Kitabı oku: «Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart», sayfa 4

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II

Hybride Figurationen haben bei Jelinek eine lange Tradition. Bereits in ihrem Stück Krankheit oder moderne Frauen (1984) tritt ein sogenanntes „Doppelgeschöpf“ auf. 28 Jahre später findet dieses Wesen Eingang in den Theatertext Die Straße. Die Stadt. Der Überfall (2012), den Jelinek anlässlich des 100. Geburtstags der Münchner Kammerspiele verfasste.1 Das Stück berührt im Dekonstruieren des Phänomens Mode elementare Fragen des ökonomischen Diskurses und lässt dabei historische wie geschlechtliche (Ein-)Ordnungen brüchig erscheinen. Intertextuell rekurriert Jelinek dabei u.a. auf Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte, auf Roland Barthes’ Sprache der Mode und auf Die Bakchen des Euripides. Die anfängliche Regieanweisung lautet wie folgt:

Das Doppelgeschöpf, das ich einst erfunden habe, tritt einmal wieder auf, nachdem ich es mir aus der Versenkung geholt habe. Es ist ein Mann, an den eine Frau angenäht ist (früher war es eine Frau, die mit einer zweiten zusammengenäht war, aber ich habe das jetzt abgewandelt, was sich natürlich auch im Gewand niederschlagen wird). Man kann aber auch was ganz andres machen, wie immer. (STR)

Mit der hybriden Figuration, deren Auftritt hier angekündigt wird, geht eine genderspezifische Veruneindeutigung einher, die für das Theater der griechischen Antike typisch, um nicht zu sagen konstitutiv ist. Die Rollen von Frauen wurden in den Tragödienaufführungen bekanntlich von Männern mitgespielt; wir haben es also mit einer spezifischen Form von Theater zu tun, die – wie die Philologin Nancy Rabinowitz zurecht betont – als subversive Infragestellung von Geschlechterzuschreibungen verstanden werden kann.2 In den Bakchen aber wird dieser Rollentausch potenziert. Hier erscheint „das Weibliche“ doppelt konnotiert und entzieht sich dem Narrativ des schwachen Geschlechts. Die Frauen Thebens verlassen Haus und Kinder und ziehen als Mänaden ins Gebirge, wo sie jagend all das über Bord werfen, was Frauen grundsätzlich zugesprochen wird. Sie mutieren zu „männlich“ agierenden Frauen, die auf Pentheus eine ganz besondere Faszination ausüben – er möchte ihrem wilden Treiben unbedingt selbst beiwohnen. Um sich diesen Wunsch zu erfüllen, müsse Pentheus aber incognito bleiben, d. h. sich als Frau verkleiden, gibt Dionysos zu bedenken. Gesagt, getan. Pentheus verkleidet sich tatsächlich, wird jedoch von seiner verblendeten Mutter Agaue im Zuge des orgiastischen Treibens in Stücke gerissen und getötet. Das weibliche Auftreten fungiert in den Bakchen als Zeichen der Niederlage Pentheus’. Gleichzeitig wiederum verkörpert dieses Gehabe, wie sich im Falle von Dionysos zeigt, versteckte Macht.3 Die klassischen, auf einer Opfer-Täter-Dichotomie basierenden Geschlechterzuschreibungen werden in den Bakchen mithin umgekehrt bzw. ausgehebelt. Dies kongruiert mit dem politisch-poetologischen Verfahren Elfriede Jelineks, das „der“ Frau grundsätzlich nicht ausschließlich ein Opferdasein zuschreibt, sondern sie auch als Täterin vorführt. Ähnlich wie bei Euripides werden die Geschlechtergrenzen auch in Die Straße. Die Stadt. Der Überfall durchlässig. An den hier vorzufindenden Doppelgeschöpfen haften zwar die Geschlechterzuschreibungen „männlich“ und „weiblich“ wie Mode-Etiketten, doch werden diese gleichzeitig liquidiert. Die hybriden Sprechinstanzen treten eben nicht als psychologische „Figuren“ hervor, sondern entziehen sich jeder Zuschreibung. In dieser Absage an das dichotomische Prinzip ähneln sie dem in den Bakchen anzutreffenden Dionysos, der nicht nur (vermeintliche) Charakteristika beider Geschlechter vermischt, sondern zudem als Gott und Tier, Gott und Monster auftritt und zudem Thebaner und Asiat bzw. Grieche und Barbar in einem ist.4

