Schärfe der Diagnose eines innerdeutschen Konflikts, der dem aktuellen Asyl-Streit lange vorausging, ihn determiniert hat:
Die pure Gegenwart dieser Menschen schrie: Es gibt nicht nur euch. Vergeßt das nicht! Mit welchem Haß die Einheimischen die Fremden ihre ergatterte Ware über die Straßen schieben sahen, das konnte ich beobachten, aber genauso, daß diese Fremden, daß ihre Gesichter der Spiegel der Einheimischen waren.2
Die zwischen Panik und Euphorie schwankende Stimmungslage der beiden plötzlich kollidierenden deutschen Staaten im Sommer 1989 hat sich mit Bildern verknüpft, die eine Art fröhlichen Belagerungszustand zeigen, den Anschein neuer Gemeinschaft. Nach den im Fernsehen weltweit gesendeten Aufnahmen von DDR-Flüchtlingen, die über Felder und Zäune die „offene“ Grenze zwischen Ungarn und Österreich bei Sopron überquerten, waren es die Menschenmassen, die bei den Montagsdemonstrationen den Leipziger Ring buchstäblich fluteten und schließlich auf der Berliner Mauer aufgereiht auch das Brandenburger Tor als Kulisse eines gigantischen Volksfestes erscheinen ließen. Schleefs Blick auf diese Ereignisse vermittelt eine andere, aus heutiger Sicht schärfere Perspektive. Die gewaltlose Gewalt, mit der sich das (in anderer Perspektive von Jacques Rancière thematisierte) „Unvernehmen“3 der unterdrückten Massen plötzlich als Selbstbehauptung „Wir sind das Volk“ entladen konnte, wird bei Schleef bereits als ein Konflikt um Asyl kenntlich.
Unter dem Datum „August 89“ ordnete Schleef – in einer früheren Version des vierten Bandes der Tagebücher (1981-1998) – den Erfahrungen des anhaltenden Kaufrausches am Bahnhof Zoo seinen Text „ASYLANTEN CHORSZENE“ zu, der die Klagen der Schutzflehenden von Aischylos verdichtet und zuspitzt:
Wir bitten nicht, wir fordern von euch Wohnung, Brot, Kleidung und Fleisch. Der Gast ist König am Tische des Fremden, König in seinem Bett. Eingedenk, dass euch das träfe, was uns trifft, folgt dem alten Gebrauch. […] Tut ihr es nicht, wir weichen nicht, wir freie, fordern und erwarten nur eins, wenn ihr es nicht gebt, sind wir bereit zu sterben. Eingedenk, ihr würdet Gleiches fordern, von uns oder anderen Völkern, mit denen euch gleiche Bande verknüpfen wie uns mit euch, beten wir für euren Mut, uns zu folgen, wenn keine friedliche Forderung Einlösung erfährt. […] Siegen die anderen, geht es eurem Volk wie uns.4
Zwar sprechen die Fremden die Sprache der Deutschen, jedoch anders als erwartet, indem sie ihr Gastrecht noch strikter einfordern als bei Aischylos. Die archaische Sprache der Griechen, die schon von ihren jeweiligen Nachbarstädten (Athen, Argos, Theben etc.) immer wieder als barbarische, anderssprechende Ausländer bezeichnet wurden, bildete die Grundlage bereits für die Sprach(er)findung des Mütter-Textes als einem Amalgam aus Wörtlichkeit und freier Aktualisierung.5 Daraus wurde für Schleef später, wie der Text Asylanten 89 zeigt, eine „dritte Sprache“, die zwischen den Sprachen Ost und West vermittelte, aber ohne bloß Synthese oder Kompromiss zu sein, vielmehr mit einer Wucht, welche die Tragödie als Sprache des Asyls im Sinne einer unbedingten Verpflichtung erweist. Was an Aischylos’ Hiketiden auffällt und oft betont wurde,6 ist gerade die Aggression, mit der die Frauen fordern und erpressen. Diese Wut wird für Schleef zum Medium für den elementaren Streit zwischen denen, die schon etwas länger da waren, und denen, die gerade erst ankommen. Durch diesen Gegensatz wird sogar die soziale Differenzierung innerhalb der Geflüchteten, die sich bei Aischylos noch in 50 Frauen und 50 Mägde teilen, aufgehoben. Der Unterschied zu den Einheimischen soll jedoch gewahrt bleiben:
100 sind wir, einhundert Frauen, Schwester einander, Herrin und Magd. Ohne Unterschied mehr, es gibt keinen. […] Und laßt uns unter uns, verlangt nicht, wir sprechen eure Sprache […] Wir sind Völker verschiedener Länder, das alte Band, was unser Volk und das eure verbindet, ist alt und nicht jeder weiß es. Alt, heißt in den Büchern suchen, die lange gelebt haben, können es wissen, wie unser Vater es weiß. Wir wollen nicht bücken, dienen und plagen, wir wollen wohnen und essen und unser eigenes Volk sein.7
Das überlieferte Wissen der verwandten Abstammung wird, obwohl es doch ein besonderes Argument der Danaiden bei ihrer Asylforderung ist, relativiert durch die aktuelle Weigerung, sich durch Anpassung unterzuordnen. Damit geht Schleef über die in der Hiketiden-Tragödie ausgetauschten Argumente und Verhaltensnormen für Fremde, insbesondere Frauen, deutlich hinaus. Das gilt dann aber auch für die von dem Asylantenchor provozierte „ANTWORT“ durch den Gegenchor.
