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I. Traditionslinien in Theaterperformances
Drei zentrale exemplarische Avantgarde-Referenzen, die auf ihre Art jeweils folgenreich die Ästhetik des Schauspiels und damit auch Spielformen der Stückentwicklung beeinflusst haben und zudem als Vorläufer oder Mitbegründer sogenannter postdramatischer Theaterformen angesehen werden können, sind die an der Schnittstelle zum (Sprech-) Theater angesiedelten Arbeiten von Pina Bausch und in deren Nachfolge u. a. Alain Platel. Und als zweite Referenz Arbeiten des von Judith Malina und Julian Beck 1947 begründeten Living Theatres, wobei sich Malina und Beck, und dies ist eine doppelt interessante Fußnote, in einem »Dramatic Workshop« von Erwin Piscator an der New School for Social Research kennenlernten.
Erstens betont die folgenreiche Begegnung von Malina, Beck und Piscator die potentiell erhebliche Schnittmenge der Theater- und (frühen) Performancepraxis, und zwar ebenso in dem Sinne, dass sich Piscators wegweisende multimediale Inszenierungen, wie z. B. Ernst Tollers zeitkritische Reportage Hoppla wir leben (1927), aber auch die Uraufführung von Peter Weiss’ Die Ermittlung (1965) zweifellos als Stückentwicklungen verstehen lassen. Und dies schon wegen ihres dokumentarisch geprägten Ansatzes, der für Stückentwicklungen typisch ist und in der gegenwärtigen Theaterpraxis eine zentrale Rolle spielt – was vor allem mit dem anhaltenden Authentizitätshunger zu erklären ist. Zweitens zeigt sich, dass die New York School for Social Research exemplarisch im Sinne der modernen Avantgarden die Trennlinie zwischen Leben und Kunst aufweicht und darüber hinaus programmatisch verschiedene wissenschaftliche und künstlerische Disziplinen unter einem Dach versammelt, um deren scharfe Grenzziehungen zugunsten von über- sowie ineinandergreifenden Dialogen zu verflüssigen und damit tiefer in die gesellschaftliche Praxis vorzudringen. Darüber hinaus betont die Ausrichtung des Institutes, dass die Schauspielabteilung hier dezidiert als künstlerische Forschung verstanden wird. Oder auf eine kurze Formel gebracht, die heute, speziell in Formen des Artivism, im Fokus steht: Aesthetic Research im Rahmen von Social Research und Aesthetic Research als Social Research.5 Daran anknüpfend lässt sich ebenso ein Zusammenhang zwischen der in den letzten Jahren signifikant aufgewerteten künstlerischen Forschung und der wachsenden Anzahl und Bedeutung von Stückentwicklungen diagnostizieren.
Als dritte Referenz möchte ich Theaterperformances der von Richard Schechner 1967 begründeten Performance Group nennen, die u. a. das frei nach Euripides entwickelte Stück Dionysus in 69 in einer New Yorker Garage realisierte und nach dem Bruch mit Schechner seit 1975 in wechselnden künstlerischen Konstellationen (u. a. Elisabeth LeCompte, William Defoe) als Wooster Group firmiert.
Bemerkenswert ist, dass das Living Theatre und die Performance Group/Wooster Group sich in ihren Theaterperformances trotz verschiedener Ausnahmen immer wieder mit literarischen Texten auseinandersetzen, d. h. klassische oder zeitgenössische Dramen den Ausgangspunkt ihrer Arbeiten bilden – wenngleich diese dann (sehr) frei szenisch realisiert werden. So inszenierte das Living Theatre in seiner frühen Phase in den fünfziger Jahren Stücke von Jean Cocteau, Bertolt Brecht, T. S. Eliot sowie Gertrude Stein, wobei die Landscape Plays von Stein eine zentrale frühe Referenz postdramatischer Ästhetik darstellen, an die u. a. wiederum Robert Wilson oder Heiner Goebbels in ihren eigenen (Musik-)Theaterarbeiten, aber auch in ihren szenischen Installationen, ästhetisch anknüpfen.6
40 Jahre später zeigt die gerade auch in Europa einflussreiche Wooster Group, dass sie mittels sogenannter postdramatischer Spielästhetiken/Stilmittel – und hier speziell mit technologisch komplexen audio-visuellen Mitteln − in ihren Theaterperformances u. a. in Brace Up! (nach Tschechows Drei Schwestern, 1991/2003), To You, The Birdie! (nach Phèdre von Jean Racine, 2002) sowie Hamlet (2006) diese Traditionslinien nicht zerschneidet, d. h. ihr Verhältnis zur Literatur/Dramatik keineswegs aufkündigt.