Die Bakchen führen uns wieder zurück zu Schnee Weiß – auch dort fungiert diese Euripideische Tragödie als tragischer Intertext. Und auch dort haben wir es mit Figurationen zu tun, die zwischen den Kategorien mäandern. So treten in Schnee Weiß etwa jene beiden Boten auf, denen in den Bakchen eine wichtige Aufgabe zuteil wird. Sie sind es, die Theben über die am Berg Kithairon bezeugten unfassbaren Lusthandlungen der Mänaden in Kenntnis setzen. Die Boten vermitteln mithin zwischen der kultivierten, zivilisierten Ordnung der Polis und der außer sich geratenen Ordnung der „wilden“ Bakchen. Als paradoxale Figurationen der Durchquerung können aber auch die Engel bezeichnet werden, die in Schnee Weiß als Sprechinstanzen emergieren. Als Hervorbringer von Kommunikation changieren sie zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Körper und Materie und nicht zuletzt zwischen den Geschlechtern. Sibylle Krämer bringt es auf den Punkt, wenn sie schreibt: „Das Sein der Engel ist ihr Botesein; der Engel ist von Gott gesandt, ihr Geschick ist die Verschickung göttlicher Nachrichten.“5 In dieser übertragenden, übermittelnden Funktion werden sie auch im Theatertext Das schweigende Mädchen (2014), den Jelinek anlässlich des NSU-Prozesses als Auftragsarbeit für die Münchner Kammerspiele verfasst hat, erfahrbar. Der Text stützt sich auf Auszüge aus den Prozessakten und verwebt diese u.a. mit Bruchstücken von Euripides’ Elektra, mit Passagen aus dem Alten und Neuen Testament, mit Hesiods Theogonie und mit Giorgio Agambens und Monica Ferrandos Das unsagbare Mädchen. Die Engel, von denen hier die Rede ist, treten inmitten von „Richtern“, „Propheten“, „Menschen“, der „Jungfrau Maria persönlich“ und „Gott selbst“ auf und vermitteln zwischen unterschiedlichen Entitäten einer apokalyptischen Gerichtsszenerie, in der sich Diesseits und Jenseits nicht (mehr) ausschließen.

III

Eine elementare Rolle spielen Figurationen der Durchquerung darüber hinaus in den Schutzbefohlenen, also in jenem Theatertext, den Jelinek 2013 auf ihrer Website publizierte und den sie bis 2016 mehreren Revisionen unterzogen hat. Zur Erinnerung: Ursprünglichen Anlass zum Stück gab die im Herbst 2012 initiierte Protestbewegung von Flüchtenden, die zu Fuß von der Erstaufnahmestelle Traiskirchen (Niederösterreich) bis zur Wiener Votivkirche gepilgert waren, um diese als symbolischen Schutzraum zu besetzen.1 Jelinek verbindet diesen realpolitischen Vorfall mit einer der ältesten erhaltenen Tragödien überhaupt, nämlich mit den Schutzflehenden des Aischylos. Dieser Text handelt von den Danaiden, die vor der Zwangsheirat mit ihren Cousins aus Ägypten nach Argos fliehen und dort um Asyl ansuchen. Jelineks Fortschreibung beginnt wie folgt:

Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben nach Verlassen der heiligen Heimat. Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon. Wir flohen, von keinem Gericht des Volkes verurteilt, von allen verurteilt dort und hier. Das Wißbare aus unserem Leben ist vergangen, es ist unter einer Schicht von Erscheinungen erstickt worden, nichts ist Gegenstand des Wissens mehr, es ist gar nichts mehr. Es ist auch nicht mehr nötig, etwas in Begriff zu nehmen. Wir versuchen, fremde Gesetze zu lesen. Man sagt uns nichts, wir erfahren nichts, wir werden bestellt und nicht abgeholt, wir müssen erscheinen, wir müssen hier erscheinen und dann dort, doch welches Land wohl, liebreicher als dieses, und ein solches kennen wir nicht, welches Land können betreten wir?2