Schuld an eurem Schicksal trifft euch. Wie euch helfen. Hier könnt ihr schlafen für eine Nacht und dann weiter, dahin wohin ihr gehört. Uns in einen Sturz verwickeln, ist das gerecht. […] Lasst uns in Ruh. […] Jetzt euch unter uns vermischen, wie stellt ihr euch das vor. Niemals. Wegdreht sich jeder von einer vertierten Frau. Alles habt ihr verloren, seht ihr noch wie Menschen aus. […] Als ob ihr, vertauschten wir die Rollen, anders mit uns verfahrt. Not, sagt ihr, bringt euch dazu. Unmäßige Forderungen mit Not begründen, hat auch der Gast eine Pflicht. Begnügsam sei er und erleide, was man ihm zu essen gibt, fordern ist fehl am Platz. Not. Könnt ihr euer Versagen mit Not untermauern. Gibt die euch das Recht.8
Auf die Forderungen der Asylanten antworten die anderen mit einem nicht weniger aggressiven Schwall von Vorwürfen, Beleidigungen und Zurechtweisungen. Darüber hinaus betont die Konfrontation von Chor und Gegenchor, auch darin anknüpfend an das Mütter-Projekt, einen immer wieder aufbrechenden Konflikt zwischen Männern und Frauen, einen unablässigen Krieg der Geschlechter. So bezieht dieser Text Asylanten 89 aus dem verdoppelten Gegensatz (Fremde gegen Einheimische – Frauen gegen Männer) seine explosive Kraft, mit der sich gleich mehrere Sprachen überkreuzen, deren szenische Konfrontation ein Projekt noch größerer Tragweite erfordert hätte als sie bei Mütter erreicht war. Der zeitgeschichtliche Horizont und Kontext dieses über Jahre in Schleefs Theaterarbeiten und Inszenierungsplänen virulenten Projekts sei hier noch kurz erwähnt, da er vieles von den elementaren Ängsten und Aggressionen umfasst, die gegenwärtig wieder aufgebrochen sind, sodass das politische Bemühen um eine „Willkommenskultur“ erneut nur als eine dünne, fragile Schutzschicht neoliberaler Demokratien erscheint.9
Zur Realität der damaligen Nachwendezeit gehörten bald, im Sommer 1991, die schockierenden Bilder von massenhaft aus den ärmsten Staaten des zerfallenden Ostblocks fliehenden Menschen. So benutzten die mit Fotos von Terroropfern oder sterbenden Aidskranken erfolgreichen „United Colors“-Kampagnen der Modefirma Benetton auch Bilder des Frachters Vlora, der Anfang August 1991 rund 10.000 Flüchtlinge vom albanischen Hafen Durres nach Bari in Italien schleppte. Dass Schleef diese Entwicklung verfolgt hat, legen Zeitungsausschnitte nahe, die sich in den Mappen der damals entstandenen Entwürfe finden: eine Meldung über den „Antragsstau“ und eine ungeklärte Brandstiftung in einer Berliner Flüchtlingsunterkunft, oder der Bericht vom Untergang zweier Flüchtlingsschiffe. Daneben sind Notizen von Müller-Schwefe erhalten, der ein neues Stück Die Asylantinnen, nach Aischylos’ Schutzflehenden entwirft und mit Bezug auf die verlorenen Teile der Danaiden-Trilogie kommentiert: „Die Asylfrage wird auch damals nicht durch schöne Worte und gute Taten gelöst, sondern – symbolisch und handgreiflich – durch Druck und Drohung.“10
Im Sommer 1992 wurde in Zusammenhang mit dem Beginn des neuen Leitungs-Teams am Berliner Ensemble von Schleef das Projekt eines Vierteilers angekündigt unter dem Titel: „Arbeiter, Soldaten, Bauern, Asylanten“.11 Vorgesehen war eine Montage aus Die Weber von Gerhart Hauptmann, Stadt der Gerechten von Lew Lunz, Die Bauern von Heiner Müller und Die Schutzflehenden von Aischylos. Dass Schleef das Danaiden-Stück seit Mitte der 1980er Jahre kannte, ist anzunehmen, denn schon für das Mütter-Projekt plante er einen Chor von 50 bis 100 Jungfrauen, den es in keiner anderen der erhaltenen Tragödien gibt. Andererseits war sein Blick auf griechische Tragödien Anfang der 90er Jahre, mit dem Aufbrechen aller Konflikte der deutschen Geschichte im Moment der erhofften Wiedervereinigung, noch stärker von einer katastrophalen Gegenwart entzündet, zu der auch die brennenden Häuser und Wohnheime von Hoyerswerda (1991), Mölln und Rostock-Lichtenhagen (1992) sowie Solingen (1993) zählten. Damals wurde bereits deutlich, dass die nach der Wende ansteigenden Frustrationen und Ängste von Benachteiligten in West- wie in Ostdeutschland in rassistischen Anschlägen gegen Fremde und Asylanten eskalierten.
