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Wie bringt nun das zwanzigköpfige Ensemble die vielen Texte – neben Szenensplittern aus mehr als zehn Stücken Shakespeares u. a. Textpassagen von Erasmus von Rotterdam, Francis Bacon, Giordano Bruno, Nikolaus Kopernikus, Johannes Kepler, Thomas Morus, Niccolò Macchiavelli sowie Michel de Montaigne – ins Spiel? Und wie und mit welcher Haltung bringen sich die Schauspieler*innen vor allem selbst ins Spiel?
Mit einer Vielfalt an Spiel-, Darstellungs- und Ausdrucksformen, die ein großes Rollenspektrum begründen und zwei Momente betonen: 1.) die Zentrierung der Schauspieler*innen als mündige Subjekte, die sich live denkend mit ihren Texten auseinandersetzen, zugleich ihre eigene spielerische Eingebundenheit reflektieren und die Meta-Dramaturgie mit ihren persönlichen Standpunkten Schritt für Schritt mitausformen. 2.) Die Begründung einer produktiven relationalen Doppel-Spannung, die sowohl die Reibung zwischen den nicht-dramatischen und dramatischen Texten als auch die Reibung zwischen der mimetischen und nicht-mimetischen Spielästhetik betrifft. Dabei zeigt sich, dass das mimetische Spiel(en) eigentlich nur dem Rekonstruktionsgedanken in Form des ausdifferenzierten Zitierens von englischen Volkstheaterformen dient, um dann ausgehebelt, d. h. zugunsten der nicht-dramatischen/nicht-mimetischen Ästhetik dekonstruiert zu werden und in einem szenischen Essay zu münden.
So spielen/zitieren die Schauspieler*innen Auszüge aus einem zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert mündlich sowie schriftlich überlieferten englischen Folkdrama oder Ausschnitte aus einem auf das Ende des 16. Jahrhundert datierten Singspiel der englischen Komödianten in Deutschland (»Der Windelwäscher«). Daneben gibt es eine anfängliche Maskenpräsentation (nach Vorbildern der Alemannischen Fastnacht aus dem 16. Jahrhundert, den Moriskentänzern Erasmus Grassers aus dem 15. Jahrhundert, Attributen des englischen Morris Dance aus dem 19. Jahrhundert sowie des heutigen Schweizer Frühlingsbrauchtums), verschiedene Tableaux Vivants sowie ein Reenactment eines Schäferspiels aus dem 15. Jahrhundert als auch eines englischen Schwerttanz-Narrenspiels aus dem 18. Jahrhundert, aber ebenso verschiedene Fechtübungen, artistische Übungen, die Präsentation von historischen Musikinstrumenten, ein fünfstimmig gesungenes Madrigal aus dem frühen 17. Jahrhundert oder vorgetragene Reden, Gedichte, Balladen sowie vorgelesene Briefe. Darüber hinaus gibt es verschiedene Vorträge oder Lecture Performances über das Menschen- und Weltbild in der englischen Renaissance des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, in die ebenso Schautafeln einbezogen werden, eine Rhetorik-Vorlesung, Erläuterungen zum Sieg der englischen Flotte über die spanische Armada, einen Vortrag Otto Sanders über die Melancholie auf der Grundlage von Robert Burtons Anatomie der Melancholie (1621) oder eine astrologische Vorlesung über Tierzeichen, die Libgart Schwarz in einer Art Museumskabinett hält.32
Interessant ist speziell, wie die Schauspieler*innen Wissen in Form von theoretischen/philosophischen Texten performen, dieses mit historischem Bewusstsein im Hier und Jetzt live befragen/denken, als szenische Forscher verschiedene (theoretische) Standpunkte entwickeln, dabei aber bewusst nicht Wissenschaftler oder Philosophen zu verkörpern versuchen und somit auch nicht wie in historisierenden Doku-Soaps die geistigen Urheber als rekonstruierte theatrale Figuren verkleben. Stattdessen geht es um das Ausloten von neuen Spielräumen jenseits der Verkörperung.