Gerade diese Beispiele unterstreichen nochmals, dass Theaterperformances dem Theater nicht prinzipiell die Literatur entziehen, sondern vielmehr eine Dynamisierung und Erweiterung der Funktionen und Bedeutung von Literarizität in/von theatralen Formen motivieren. Im Hinblick auf diese spezifischen Traditionslinien werde ich im Folgenden aufzeigen, dass zeitgenössische Stückentwicklungen bewusst an Ästhetiken sowie künstlerische Strategien von Theaterperformances anknüpfen – dabei aber zunehmend − einen entscheidenden Schritt vollziehen:
Zeitgenössische Stückentwicklungen lösen sich immer stärker von literarischen/dramatischen Spielvorlagen, womit eine ästhetische Zäsur eingeleitet wird, die wohl einen der folgenreichsten Einschnitte in der jüngeren Praxis des Schauspiels markiert.
Typisch ist hier u. a. die Position von Rimini Protokoll, deren Methode sowie Haltung Stefan Kaegi stellvertretend auf den Punkt bringt:
Eine unserer Entscheidungen von Anfang an war, dass wir zu dem, was wir tun, immer Theater gesagt haben. Die Stoßrichtung ging nicht gleich Richtung Bildende Kunst oder Performance. Rollenspiel und Fiktion wollten wir nicht, aber Themen wie Narration oder auch Identifikation haben immer eine Rolle gespielt. […] Die Geschichten selbst müssen nicht erfunden werden, es gilt, sie einzurahmen, auszuwählen und zu fokussieren, zu verbinden, sodass das Publikum sie selbst mit dem eigenen Hermeneutik-Mikroskop durchleuchten kann.7
Genauso folgenreich, wenn auch unter einem anderen Blickwinkel, stellt sich der nachstehende, im Genter Manifest festgehaltene Passus dar, der allerdings die Frage aufwirft, ob der hier federführende Milo Rau mit diesem selbst auferlegten Gebot nicht zugleich die künstlerische Freiheit des/seines (Stadt-)Theaters beschneidet, indem er dessen potentielle Spielräume (fahrlässig) verkleinert: »Die wörtliche Adaption von Klassikern auf der Bühne ist verboten. Wenn zu Probenbeginn ein Text – ein Buch, Film oder Theaterstück – vorliegt, darf dieser maximal 20 Prozent der Vorstellungsdauer ausmachen.«8
Aus den zuvor genannten Punkten ergeben sich zahlreiche Fragen und nicht unerhebliche Risiken. Es steht im wahrsten Sinne des Wortes viel auf dem Spiel! Für die Schauspieler*innen bildet sich ein ebenso grundlegend neues Rollenverständnis wie geändertes Verhältnis zum Stück heraus.
Welche Folgen sind damit verbunden, wenn bei Stückentwicklungen »die klassische Trennung der Arbeitsbereiche Textproduktion, Dramaturgie, Regie und Schauspiel herausgefordert und mitunter aufgehoben wird«9? Dass Stückentwicklungen eine höhere künstlerische Eigenverantwortung sowie schauspielerische Autonomie einfordern/freisetzen, betont auch der Grazer Schauspielabsolvent Michael Sumper in Bezug auf seine Erfahrungen in My lovely Europe. Ein Heimatabend: »Auch ist man nicht so sehr an die Erfüllung und Gestaltung des vorgeschriebenen Textes gebunden, sondern bis zu einem gewissen Grad sein eigener Autor, sein eigener Regisseur, sein eigener Dramaturg.«10 Und genau diese spezifische schauspielerische Gratwanderung steht im Fokus von avancierten Darstellungs- und damit zusammenwirkenden Dramaturgiediskursen.