Das große Chorprojekt Arbeiter, Soldaten, Bauern, Asylanten konnte Schleef nicht verwirklichen. Zugunsten der Arbeit an Rolf Hochhuths Wessis in Weimar und des Kampfes um die erneute Faust-Inszenierung an dem vor der Schließung stehenden Schillertheater wurde es 1992/93 abgebrochen. Aus dieser Zeit sind aber immerhin Vorstudien und Pläne erhalten, ausgehend von einer Übersetzung von Aischylos’ Hiketiden.12 Offenbar interessierte Schleef sich bei der Montage der vier genannten Texte von Anfang an für die verschiedenen Sprachen der jeweiligen Gruppen. Er begann mit Strichfassungen, die Hauptmanns Weber in Dialektversion auf die Kneipenszene im 3. Akt und den Schluss beschränkten. Den Lunz-Text (über die Soldaten der Oktoberrevolution, die in der Wüste eine Stadt der Gerechtigkeit finden und zerstören) sah er als Beispiel für „kurze Umgangssprache“. Müllers Bauern wollte er selbst in thüringischen Dialekt bringen („alles SED-feierliche weg“) und die Asylanten nach Aischylos seien Hochdeutsch, in Annäherung wiederum an die Klagelaute der griechischen Tragödie. „Könnte eine richtige Spracharbeit werden“,13 in der jeweiligen Konfrontation der Sprachen, Klassen und Geschlechter. „Am brutalsten gelöst“ sei der Zusammenstoß Mann/Frau bei Aischylos, wie ein Schema zum vierten, auf die Danaiden bezogenen Teil zeigt:
Kaum ist der Boden geräumt und der Rohbau fertig, stehen andere davor und wollen rein. Die vor der Tür sagen, wir sind mit euch verwandt, aber wir wollen nicht wie ihr werden. Die hinter der Tür sagen, daß ihr mit uns verwandt seid, daran können wir uns, wenn es unbedingt nötig ist, erinnern, trotzdem, ihr müßt erst werden wie wir, dann könnt ihr auch hier rein und mit uns leben. Da die vor der Tür Frauen und hinter der Tür Männer sind, krachts, es bleibt nur Asche und in der Sage ein großer Held.14
Als eigenen Text sah Schleef in diesem Vierteiler vor allem den Asylanten-Chor, der vermutlich schon 1989 entstanden war. Zumindest diesen Chortext konnte er später doch noch zur Aufführung bringen, am Schluss seiner Inszenierung Wilder Sommer nach Goldonis Trilogie der Sommerfrische am Wiener Burgtheater (1999). Die letzte Szene (II/24) war zunächst so konzipiert, dass nach dem Streit zwischen Vater (Bernardino) und Sohn (Bruno), während die wohlhabenden Urlauber noch auf das versprochene Schiff warten, schließlich ein Sturm aufzieht und das Schiff plötzlich „in die Szene“ kracht: „Die Schiffsinsassen kriechen hervor / sammeln sich wie die ersten Menschen“.15 In der Aufführung wurde das Bühnenbild der letzten Szene unvermittelt von Mitgliedern des Chores gestürmt, die panisch nach vorne rennen. Sobald sie zu sprechen beginnen, wird es dunkel und für etwa drei Minuten ist nur der Asylanten-Text zu hören. Nachdem das Saallicht angeht und der Chor vor dem mit einem Himmel bemalten Vorhang ganz nah am Publikum steht, wird ein Epilog gesprochen, der den raschen Untergang des Schiffes und damit des „großen Glückes“ beklagt. Der Schluss des Entwurfs mit einer abschließenden „Menschen-Jagd“ lässt vermuten, dass Schleef auch hier mit den Asylanten als dem eigentlichen Personal eines Theaters der Tragödie noch viel mehr geplant hatte, womöglich eine Ausweitung der Perspektive, die auch die Zuschauer zugleich als Urlauber und Asylanten, Einheimische und Fremde, Täter und Opfer, Männer und Frauen, Spekulanten und Ausgebeutete, Voyeure und Betroffene adressiert hätte.