Bereits in diesen ersten Zeilen wird der Bezug zu Aischylos, den Jelinek am Ende des Textes explizit anführt, augenscheinlich. Die Passage nimmt Fragmente aus der Parodos der Hiketiden-Übersetzung von Johan Gustav Droysen (hier fett hervorgehoben) auf, mutiert sie und stößt dadurch eine Assoziationskette an. Wie bei Aischylos ist es eine chorähnliche Figuration, die den Text eröffnet. Und auch hier wird dieses Wir bis zum Schluss präsent bleiben. Analog zu den Hiketiden des Aischylos finden wir in den Schutzbefohlenen zudem keine Exposition des mythos durch Dritte vor. An die Stelle der vermittelnden Darstellung tritt auch hier ein unvermitteltes Erzählen.3

Das Verfahren der Bricolage, das hier zur Anwendung gelangt, führt uns Geflüchtete vor Augen, die in der Fremde um Aufnahme bitten, und die sich – dazu verdammt, eine Entscheidungsfindung abzuwarten – in einem liminalen Zustand befinden. In einem Zustand mithin, der im letzten Satz der Schutzbefohlenen widerhallt: „Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da.“ (SCH, S. 59-60) Das, was Geoffrey Bakewell für die Danaiden des Aischylos konstatiert, wenn er sie als „trapped between the two worlds“4 bezeichnet, trifft auch auf die in der Votivkirche protestierenden Refugees zu, denen Jelinek ihren Text gewidmet hat. Scheinbar angekommen, juristisch jedoch in einer Grauzone zuwartend, wird ihnen der Zugang zu Arbeit und Bildung verwehrt, wird ihnen das Recht auf ein selbstbestimmtes, freies Leben aberkannt. Sie sind mithin, wie Lynette Mitchell in Bezug auf die Danaiden feststellt, „both ‘insiders’ and ‘outsiders’“.5 Der heutige Asylwerber offenbart sich als „lebender Toter“, wie Giorgio Agamben im Weiterdenken von Hannah Arendts The Origins of Totalitarism (1951) angemerkt hat.6

Welcher Imaginationen aber bedient sich Jelineks ästhetisches Verfahren im Aufzeigen dieser spezifischen Prekarität? In Die Schutzbefohlenen treffen wir häufig auf das Bild des Vogels, das die Danaiden im antiken Prätext bemühen, um ihre Flucht zu verbalisieren. Gleichzeitig vergleichen sie sich auch als Vögel, wenn sie die Gewalt des Aggressors beschreiben.7 Von Danaos werden die Mädchen als „Taubenschwarm, vor gleichbeschwingten Falken bang“8 bezeichnet. Dieser Vergleich lässt sie als verschreckt und demütig erscheinen. Das für die Taube typische Bewegungsrepertoire des (Auf- und Nieder-)Flatterns unterstreicht die Aufregung der Schutzsuchenden, gemahnt aber auch an die Thematik des sich Niederlassens, um die die Tragödie kreist. Jelineks Tragödienfortschreibung greift all diese Assoziationen auf:

Wir haben an heilige Stätte uns gesetzt wie ein Taubenschwarm, doch die hier kennen nur diese eine Taube, die dort droben auf dem Dach, die wir ganz sicher nicht kriegen werden, die ist zu hoch, vor keinem Falken muß die bang sein, die Taube, und wir? Wir müssen uns vor allem und jedem fürchten. (SCH, S. 8, Herv. SF)