II. Traditionslinien im Schauspiel. Stückentwicklungen im Spiegel des dramatischen und postdramatischen Theaters.
Mündige Künstler*innen nehmen sich nicht vor, dramatisches oder postdramatisches Theater zu machen und lassen sich ästhetisch auch nachträglich höchst unwillig in diese Kategorien einordnen. Zu Recht – weshalb sich eine (strikt gedachte) Dichotomie beider Formen auch in der Theoriebildung des Theaters als nicht produktiv erwiesen hat.
Die Darstellungsweisen, Ausdrucksmittel und Formen des Theaters sind heute vielfältig und differenzieren sich fortlaufend ästhetisch aus. So gilt auch weiterhin in Bezug auf die Künste, und darauf wies schon Brecht sinngemäß hin, dass »neue Zeiten neue Formen des Theaters brauchen«11. Dies gilt auch nach dem von Hans-Thies Lehmann 1999 formulierten »Ende des dramatischen Paradigmas«.12 Heute zeigt sich jedoch, dass dramatische Theaterformen nicht ausgestorben sind und auch nicht absterben werden, solange diese sich weiterentwickeln, d. h. kontinuierlich transformieren. Und dieses Potential an Erneuerung – und eben nicht bloße Wiederbelebungs- oder Musealisierungsstrategien − liegt, so meine Einschätzung, weiterhin vor.13
Postdramatische Theaterformen, die als eine Entwicklungsfolge sowie wesentliche Spielvariante des dramatischen Theaters auftreten, sind also weder als Synonym für zeitgemäßes/zeitgenössisches Theater noch als (alleiniges) Synonym für moderne Theater-Avantgarden zu denken. Genauso wenig sind postdramatische Theaterformen von ihrer Struktur her per se politischer als andere Formen des Theaters, auch weil postdramatische Theaterformen, wie auch andere, z. B. post-epische Theaterformen, längst weitere ästhetische Dynamiken motiviert haben. So wird immer spürbarer, dass auch postdramatische Theaterformen nicht nur längst klassisch geworden sind, sondern ebenso als Mainstream zum Teil ästhetisch erheblich ermüden – was auch wiederholt an ihrer übertriebenen Selbstreferenzialität sowie Tendenz zur spielerischen Eindimensionalität in Form des unterdrückten spielerischen Handelns liegt.14
Was bedeutet dies nun im Kontext von Stückentwicklungen? Zeitgenössische Stückentwicklungen sind weder zwangsläufig postdramatisch noch an eine konkrete Theaterästhetik beziehungsweise spezifische Theaterform gebunden. Stückentwicklungen sind eine Spielart des ästhetisch hybriden zeitgenössischen Theaters und entwickeln einen spezifischen ästhetischen Eigensinn, der sich nur bedingt ›labellisieren‹ lässt. Zudem fordern Stückentwicklungen jeweils eine spezifische Dramaturgie ein, wobei sie sich wiederholt mittels nicht-mimetischer Ausdrucksmittel beziehungsweise durch den Abbau oder die Abwesenheit von dramatischen Äußerungen von primär dramatisch geprägten Theaterformen absetzen.
Bedenkenswert ist in diesem Kontext auch eine Diagnose Christopher Rüpings, der in aktuellen Theaterformen und damit auch in Stückentwicklungen eine verstärkte Tendenz zu ›Ersatzdramaturgien‹ wahrnimmt. Rüping meint hier sowohl die »Netflixication kanonischer Texte, d. h. das Nachdichten von Klassikern im Stil einer Netflix-Serie« als auch das »Nachbauen der Erfahrungswelten bildender Künstler*innen« im Theater und präzisiert: »Was fehlt, sind theaterspezifische Dramaturgien: zeitgenössische Weltentwürfe, die sich nur im Theater ereignen können, weil ihre Prämisse die analoge Kopräsenz von denkenden, atmenden Zuschauer*innen und denkenden, atmenden Spieler*innen ist.«15
Wie die Herausforderungen und Profile von avancierten zeitgenössischen Dramaturgien, die sich bewusst als »gesellschaftliches Handeln« verstehen, aussehen könn(t)en, zeigt folgende Positionsbestimmung:
Neue Dramaturgien werden tätig. Nicht nur, indem sie konventionelle Lesarten von Bildern, Texten und Kunstwerken verschieben oder gängige Definitionen von Begriffen erweitern. Sie handeln, indem sie die Migration von Aussagen und die performative Kraft von Sprechakten vorbereiten und inszenieren. Sie kommen zu sich selbst – als wesenhaft transdisziplinäre und kollaborative Tätigkeit –, wenn sie tatsächliche und mögliche, regionale und internationale Öffentlichkeiten von Theater verweben und orchestrieren, wenn Dramaturgie als Praxis des gemeinsamen Denkens begriffen wird, die ihre Virtuosität aus überraschenden Verschränkungen von Rede und Gegenrede, Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit gewinnt, die sie erst zu organisieren weiß. Dann können unerwartete Nachbarschaften sichtbar, Formate transformiert und gesellschaftliche Andersmöglichkeiten belegt werden.16
Stückentwicklungen, die in der Regel möglichst hohe performative Energien anstreben, von denen sie sich eine höhere ästhetische/politische Sprengkraft erwarten, sind wiederum zumeist selbst ästhetische Hybride, da sie auf unterschiedliche Stilmittel zurückgreifen und mit divergierenden künstlerischen Strategien operieren.