Auch in dieser Inszenierung erschien der Chor, wie Schleef es in Droge Faust Parsifal als Grundprinzip der Tragödie beschreibt, ausgestoßen, heimatlos, Asyl einfordernd. Mit seiner Formel für die Haltung der Danaiden hat Schleef also nicht nur den ethischen Konflikt einer notwendigen Überforderung der aufnehmenden Gesellschaft auf den Punkt gebracht, sondern zugleich die rituelle Wirksamkeit von Hikesie als Performance eines Chors im Theater. Ob diese Impulse weitergewirkt haben? Die bei Schleef stets auch politisch relevante Funktion von Chören, den Konflikt mit solistischen Schauspielern und zugleich mit dem Publikum hervorzurufen, wurde in den letzten Jahren aufgegriffen, oft aber nur mit dem äußerlichen Effekt einer mehr oder weniger virtuosen Selbstbehauptung von Darstellergruppen. Dabei fehlte die Spannung, die in Schleefs Arbeiten gerade aus der Konfrontation mit der biographischen Erfahrung von Flucht und Fremdheit resultierte. Vermittelt über Christine Groß, die bei vielen Schleef-Produktionen selbst beteiligt war, fand der tragische Chor allerdings noch ein ganz anderes Asyl – in den Splatter-Comedies von René Pollesch.16 Anfang 2019, da wäre Schleef 75 geworden, gab es am Berliner HAU das von Groß geleitete Chorprojekt Tarzan rettet Berlin, in dem ein Chor aus nicht binär-geschlechtlichen AkteurInnen schließlich auch den Geschlechterkrieg vorübergehend außer Kraft setzte, mit Texten aus Schleefs Tagebüchern.
Gott/Schutz-Befohlen
Elfriede Jelineks Umkehrung tragischer Narrative des Aischylos und Nietzsches
Bernhard Greiner (Universität Tübingen)
„Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da.“1 Mit dieser Aussage schließt der Text Die Schutzbefohlenen, den Elfriede Jelinek unter der Rubrik „Theatertexte“ 2013 ins Netz gestellt hat.2 Es folgt dort noch ein Bild eines mit Flüchtlingen überfüllten kleinen Bootes auf hoher See, das offenbar an einem Seil gezogen wird, ohne dass man sehen würde, wohin das Seil führt (wohl zu einem Rettungsschiff). Anschließend werden Referenztexte genannt, als erster Aischylosʼ Tragödienfragment Die Schutzflehenden. Gekommen zu sein, ohne da zu sein, verweist auf die Figur von Gespenstern oder Wiedergängern, wie sich die Sprechenden des vorliegenden Textes dann auch mehrfach als „lebende Tote“ bezeichnen.3 Versteht man „Da-Sein“ nicht räumlich, sondern ontologisch, so sprechen sich die Sprachträger des Textes „Dasein“ in philosophischem Sinne ab, damit auch Befähigung zur „Daseinsanalytik“, die sich zum „existenzialen Entwurf eines eigentlichen Seins zum Tode“ erheben könnte, wie ihn der als Referenzautor gleichfalls genannte Heidegger in Sein und Zeit entworfen hat.4 Gegen diesen als „Denker“ Verhöhnten (vgl. 4) beharren die „Schutzbefohlenen“ auf einfachen Oppositionen:
Wir sind da, aber auch wieder nicht da, wir haben nichts, doch tot sind auch wir nicht, noch nicht. Diese Aufgabenteilung ist wichtig, Tod oder Leben, jeder muß das Seine leisten, das sehen wir ein, das heißt, die einen sind tot, die andren nicht, wir noch nicht, aber viele von uns, Sie schaffen vielleicht noch mehr, wenn Sie sich richtig anstrengen, denn die Aufgabenverteilung im Staat verlangt, dass Sie nicht tot sind, wir aber nach Möglichkeit schon […]. (15)
Der Bruch und Mangel der Sprechenden in Jelineks Stück zeigt sich prägnant im Vergleich mit Aischylosʼ Tragödie. Deren Titel ist nach der Hauptfigur des Stücks, dem Chor der „Schutzflehenden“, gebildet, der Hiketiden/Ἱκετίδες. Das Wort ist vom Stamm ἵκω- und dem Infinitiv ἵκνέομαι abgeleitet, was „kommen“, „ankommen“ „wohin gelangen“ bedeutet. Der Schutzflehende ist als ἱκέτης/hikétes einer, der an einen bestimmten, in der Regel sakralen Ort gelangt ist, der ihm Unverletzlichkeit garantiert und ihm Raum gibt, die Bitte um Hilfe, zumeist um Aufnahme in eine neue Gemeinschaft, vorzutragen.