Mit der von Aischylos entlehnten Figuration des Schwarms, die an anderer Stelle als „Barbarenschwarm“ rekurriert, bringt die Autorin einen Terminus ins Spiel, der zentrale Fragen von Inklusion und Exklusion, von Gemeinschaft und Außenseitertum aufwirft.9 Der Schwarm verschiebt (System-)Grenzen und lässt die Distinktion einer Gemeinschaft von einem Außen unscharf werden. Nachdem Schwärme keine gesicherten Aussagen über ihre zeitliche Strukturiertheit, ihre Bewegungsrichtung und ihren Entstehungsort erlauben, haftet diesen „Kollektiven ohne Zentrum“10 etwas Bedrohliches an: Schwärme bilden sich plötzlich und ohne nachvollziehbaren Grund und können sich genauso rasch wieder auflösen. Sie symbolisieren dadurch eine unmittelbar einbrechende, nicht fassbare Bedrohung. Der Schwarm beschreibt mithin ein Grenzphänomen, eine Figuration, die im Dazwischen binärer Ordnungen auftritt und einen Schwellenraum eröffnet, der „sowohl eine fundamentale Ordnungskategorie als auch eine transitorische Zone des Übergangs markiert.“11 In dieser Unberechenbarkeit eignet er sich dazu, Angst- und Katastrophenszenarien im Kontext von Asyl und Migration zu (re)inszenieren. Jelinek lässt diese Figuration der Durchquerung mittels eines ästhetischen Verfahrens erfahrbar werden, das ich gemeinsam mit Teresa Kovacs als „schwärmendes Schreiben“ bezeichnet habe.12 Tatsächlich haben wir es in Die Schutzbefohlenen mit changierenden Sprechinstanzen zu tun, die sich aus dem Nichts konstituieren, sich zu einer scheinbaren Autorität verdichten, um dann aber wieder zu zerfallen:

Von alter Blutschuld, die grauenhaft der Erde Schoß entwich, ausgerechnet zu uns, zu meiner Familie, kann niemand befreit werden, es kann keine Ausnahme gemacht werden außer mir, ich bin außer mir, alle tot, alle tot, grauenhaft entwichene Schuld, aber das ist Ihnen wurst, das kümmert Sie nicht, allvernichtendes, das kann ich jetzt nicht lesen, Mordgen? Nein, von Genen wissen wir nichts, wir sind Bauern gewesen, wir sind Ingenieure gewesen, wir sind Ärzte gewesen, Ärztinnen, Schwestern, Wissenschaftlerinnen, wir sind etwas gewesen, jawohl, was auch immer […]. (SCH, S. 10)

Das „Wir“ in den Schutzbefohlenen evoziert ein polymorphes Sprechen, das auf paradoxe Weise die Unmöglichkeit eines jeden „Wir“ feiert. Anstatt jedoch hinter dem „Wir“, das in Die Schutzbefohlenen figuriert, „die anderen“, d. h. „die Refugees“ zu vermuten, plädiere ich dafür, dieses „Wir“ als leeren Signifikanten aufzufassen, der als Produkt unterschiedlicher diskursiver Elemente und hegemonialer Artikulationen zu denken ist. Tatsächlich ist das chorähnliche „Wir“ der Schutzbefohlenen ohne ein „Anderes“ nicht zu erfahren. Das „Wir“ ist eben nicht als simple Vermehrung eines „Ich“ und „Du“ zu verstehen, wie Bernhard Waldenfels hervorgehoben hat: „Das performative ‘Wir’ des Aussagevorgangs deckt sich nicht mit dem konstativen ‘Wir’ des Aussagegehalts.“13 In der Regel bin „ich“ es, die „wir“ sagt, oder ist es eine andere Person, die im Namen des „Wir“ spricht. „Wir“ benötigt grundsätzlich eine/n Fürsprecher*in, die oder der eine Gruppe vertritt. Aussagen wie „Wir Österreicher“ oder „We refugees“ verwischen die Differenz, die zwischen dem Subjekt des Sprechakts und dem Gehalt des Sprechakts besteht. Ebendiese Differenz setzt Die Schutzbefohlenen in Szene. Die Tragödienfortschreibung leuchtet die Position der Fürsprecher*innen, oder – wie es im Text heißt – der „Stellvertreter“ des Wir aus und lenkt die Aufmerksamkeit auf die performativen Mechanismen, die im Konstruktionsprozess von Identität und Alterität zutage treten.