Ein Moment sollte dennoch nicht vergessen werden: Stückentwicklungen sind zutiefst mit der Tradition des dramatischen Theaters verbunden. So beginnt die Geschichte der Stückentwicklung mit dem ältesten erhaltenen Drama Die Perser, das Aischylos für den im Rahmen der Dionysien stattfindenden Dramatikerwettbewerb entwickelte und 472 v. Chr. in Athen (selbst) zur Uraufführung brachte. Machen wir einen theatergeschichtlichen Zeitsprung in die siebziger Jahre und rufen uns weitere Stückentwicklungen in Erinnerung, die aus heutiger Sicht ästhetisch erstaunlich avanciert wirken und szenische Diskurspotentiale aktueller Stückentwicklungen präfigurieren. Schauplatz der folgenden Beispiele ist die Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin, die sich in dieser Phase zu einer der künstlerisch fortschrittlichsten Bühnen Europas entwickelt und von einem Leitungsteam (um Peter Stein sowie u. a. dem Dramaturgen Dieter Sturm) gesteuert wird.
III. Archäologie des Gegenwartstheaters
1.) Szenische Ausgrabungen. Die Grundlagen des Theaters
Antikenprojekt I – Erster Abend. Übungen für die Schauspieler unter der Gesamtleitung von Peter Stein sowie Antikenprojekt I – Zweiter Abend. Die Bakchen von Euripides in der Regie von Klaus-Michael Grüber, Premieren jeweils am 6. beziehungsweise 7. Februar 1974 in dem extra von Karl-Ernst Herrmann umgebauten Philips-Pavillon der Berliner Messehallen.
Der zweite Teil des Antikenprojektes Die Orestie des Aischylos wird erst sechs Jahre später mit Peter Steins fast zehnstündiger Inszenierung an der Schaubühne am Halleschen Ufer realisiert. Die Inszenierungen der Bakchen und der Orestie, die in Bezug auf die Spielästhetik und die Stilmittel ästhetisch diametral zueinanderstehen, müssen hier leider ausgeklammert werden.17
Bemerkenswert sind alleine schon 1.) die Hervorhebung des für Stückentwicklungen typischen Projekt-Gedankens im Übertitel des Gesamtvorhabens; 2.) die am ersten Abend bewusst verweigerte Spielvorlage in Form eines vorliegenden (dramatischen) Textes; 3.) der dramaturgisch-künstlerische Leitgedanke mit den Übungen für die Schauspieler konsequenterweise das Antikenprojekt zu beginnen und diese aufzuführen; 4.) die Schauspieler*innen ausdrücklich im Titel hervorzuheben; und 5.) damit auch den Gedanken des im Haus angestrebten künstlerischen Mitbestimmungsmodells anzudeuten. Dieses Bedürfnis nach mehr Mitbestimmung erfährt aktuell unter anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen eine erhebliche neue politische Aufladung, die sich auch in aktuellen Stückentwicklungen ausdrückt, die zum Teil sehr konkret die unmittelbar zusammenspielenden strukturellen und ästhetischen Diskurse verhandeln und zeitgenössische Alternativen szenisch zu etablieren versuchen.