Im ungewissen Status zwischen Gekommen-Sein und Nicht-da-Sein haben die „Schutzbefohlenen“ keinen Ort, keinen „festen Grund“, von dem aus ihre Rede ergehen könnte, etwa in Berufung auf den Status rituell um Schutz Bittender. Entsprechend werden sie auch nicht als „Schutzflehende“ eingeführt, sondern als „Schutzbefohlene“, womit weiter angezeigt ist, dass ihrer Rede auch die kommunikativen Bezugspunkte fehlen. Die hier als kollektives Wir sprechen, sind dem Schutz anbefohlen, ungewiss ist dabei, von wem dieses Anbefehlen ausgegangen ist. Waren dies die Sprechenden selbst durch ihr Kommen oder eine Setzung der Autorinstanz des Textes? Oder ist ein Imperativ zu unterstellen, der in den ideellen Werten der Gemeinschaft gründet, von der Aufnahme erbeten wird? Den Sprechenden bleibt nur die Frage: „Wer wird dafür sorgen, daß wir Seienden auch erblickt werden, und das ohne Abscheu?“ (4) Über den ungewissen Ursprung des Anbefehlens hinaus bekundet sich der Mangel der Schutzbefohlenen auch darin, dass offen bleibt, wem sie dem Schutz anbefohlen werden. Den im Text Angesprochenen? Diese werden über die wiederholte allgemeine Wir – Sie-Opposition hinaus nicht näher bestimmt (Sie hier als Anrede, d. h. 2. Person Plural). Das können die Bürger des Landes sein, in dem Aufnahme erbeten wird, oder Leser des Textes, resp. Zuschauer einer szenischen Darbietung oder alle diejenigen, die Vorbehalte gegen Aufnahme von Flüchtlingen haben. Wenn das Anbefehlen auf eine Instanz rekurriert, die Schutz gebietet, wäre da, in Anlehnung an Aischylosʼ Tragödie, Gott einzusetzen? Oder im Sinne einer universalen Ethik das Sittengesetz? Oder eine internationale Flüchtlingskonvention? Setzt man „Gott“ für diese Instanz ein, bleibt zu bedenken, dass die Formel „Gott befohlen“, d.i. „Adieu“, eine Abschieds-, keine Begrüßungsformel ist, eine Formel mithin, mit der sich der Sprechende aus der konkreten Verantwortung für einen Schutzbefohlenen gerade verabschieden würde. Zugleich steht das „Gott befohlen“ in der christlichen Tradition als prominentes Christus-Wort selbst in tiefer Ambivalenz. Lukas zitiert als das letzte Wort Jesu am Kreuz „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ (Lk 23,46), während Matthäus und Markus als letztes Wort überliefern „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46, Mk 15,34).5 Der Gott, dem Jesus seinen Geist anbefiehlt, ist offenbar dem Gottessohn selbst entzogen. Es ist durchaus denkbar, dass die umfassend musikkundige Elfriede Jelinek Haydns Oratorium Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze6 kennt, das diese widersprüchlichen letzten Worte Christi zusammenführt. Analog betont das „Wir“-Kollektiv der „Schutzbefohlenen“ wiederholt, dass der Gott, durch den sie dem Schutz der angesprochenen Gemeinschaft anempfohlen sein könnten, für sie in eine unendliche Verweisung von „Stellvertretern von Stellvertretern von Stellvertretern“ (z.B. 6 passim) entrückt sei. Seine Position haben unpersönliche Maschinerien der Migrationsregulierung übernommen, denen die Schutzsuchenden nur Fall, nicht Person sein können, wie sie betonen: „alle unsere Vorstellungen werden auf ein Objekt bezogen, die Subjekte gelten nichts […]“. (4)
So lange „schutzbefohlen“ als „dem Schutz anempfohlen“ gelesen wird, stünde immerhin Inklusion zur Debatte: Aufnahme in die Gemeinschaft derer, die Adressat des Anbefehlens wären, wenn auch die Aktanten dieses Vorgangs ungewiss sind. Schutzbefohlener zu sein, kann aber auch Exklusion beinhalten: Wenn der Schar der Sprechenden befohlen wird, weil sie Schutz sucht. Als Objekte hierauf bezogener Befehle werden die Schutz Suchenden von der erstrebten Gemeinschaft gerade geschieden.