Genau darin liegt das Potential der Jelinekschen Theatertexte. Sie verunmöglichen eindeutige Zuschreibungen, stiften kategoriale Verwirrungen und treiben ein Denken des Aporetischen voran, das so ungemein wichtig ist in Zeiten wie diesen.

„Wir bitten nicht, wir fordern“

Asyl im Theater

Patrick Primavesi (Universität Leipzig)

Griechische Tragödien bearbeiten immer wieder das Fremdsein in einer anderen oder auch in der „eigenen“ Kultur als existenzielle Krise. Für das antike Publikum, Angehörige der vielen griechischen Stadtstaaten des 5. Jhs. v. Chr., war die Erfahrung noch allzu vertraut, als Fremde schon in einer benachbarten Stadt keine bürgerlichen Rechte mehr zu haben. Dem entsprach die Darstellung von Flüchtigen und Schutzsuchenden, auch wenn die in den Tragödien behandelten Mythen sehr unterschiedliche Gründe für Flucht und Heimatlosigkeit enthalten. Bereits in der antiken Tragödie wird die Frage nach der Unantastbarkeit des bloßen und rechtlosen, weil von seiner kulturellen Form getrennten Lebens aufgeworfen, die Giorgio Agamben in seinen Studien zum Homo sacer als ein Leitmotiv der (bio)politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart untersucht hat.1 Die Tatsache, dass der Status des Menschen und die ethischen Werte der modernen westlichen Welt durch Vertreibung und Flucht im rechtlichen Ausnahmezustand hinfällig erscheinen, bringt gegenwärtig wieder mehr Theatermacher*innen dazu, an einem Theater der Tragödie weiter zu arbeiten. Das lange nicht gespielte Stück Hiketiden (Die Schutzflehenden) von Aischylos ist damit wieder präsent, in vielen neueren Inszenierungen oder Bearbeitungen. Wie im Folgenden gezeigt wird, provoziert dieser Text gegenwärtig eine Überschreitung theatraler Konventionen, bis hin zur Öffnung des Theaters als Asyl. Erneut stellt sich die Frage nach dem (un)möglichen Ort der Tragödie in der heutigen Gesellschaft. Dass diese Frage besonders die Instanz des Chores betrifft, wird exemplarisch an einem Anfang der 1990er Jahre entwickelten, aber nur in Teilen realisierten Projekt des Malers, Autors und Regisseurs Einar Schleef zu diskutieren sein.

Fremdheit in Mythos und Tragödie

Migration ist eine elementare Erfahrung, welche schon die antike griechische Kultur geprägt hat, die von Seefahrt und Handel abhängig war. Griechenland war in der klassischen Antike kein einheitlicher Staat, sondern ein eher loses Gebilde aus etwa 700 weitgehend autonomen, mitunter auch konkurrierenden und Krieg führenden Stadtstaaten. Die Griechen waren, wie Holger Sonnabend zugespitzt formuliert hat, sich „selbst sehr fremd“, sobald sie in eine andere Stadt kamen: „Der extreme Partikularismus in der griechischen Poliswelt machte die Griechen daher überall, außer in ihrer eigenen Stadt, zu Fremden.“1 So bildet die Situation, als Fremde/r auf Hilfe angewiesen zu sein, auch einen Kern der griechischen Mythologie. Homers Ilias und Odyssee bestehen zum großen Teil aus Migrationsgeschichten. Das Spektrum reicht von Helenas Flucht mit Paris in die Stadt Troja, die das Risiko auf sich nimmt, ihretwegen zerstört zu werden, bis hin zu den Irrfahrten des Odysseus, der nach dem Sieg über Troja zehn Jahre lang nicht in seine Heimat zurückkehren kann und als Fremder ständig den Gefahren einer ungastlichen Aufnahme ausgesetzt ist.2 Die elementare Erfahrung der Angewiesenheit auf ein Wohlwollen gegenüber Fremden teilten die Griechen auch mit ihren Göttern. Vor allem Dionysos erscheint stets fremd, fördert aber zugleich den Austausch zwischen den verschiedenen Kulturen der im Mittelmeerraum benachbarten Kontinente Europa, Afrika und Asien. Wie Walter Burkert hervorgehoben hat, sind schon die Parallelen zwischen den Werken Homers und früheren akkadischen und assyrischen Epen so weitreichend, dass der im 19. Jahrhundert unternommene Versuch, die klassische griechische Kultur von allen fremden Einflüssen in einer Art splendid isolation abzugrenzen, als gescheitert gelten kann.3 Götter und all ihre Nachkommen, die in den Mythen vorgeführt werden, sind permanent auf der Flucht, migrieren und fordern „Asyl“. Daraus resultiert eines der wichtigsten griechischen Rituale: eine fremde Gottheit aufzunehmen, indem man ihren Kult in die eigene Religion integriert. Die Vorstellung, dass den Mythen zufolge Götter und Göttinnen unter den ersten Asylsuchenden waren, bildet nur die Kehrseite der Wertschätzung des Asyls als einer heiligen Einrichtung.