Bezeichnend für den ersten Abend des Antikenprojektes ist insbesondere ein Moment, das ich als Performativität zweiten Grades bezeichnen möchte: die Potenzierung des Hervorbringens eines Stückes in Form einer reflexiven Making-of-Ästhetik. Gemeint ist damit nicht die spielerische Hervorbringung und deren unmittelbare szenisch-diskursive Thematisierung im Hier und Jetzt, die ich als Performativität ersten Grades bezeichnen würde. Stattdessen geht es bei der Performativität zweiten Grades zusätzlich darum, den Vorraum der Aufführung, d. h. die zurückliegende Probenarbeit, offenzulegen, indem Suchbewegungen in Form von Arbeitsständen und Entwicklungsprozessen offensiv in die Aufführung einfließen und in dieser spielerisch-reflexiv kenntlich gemacht sowie kontextualisiert werden. Diese Performativität zweiten Grades, die offensiv mit prozessualen, d. h. bewusst offenen Ästhetiken, experimentiert, spielt in der gegenwärtigen Schauspiel-/Performancepraxis und damit auch in Stückentwicklungen eine immer wichtigere Rolle. Dies zeigt sich in einem ästhetisch höchst unterschiedlichen Spektrum, wie z. B. in Arbeiten von Forced Entertainment, vom Nature Theater of Oklahoma, von Angélica Liddell, Rodrigo Garcia, She She Pop, René Pollesch, Falk Richter, Gob Squad, Yael Ronen, Christopher Rüping, Thorsten Lensing, Philippe Quesne, Thom Luz oder Johan Simons.18 Übungen für die Schauspieler macht genau dies, wird aber darüber hinaus erst zu einer vollwertigeren Stückentwicklung, indem die Schauspieler*innen nicht nur Übungen vollziehen sowie gemeinsam improvisieren, sondern u. a. konkrete Jagd-, Opfer- und Beschneidungsriten reenacten und dabei kritisch befragen. Entscheidend ist, dass der Abend auch deshalb über eine »nur geschmackvoll verkörperte Völkerkunde« hinausgeht, da »die Reflexionen der Schauspieler auf sich selbst« im Mittelpunkt stehen.19
Peter Iden präzisiert: »Wie sich selbst spielend erfahren, und das heißt: wie sie erfahren, was spielen ist, welche Beziehungen zum Beispiel zwischen psychischen Dispositionen und körperlichem Ausdruck bestehen und wie Darstellung und Wirklichkeit aufeinander zubewegt werden können.«20 Hinzu kommt, dass das sich in unmittelbarer Nähe zu den Schauspieler*innen befindende und zum Teil durch die Halle bewegende Publikum schon durch die Raumordnung dramaturgisch in die Übungen eingebunden wird, d. h. sich wie in Happenings wiederholt neu positioniert, wechselnde Perspektiven einnimmt und dabei seine eigenen Seherfahrungen aktiv hinterfragt.
Diese Prozesse werden bewusst von der Regie angestiftet, die weder die »Eindrücke der Zuschauer vorsortiert« noch auf dem Spielfeld (fixe) »Hierarchien« motiviert.21 Die Aufführung übt noch eine weitere Funktion aus, indem sie nicht nur auf die vorangestellte Probenarbeit verweist, um diese in Anwesenheit des Publikums im Rahmen einer Aufführung zu aktualisieren, sondern die Aufführung konsequent als Fortsetzung der Probenarbeit begreift.
Die Arbeit öffnet ebenso ein zukünftiges Zeitfenster, indem die Schauspieler*innen aus den Übungen bewusst den Folgeabend mit ihren individuellen Erfahrungen sowie dem kollektiv generiertem szenischen Wissen künstlerisch vorgrundieren. Auch, wenn Grüber in seiner Bakchen-Inszenierung mit dem identischen Ensemble, das parallel die Übungen probte, unter ganz anderen Spielvoraussetzungen eine völlig andere Spielästhetik entwickelt.
2.) Schauspieler*innen als geschichtsbewusste szenische Forscher
Shakespeares Memory I und II, Regie: Peter Stein, Premiere am 22. und 23. Dezember 1976, CCC-Film-Studio 4, Berlin-Spandau, Gesamtdauer: ca. sieben Stunden.