Indem die „Schutzbefohlenen“ am Ende ihrer Rede konstatieren, „gekommen“, aber „nicht da“ zu sein, betonen sie – klagend und anklagend –, dass ihr „Ankommen“, das sie in einen religiös-rituell oder sozial-politisch gesicherten Status von „Schutzflehenden“ erheben würde, gestockt hat und weiterhin stockt. Die gesamte Rede der Sprechenden zielt darauf, das Stocken des Ankommens zu überwinden und manifestiert es damit gerade, vollzieht es im vergeblichen Bemühen, es zu überwinden.
Die Rede der „Schutzbefohlenen“, so erkennen diese selbst, ist ortlos, damit grundlos im materiellen Sinn und ebenso im übertragenen der Kausalität, da sie zugleich bezuglos ist: Ohne Bestimmung ihres Urhebers wie ihres Adressaten, also ohne Herkunft und Zukunft. „[…] unser Reden“, so weiß das Sprecher-Kollektiv, „wird ins Leere fallen, in Schwerelosigkeit, unser schweres Schicksal wird plötzlich schwerelos sein, weil es ins Nichts fallen wird, in den luftleeren Raum, ins Garnichts, wo es dann schweben wird […]“ (6). Ohne materiellen Grund, ohne Urheber und ohne Adressaten ermangeln der Rede der „Schutzbefohlenen“ die fundamentalen Koordinaten, in deren Feld ein Subjekt der Rede sich begründen und bestimmen könnte. Die Rede der „Schutzbefohlenen“ ist derart nicht nur paradox – Vollzug und Manifestation von Stocken –, sondern auch und vor allem zirkulär, in einer zirkulären Selbstzeugung befangen. Die Rede ist ein unentwegter Versuch, einen Ort des Schutzflehens und begründende Adressaten der Rede zu erzeugen, in deren Koordinatenfeld diese Rede doch erst ergehen könnte, formelhaft gesprochen: Die Rede der „Schutzbefohlenen“ will den Boden erzeugen, der ihre Voraussetzung ist. Rhetorisch vollzieht sie derart die Figur des hysteron proteron (wörtlich übersetzt: „das Spätere eher“). Eine solche Figur liegt vor, wenn die Reihenfolge zweier Benennungen von Sachverhalten die vorgegebene Reihen- oder Rangfolge der benannten Sachverhalte umkehrt.7 Das wird hier als logischer Widerspruch vollzogen: Die Rede der Schutzbefohlenen setzt voraus, Ort und Adressaten der Rede, was sie erst hervorbringen muss.
Jelineks immer neues Weiterschreiben des Schutzbefohlenen-Textes zeigt sich so als doppelt konsequent. Denn die Rede der „Schutzbefohlenen“ ist nicht nur unabschließbar hinsichtlich ihrer außertextlichen Referenz, des weiterhin drängenden Flüchtlingsproblems, sondern zuvor schon innertextlich hinsichtlich ihrer Syllogistik als zirkuläre Selbstzeugung. In diesem Zirkel bleibt die Rede eingeschlossen, er ist nicht zu überwinden, es kann nur versucht werden, produktiv in ihn einzutreten, derart, dass ein Ort und Grund sowie Adressaten der Rede Kontur gewinnen, womit der Begründung eines Subjekts des Schutzflehens aufgeholfen und den „Schutzbefohlenen“ eine eigene Stimme zuteil würde.