Das Problem insbesondere mit dem Gott Dionysos ist jedoch, dass er, anstatt entweder bloß fremd oder eingeboren und heimisch zu sein, diese Differenz selber unterläuft, hinfällig macht. Sein Kult verbindet ein Prinzip der Überschreitung mit der Umkehrung symbolischer Ordnungen, sodass er als Migrant unheimlich vertraut erscheint, mit rätselhaften, mitunter bedrohlichen Eigenschaften. Mit dem Auftreten des Dionysos werden Verwandlungsmacht, Rausch, Ekstase, Gewalt und Epidemien verbunden, wie Marcel Detienne das Bild des „befremdlichen Fremden“ gezeichnet hat.4 Diese vor allem in Euripides’ Tragödie Die Bakchen vorgeführte Dialektik des Un-Heimlichen in der Erscheinung des Dionysos liegt darin, dass er zwar häufig als fremd verkannt wird, eigentlich aber einheimisch ist, „von innen“ her kommt:

Auf thebanischem Boden, mitten unter den Seinen, kann Dionysos nicht länger verbergen, daß er der Fremde aus dem Innern ist, und so das Befremdliche seiner Parusien zum Wesen seiner göttlichen Natur gehört, die unvergleichlich ist.5

Schon im archaischen Griechenland ist Dionysos nicht etwa ein neuer, junger Gott, sondern bereits in der Schicht der alten griechischen Gottheiten verwurzelt und mit Zeus verbunden. Andererseits verweist seine Verbindung mit Totenkulten und der Hoffnung auf ein Fortleben im Jenseits, vermittelt über orphische Kulttraditionen, auf Einflüsse aus Ägypten: „Daß der griechische Dionysos ägyptisch ‘infiziert’ ist und daß die aufs Jenseits ausgerichteten Dionysos-Mysterien zumindest in Einzelheiten vom Osiris-Kult beeinflußt sind, ist also gar nicht zu bestreiten.“6

Die berühmte Schale des Malers Exekias (entstanden um 540 v. Chr.) zeigt den Gott geschmückt mit einer Krone aus Efeublättern, und sein riesenhafter Körper füllt das ganze Schiff aus. Vielleicht bezieht sich diese Darstellung auf eine Episode aus dem 7. Homerischen Hymnus, wo der Gott sich aus der Gewalt von Piraten befreit hat, die er in Delphine verwandelte. Diese Geschichte aus der Jugend des Dionysos passt aber kaum zu der Darstellung des gekrönten Gottes, der auf dem Schiff mit einem großen, früchtetragenden Weinstock zu sehen ist, der eher auf kultische Traditionen verweist. Delphine sind auch als Verzierung des Schiffes zu erkennen, also bereits etablierte Attribute dieses Gottes. So gibt es näher liegende Deutungen des Bildes, wonach es Dionysos auf dem – jährlich „wiederholten“ – Weg nach Athen zum Fest der Anthesterien zeigt, bei denen er als Gott verehrt und gefeiert wurde. Das entspräche auch seiner traditionellen Assoziation mit dem Brauch der heiligen Hochzeit und der jährlichen Wiederkehr der Toten, vor allem der rituellen Funktion, die Schiffen und Schiffswagen in Prozessionen bei Festen für Dionysos zukam.7