Und wieder der signifikante Entwicklungsgedanke im Rahmen eines neuen, über sich hinauswachsenden Großprojektes, das wie Übungen für die Schauspieler auf eine konkrete Spielvorlage in Form eines (dramatischen) Textes verzichtet, aber im Vergleich dazu aufgrund seiner Kunst-/Wissensformen übergreifenden Ästhetik, die sich auch in der vielschichtigen Raumdramaturgie/Ausstattungsästhetik widerspiegelt, noch komplexer ist.
Jedoch werden im ersten Teil wenige und im zweiten Teil Shakespeares Eiland eine Vielzahl von Szenensplittern aus Shakespeares Stücken als eine Art Potpourri in den Raum gesprochen.22
Shakespeares Memory ist eine szenische Recherche und Wegbereiter für die ein Jahr später folgende Inszenierung von Wie es euch gefällt, die Stein am selben Ort realisieren wird.
Allein der vieldeutige Arbeitstitel: Shakespeares Memory − »Shakespeares Gedächtnis«, aber auch »Erinnerungen an Shakespeare« −, der sofort eine Reibung zwischen Gegenwart und Geschichte motiviert, aber auch programmatisch die Frage nach den einzunehmenden Standpunkten stellt. Und genau um die von den Schauspieler*innen und dem Publikum auszuhandelnden sowie einzunehmenden Standpunkte geht es in erster Linie.
Der Ausgangspunkt aus der Perspektive der Schaubühne: »Ehe wir eines der Stücke Shakespeares spielen, müssen wir uns mit den historischen Voraussetzungen beschäftigen, unter denen Shakespeare gelebt und gearbeitet hat, wobei schon diese Beschäftigung sich der Darstellungs-Mittel des Theaters bedienen soll.«23 Übersetzt bedeutet dies nichts anderes als kollektive künstlerische (Grundlagen-)Forschung mit der Intention, dass sich theoretische (und hier vor allem philosophische) und künstlerische Positionen experimentell durchdringen und sich als szenisches Wissen möglichst produktiv binden, damit dieses neue Erkenntnisse generiert, die dann auch in die Folgearbeit einfließen können. Eigentlich, so Benjamin Henrichs, eine »legitime Absicht, ein Zwischenergebnis, eine Materialsammlung zu publizieren über die Arbeit des Ensembles an Shakespeare, etwas Vorläufiges und Fragmentarisches auszustellen.«24
Die für Stückentwicklungen zentrale Herausforderung besteht nun darin, wie spielerisch und wie spielerisch mit dem kollektiv angereicherten Material umzugehen ist und welche adäquaten Darstellungsmittel sowie Spielweisen in diesem Prozess zu entwickeln sind. Dabei stellen sich gleich mehrere Herausforderungen: 1.) die Anstiftung, Entfaltung und Vitalität des Spielens, da Stückentwicklungen aufgrund ihrer Materiallast dazu neigen, das Spielen zugunsten des Transportes sowie der möglichst reflexiven Vermittlung der Inhalte zu vernachlässigen und entsprechend diskurszentriert auftreten zu können. 2.) Das Problem des »Verhältnisses von Dokumentationsabsichten und Spielelementen« sowie die Intention, dass sich beide Momente möglichst produktiv, d. h. spielerisch vermischen und diskursiv durchdringen, wobei diese Strategie ebenso Risiken in Form von inhaltlichen Verwässerungen oder spielerischen Abstumpfungen in sich birgt.25
Hierbei ist u. a. zu beachten, dass »die szenische Darstellung eines Dokumentes zwangsläufig auch dessen inhaltliche Aussage verwandelt« – was die Schauspieler*innen mit einer erkennbaren Haltung szenisch mitverhandeln müssen, womit automatisch deren szenisches Bewusstsein steigt.26 3.) Die Entwicklung eines ausgeprägten Formbewusstseins, das gerade deshalb so entscheidend ist, weil Stückentwicklungen zumeist offene, heterogene oder/und hybride Formen anstreben. 4.) Speziell im Kontext der Formfrage zeigt sich, dass Stückentwicklungen wiederholt den Charakter von szenischen Essays annehmen. Damit stellt sich die Frage, wie dieses bewusst brüchige/fragmentierte »laute Nachdenken« auf der Bühne im Sinne von Kleists »allmählicher Verfertigung der Gedanken beim Reden« und die von den Schauspieler*innen begründeten »Denkbilder« auch spielerisch produktiv von diesen eingebunden werden können. Dabei gilt es zu vermeiden, dass die Gedanken weder monolithisch auf der Bühne für sich oder ausschließlich frontal zum Publikum stehen noch die Schauspieler*innen lediglich als spielgehemmte statische Diskurslautsprecher agieren.