In den Zirkel der Selbstzeugungsrede einzutreten, verlangt allererst, zu sprechen. Dem stehen jedoch grundlegende Negationen entgegen. Dem Kollektiv, dem das Sein als da- oder hier-Sein verneint wird, ist auch das Sprechen verwehrt. Die „Schutzbefohlenen“ wissen Sprechen und Sein für sie selbst nur in der Negation verbunden:
flüchtig, fremd, bedürftig, so jemand darf hier nicht sprechen, so jemand darf hier nicht sein. Denn kecke Rede ziemt den Unglückseligen nie. Wo werden wir denn! Wo werden wir denn keck sein, wo wir doch gar nichts mehr sind! (6)
Dass ein „keckes [zuvor eingeführt als ‘vorlautes‘] Mundwerk“ sich „für die Schwächeren“ nicht zieme, zitieren die Schutzbefohlenen aus Aischylosʼ Hiketiden. Dort ermahnt Danaos seine Töchter, sittsam zu sein gegenüber den Bewohnern von Argos, von denen sie Aufnahme erhoffen.8 Er spricht an einem rituell anerkannten Ort des Schutzflehens (einem Altar der Stadtgottheiten), in Berufung auf Zeus Hikesios, den Beschützer der Schutzflehenden, und zu einem durch Gemeinsamkeiten verbundenen Adressaten. All diese Bezüge fehlen Jelineks „Schutzbefohlenen“, so ist ihr Sprechen, auch wenn sie das Gegenteil versichern, keck und vorlaut (6) schon darin, dass sie überhaupt die Stimme erheben. Wenn sie dann sprechen, stellt sich diesem noch ein weiteres, nun innersprachliches Hindernis entgegen. Die „Schutzbefohlenen“ verfügen gar nicht über die Sprache der Angeredeten, in der sie um Schutz flehen: „Wir rufen flehend in dieser Sprache, die wir nicht kennen und können, die Sie aber beherrschen wie sich selbst […]“ (4). In eben dieser Sprache aber, die die Sprechenden in der vorgestellten Situation erklärtermaßen weder verstehen noch sprechen können, ist der gesamte Text verfasst; so ist dieser ihr Vor-Mund, ist ihre Rede vor-laut als Überantwortung an Vor-Gelautetes. Damit bekunden die Sprechenden sich schon aufgrund der Textvoraussetzungen und nicht erst in einer theatralischen Realisierung als Schauspieler ihrer selbst, die einen ihnen zutiefst fremden Text erlernt haben und vortragen. Solchen Text zu sprechen, lässt sie sich nur in ihrem Sich-Selbst-Entzogen-Sein manifestieren und befestigen: Eine klassische Konstellation der Entfremdung.
Wie kann in einer zirkulären Schutzflehens-Rede, die voraussetzt, was erst ihr Effekt sein kann und verwiesen ist auf eine den Sprechenden entzogene Sprache, ein Subjekt der Rede sich begründen und Stimme gewinnen? Jelineks Text stellt sich dieser Aufgabe in der Figur der Negation der Negation. Das Reden in der entfremdenden Sprache, die ihnen ihre Ferne zur gesuchten Gemeinschaft bewusst hält, vollziehen die Sprechenden selbst wieder in Hinwendung zu einem anderen, vorgesprochenen Text. Sie ergreifen mithin die entfremdende Rede ihrerseits in fremder Rede: Als In-den Spuren-Gehen anderer Texte, insbesondere in denen der Hiketiden des Aischylos9 – damit in tragischer Spur.
Der Text setzt mit einer Selbstanrufung ein: „Wir leben. Wir leben.“ (3) Die Sprechenden rufen sich selbst ins Leben und bekunden ein Wissen um das Dilemma solcher Selbstzeugung, da sie sogleich nach einer Vergewisserung ihres Seins suchen. Sie zitieren aus der eröffnenden Chor-Rede der Danaos-Töchter in den Hiketiden, setzen sich dabei sowohl mit den dort Sprechenden gleich wie von diesen ab. Aischylosʼ Drama beginnt mit einem Anruf an Zeus, nicht, wie zu erwarten, als ἱκέσιος/hikésios: „Schutzflehende betreffend“, mithin als „Schutzgott der Flehenden“ (so z.B. Vs. 346 u. 385), sondern als ἀφίκτωρ/aphiktor, d.i. „Beschützer der Schutzflehenden“ von ἀφικέωμαι/aphikéomai: hingelangen, hinkommen zu einer Person oder an einen Ort. Ein Anruf also an „Zeus, der Ankömmlinge schützt“. Er möge, so der Chor, προφρόνως/prophrónos: mit vorgeneigter Seele, gewogen, wohlwollend auf ihre Schar blicken. Wenn Jelineks „Schutzbefohlene“ zu Beginn betonen, „Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug“ (3), so ist es nicht allgemein ein göttlicher Schutz der Schutzflehenden, sondern mit dem Verweis auf den ersten Vers der Hiketiden das unter göttlichem Schutz stehende Ankommen, das als fehlend beklagt wird und dessen Nicht-Eingetreten-Sein die Sprechenden mit dem Schlußsatz ihrer Rede erneut bekräftigen werden. Einiges haben Jelineks Schutzflehende mit denen des Aischylos gemeinsam: beide sind über das Meer gekommen, haben eine „heilige Heimat“ verlassen (3/Vs. 4-5), sind nicht wegen einer Blutschuld auf der Flucht (610/Vs. 6), erscheinen in ihrem Aussehen fremd, von dunkler Hautfarbe (411/Vs. 71 u. 154f.),12 gleichwohl mit der Kultur des Schutzflehens im erhofften Ankunftsland vertraut. Im Vergleich zu Aischylosʼ Schutzflehenden fehlt denen Jelineks aber Wesentliches. Allererst, als Nicht-Angekommenen, ein Ort und Grund, von dem aus ihr Sprechen ergehen könnte und damit zusammengehend auch die Einbindung ihres Anliegens in ein von den Adressaten anerkanntes Ritual. Im antiken Griechenland, so auch bei Aischylos, hatten sich Schutzflehende an einem Altar, mit Wolle umwickelte Bittzweige tragend, aufzustellen. Jelineks Flüchtlinge ahmen dies in zeitgenössischen symbolischen Akten nach, denen allerdings Gewalt eingeschrieben ist: Sie haben eine Kirche besetzt (3, 4)13 und tragen Ölzweige als Friedenszeichen in ihren Händen, die sie von Olivenbäumen abgerissen haben (3);14 auf rituelles Handeln verweist ihr chorisches, von Wiederholungen durchsetztes Sprechen. In Aischylosʼ Stück betont Pelasgos, der König der Argivier, bei denen die Danaiden Zuflucht suchen, an diesen zwar deren fremdländisches Aussehen, gesteht ihnen aber Vertrautheit mit dem griechischen Götterkult und dem Ritus des Asylbegehrens zu (vgl. Vs. 234-325). Die Chorführerin der Danaos-Töchter macht ihn mit ihren gemeinsamen mythischen Wurzeln bekannt, da sie von Io abstammen, der Tochter des Flußgottes Inachos, eines Stammvaters von Argos. Der Mythos wird rekapituliert: Zeus verwandelt Io, die sich ihm hingegeben hat, um sie vor Hera zu schützen, in eine Kuh. Stiche einer von Hera geschickten Bremse jagen Io durch alle Länder der Erde, zuletzt erbarmt sich Zeus ihrer, verwandelt sie in Ägypten zurück, wo sie sodann als Göttin verehrt wird und den von Zeus empfangenen Sohn gebiert. Dessen Enkel sind Danaos, der Herrscher Libyens mit fünfzig Töchtern und Aigyptos, der Herrscher Arabiens mit fünfzig Söhnen. Die Aigyptos-Söhne verlangen die Danaos-Töchter zu ihren Frauen, was diese verweigern, sei es aus prinzipieller Abneigung gegen Heirat, sei es auch nur, weil der Vater es gebietet – im Streit um die Heirat geht es auch um die Herrschaft über das Land am Nil. Um der drohenden Gewalt der Aigyptos-Söhne zu entgehen, ist Danaos mit seinen Töchtern nach Argos geflohen, bittet dort nun rituell um Schutz. Aischylos hat als erster das Motiv des Schutzflehens in den Danaiden-Mythos eingeführt und es zum zentralen Bestandteil seines Dramas (das erste oder zweite Stück einer Tetralogie) gemacht. Eine dramatische Handlung im engeren Sinne kommt hier nur ansatzweise in Gang: zwischen Chor, Chorführerin und Danaos auf der einen und Pelasgos sowie später den Aigyptern, die die Danaiden zurückholen wollen, auf der anderen Seite. Insgesamt geschieht wenig und wenig Erregendes. Das Drama kreist um die Frage des Umgangs mit Schutzflehenden, die um Aufnahme in eine neue Gemeinschaft bitten. Eben dies steht auch im Zentrum des Jelinek-Textes. Zwar betont dort ein Ich, das sich zuweilen aus dem sprechenden Wir herauslöst: „ich kann diese ganzen Griechen und am Schluß die Ägypter […] nicht auch noch einbeziehen, nicht Zeus, nicht Europa, nicht Io, nicht die Bremse, die uns da gerade so festhält […]“ (14), aber dies unternimmt der Text dann doch ständig. Das sprechende Ich bestätigt damit nur, dass es nicht über den Text verfügt.
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