Zu diesen Festen gehörten bekanntlich die Großen Dionysien, bei denen Tragödien, Satyrspiele und Komödien aufgeführt und in Wettkämpfen beurteilt wurden. Zwar beziehen sich nur wenige der erhaltenen Stücke mit ihrer Handlung auf Dionysos, in fast allen kommt aber der Erfahrung von Fremdheit und der Begegnung mit Fremden eine elementare Bedeutung zu. Schon die älteste überlieferte Tragödie, die Perser des Aischylos (472 v. Chr.), ist hierfür ein Beispiel, geht es darin doch nicht nur um den acht Jahre zuvor errungenen historischen Sieg einer kleinen griechischen Flotte gegen die überlegene persische Armee, sondern zugleich um die Selbstbestätigung der gerade erst etablierten attischen Demokratie gegenüber der Königsherrschaft (Tyrannis) der Perser. Mit deren zunehmendem Einfluss im Mittelmeerraum wuchs unter den griechischen Stadtstaaten das Bedürfnis, sich als panhellenische Gemeinschaft zu verstehen und gemeinsam zu verteidigen.8 In der Zeit der Perserkriege zu Beginn des 5. Jhs. v. Chr. wurde der Begriff barbaros – bis dahin noch eher im Sinne von fremdsprachig gebraucht – zu einem Gegenbild der griechischen Demokratien. So kann die Tragödie Die Perser auch als frühes Beispiel von „Orientalismus“ gelten, da hier die persische Sprache ebenso wie die Kleidung und das Verhalten am Königshof in fast klischeehafter Form als fremd charakterisiert werden und das Reich der Perser zugleich als Inbegriff der Alleinherrschaft von Tyrannen erscheint.9 Die These jedoch, dass Aischylos bereits eine überhebliche Geringschätzung der Perser als Barbaren inszeniert hätte, lässt sich kaum halten: Das an zentraler Stelle eingesetzte Traumbild der Königinmutter Atossa verweist vielmehr auf eine Gleichheit von Griechen und Persern, die erst der Übermut von Xerxes zerstört hat. Dass sich in dieser Tragödie die (griechisch sprechenden) Perser selber als Barbaren bezeichnen, entbehrt nicht der Ironie.10

Schließlich erweist Aischylos’ Stück dieser fremden Kultur schon dadurch Respekt, indem es den Sieg der Griechen bei Salamis aus Sicht der Perser schildert, die durch Botenberichte vom Untergang ihres Heeres erfahren, bevor ihnen der Geist des früheren Königs Dareios erscheint, der den Feldzug seines Sohnes über das Meer als Hybris scharf verurteilt. Dann erst tritt Xerxes selbst auf, mit nur wenigen Überlebenden, in zerrissenem Gewand und laut klagend. Insofern die Götter ihn so schwer gestraft haben, erscheint die mit dem Feldzug aus den Fugen geratene Ordnung der Welt vorläufig wiederhergestellt. Nach wie vor ist aber umstritten, ob die Tragödie mit dem Wechsel der Perspektive den Sieg der Griechen nur umso wirkungsvoller zelebrieren oder schon die Möglichkeit eines ähnlichen Schicksals für ihre eigenen Feldzüge demonstrieren sollte. Immerhin wurde die Hybris der Perser dem Theaterpublikum in einer Situation vorgeführt, als Athen durch seine militärische Macht im Mittelmeerraum zunehmend in Rivalitätskonflikte mit anderen Stadtstaaten geriet.11 Jedenfalls behauptet Aischylos’ Tragödie, wie auch Albrecht Dihle betont, noch längst nicht jene grundsätzliche Überlegenheit der Griechen gegenüber Fremden, die später, im 4. Jh. v. Chr., häufiger formuliert wurde.12