Konturiere ich zunächst die Ästhetik des Essays, die Adorno in Der Essay als Form in den fünfziger Jahren reflektiert, so stellt der Essay nach Adorno die »kritische Form par excellence« dar, die sich »gegen die Idee des Hauptwerks sträubt«, wobei der Essay sich grundsätzlich durch seine Offenheit, seine Brüche, seine Auslassungen und durch die »Akzentuierung des Partiellen gegenüber der Totale« in Form des »Stückhaften« auszeichnet.27 Weitere Kennzeichen sind die »Dichte der Verflechtungen« sowie seine sich gegen »bündige Ableitungen stellenden Querverbindungen«, aber auch seine ausgeprägte Augenblicksgebundenheit sowie Selbstreflexivität.28 Relevant ist auch Adornos folgender Hinweis: »Das Bewusstsein der Nichtidentität von Darstellung und Sache nötigt jene zur unbeschränkten Anstrengung. Das allein ist das Kunstähnliche des Essays.«29
Es überrascht wenig, dass der Essay mit seinen spezifischen Wesens- und Formmerkmalen auch im Kontext der künstlerischen Forschung prominent auftritt. So notiert Kathrin Busch in einem Handbucheintrag zum Essay:
Der Essay ist die Kunstform der Theorie. In ihm figurieren sich Gedanken zu einer ästhetischen Gestalt. Als künstlerische Form des Denkens ist der Essay vorbildlich für das Forschen in den Künsten, sofern es sich nicht auf die Seite der Wissenschaften schlägt. Der Essay, wörtlich als Versuch übersetzt, meint ein tastendes und erwägendes Verfahren, ein auf Erkenntnis ausgerichtetes Tun, das sich seinem Gegenstand als einem Unbekannten nähert, um ihn zu erkunden. Essay bezeichnet daher die Vollzugsform des Erkennens unter den Bedingungen der Darstellung, die nicht ein zuvor gewonnenes Wissen präsentiert, sondern es in und durch den Ausdruck entstehen lässt. Aus dem Erkennen wird ein Ereignis, das Wissen erscheint als Werdendes.30
Hans-Thies Lehmann ist wohl einer der Ersten, der den Begriff 1999 theoretisch in den unmittelbaren ästhetischen Kontext des Theaters über-setzt und dabei auf eine Strategie hinweist, die seitdem spürbar an Einfluss gewonnen hat:
Theoretische, philosophische oder theaterästhetische Texte werden aus ihrer Behausung des Lesezimmers, der Universität oder der Theaterschule geholt und auf der Bühne präsentiert – durchaus mit dem Bewusstsein, dass das Publikum der Ansicht zuneigen könnte, solcher Beschäftigung sollten die Schauspieler vor der Aufführung nachgehen.31
Und genau diese Diagnose trifft bereits auf Shakespeares Memory zu, das mit der von Dieter Sturm entwickelten anspruchsvollen Meta-Dramaturgie bewusst Grenzen sprengt. Es stellt sich allerdings die Frage, ob das im Probenprozess generierte Über-Material das Ensemble in seiner spielerischen Präsenz nicht zu ersticken und das Publikum zu überfordern droht.
Es geht um Bilder und Texte, so der Untertext von Shakespeares Memory, wobei das Programmheft bewusst als Wegweiser bezeichnet wird, der drei Stationen nennt, die sich wiederum in zahlreiche Unterkapitel gliedern: 1.) Mummenschanz, 2.) Das Bankett – hier sitzen die Schauspieler*innen und Zuschauer*innen gemeinsam an einer langen Tischreihe; 3.) Das Museum – sowie für den zweiten Abend 4.) Shakespeares Eiland.
Wie ästhetisch heterogen und hybrid, aber auch gedankenlastig der erste Teil von Shakespeares Memory ist, drückt sich bereits in der Vielfalt und Dichte des szenisch zu bewältigenden Materials aus, das von den Schauspieler*innen sowie dem Publikum in Form eines Parcours durchlaufen und an verschiedenen Orten mit wechselnden Bühnenbildern und zahlreichen Requisiten spielerisch dreidimensional verhandelt wird.
Drei Momente sind hier hervorzuheben: 1.) die choreographische Dimension: So spielt das Bewegungsmoment in der Halle, d. h. das kollektive Durchwandern von (Geistes-)Welten, eine zentrale Rolle, wobei die Schauspieler*innen immer wieder als Choreographen agieren, indem sie die Zuschauer*innen durch die Räume bewegen/lenken und dabei neue Spielorte/Schauplätze begründen.
Jedoch erhalten die Zuschauer*innen ebenso ihre eigenen Freiräume, indem sich diese zum Teil autonom durch die Räume und zum Teil parallel ablaufenden Szenen bewegen können und dabei ihre individuelle Choreographie entwickeln. Ebenso bekommen die Zuschauer*innen im Verlauf des Parcours wiederholt Handzettel mit Textauszügen, die sie vor Ort lesen oder mit nach Hause nehmen können. Darüber hinaus werden einzelne Zuschauer*innen zu Zuhörer*innen, indem sie sich Auszüge aus Leonardo da Vincis Traktat von der Malerei (1481–1499) über Kopfhörer anhören, oder kollektiv mit den Schauspieler*innen einer vom Ton eingespielten Funkaufnahme Fritz Kortners mit Auszügen aus King Lear (1958) zuhören können. 2.) Der hohe dramaturgische Mitschöpfungsgrad aller Beteiligten. Elementar für dieses sich kontinuierlich neu konfigurierende performative installative Setting ist, dass sowohl die Schauspieler*innen als auch die Zuschauer*innen ebenso in die Rolle von Dramaturg*innen schlüpfen, indem sie sich in und zwischen künstlerischen, (natur-)wissenschaftlichen sowie philosophischen Positionen bewegen, darin verorten und das sowohl ausgestellte als auch spielerisch live hervorgerufene »Material« gedanklich erfassen, deuten, verknüpfen und szenisch einbetten, d. h. im Rahmen der Meta-Dramaturgie zunächst ihre eigene Dramaturgie entwickeln müssen. 3.) Die ästhetischen Reibungsmomente zwischen den spielerischen Handlungen sowie Darbietungen der Schauspieler*innen und den ausgestellten Objekten sowie Dokumenten.
Dabei wird einerseits der handwerkliche und hohe ästhetische Eigenwert der Ausstellungsobjekte thematisiert, wie z. B. bei einigen von Moidele Bickel bewusst auf einem Wagen ausgestellten und nach historischen Vorlagen entworfenen Kostümen. Anderseits werden Requisiten als reale Gegenstände ausgestellt, wie z. B. eine Original-Projektionskugel aus einem Zeiss-Planetarium. Ein weiteres ästhetisches Spannungsmoment bilden zahlreiche Nachbildungen/Nachstellungen, die entweder als Bühnenbildelemente fungieren, ins Spiel miteinbezogen werden oder in Kabinetten ausgestellt und zum Teil von den Schauspieler*innen erläutert werden.
So finden sich u. a. folgende Nachbildungen/Nachstellungen: einem aus einem Bild von Piero della Francesca nachgestellten »Humanistenwagen«, auf dem wiederum eine Büste Ciceros sowie Personifikationen von Grammatik, Rhetorik und Dialektik auftreten; ein für das Publikum begehbares und von den Schauspieler*innen bespieltes Rundtheater nach einem Entwurf Leonardo da Vincis (1532); Nachbildungen astronomischer Instrumente aus dem 16./17. Jahrhundert, die in einer »Astronomiewerkstatt« ausgestellt werden; ein »Sphärenmodell« in Form von Nachbildungen von Darstellungen des Mittelalters und der Renaissance zum Verhältnis von Mikro- und Makrokosmos – das damit nochmals die Leitvorstellung dieser Stückentwicklung visualisiert; riesige raumaufteilende Welträderprospekte; sowie ein »Emblem- und Gestenregal«, in denen plastische Nachbildungen von Renaissance-Emblemen und rhetorische Gesten ausgestellt und mittels Texten erklärt werden.
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