Die Schauspieler*innen spielen und agieren szenisch dreidimensional um Shakespeare herum und eröffnen damit sowohl komplexe Assoziations- als auch Reflexionsräume, die den Shakespeare-Kosmos spielerisch analytisch beleuchten. Eine Vielzahl von neuen Handlungsspielräumen und ungewohnten Rollen, die das Ensemble herausforderten und von der Kritik sehr unterschiedlich bewertet wurden. Exemplarisch dafür sind zwei gleichermaßen nachvollziehbare Positionen, die, so meine These, auch im Kontext aktueller Stückentwicklungen relevant sind, indem sie nochmals benennen, was hier schauspielerisch auf dem Spiel steht. So diagnostiziert Benjamin Henrichs, allerdings primär in Bezug auf den zweiten Abend, eine »Kärglichkeit der Nicht-, Halb- und Beinahe-Schauspielerei.«33
Anders die Bilanz von Carolin Neubaur:
Die ganz unterschiedliche Qualität der einzelnen Szenen und schauspielerischen Leistungen fiel dabei nur wenig ins Gewicht, denn die Dynamik des Versuchs, eine Annäherung an die Geschichte mit wissenschaftlichen Mitteln zu Kunst zu machen, befreite nicht nur die Zuschauer aus dem Sessel, sondern auch den Schauspieler vom Zwang des Perfektionismus.34
IV. Szenische/politische Diskurspotentiale: Repräsentationskritik, Authentizität und multiple Autorschaft
Ich habe mir jüngst zahlreiche aktuelle Inszenierungen, darunter mehrere als Stückentwicklungen bezeichnete, angesehen. Dabei dachte ich wiederholt an folgende Bemerkungen, die in Bezug auf die Frage der kollektiven Autorschaft, des Politischen und des Figurenverständnisses immer wieder herausfordern. Die erste Position stammt von René Pollesch:
Der erste Autor oder die erste Autorin unserer Theaterabende ist der Bühnenbildner oder die Bühnenbildnerin. Sie baut den Raum, und wir beziehen uns auf den. Der zweite Autor bin ich mit meinem ersten Text, die dritten sind die Schauspieler*innen, die sich die Texte nicht aneignen, sondern sich für bestimmte Texte entscheiden. So entstehen die Abende. Es ist ja ein Allgemeinplatz, dass ein Film oder ein Theaterabend nur kollektiv entstehen kann. Trotzdem fällt, nachdem jemand vielleicht die kollektive Arbeit im Theater würdigen will, danach immer nur ein Name. Das heißt vielleicht, dass die Begriffe Team, Kollektiv und schließlich Gemeinschaft vor allem wohlwollend gebraucht werden. Man will eine Gemeinschaft, aber man weiß noch nicht wie. Wir kennen im Moment nur ein Wir aus addierten Ichs.35
Das Moment der Teilhabe und des Teilens, das ein wirkliches Wir sowohl einfordert als auch freisetzt, hebt ebenso Ilia Papatheodorou von She She Pop hervor, wobei hier nicht nur die Urheber*innenschaft, sondern auch der individuelle schauspielerische Ausdruck negiert wird und somit potentielle Kernqualitäten der Schauspielkunst (leichtfertig) aufgegeben beziehungsweise bewusst verabschiedet werden:
Die künstlerische und intellektuelle Herausforderung besteht also darin, an der kollektiven Arbeit ein Interesse zu finden, ein Interesse zu finden an der Idee, dass mir nur deshalb etwas gehört, weil ich es teile. Die Frage, ob so etwas interessant ist, können wir nur mit Ja beantworten, wenn wir uns von wichtigen Kriterien, die uns zum Verständnis von Kunst zur Verfügung stehen, verabschieden: Urheber*innenschaft und individueller Ausdruck.36
Von Interesse ist in diesem Kontext das damit (auch) bei She She Pop direkt zusammenspielende und wiederholt missverstandene Moment des Autobiografischen, das Sebastian Bark selbst anspricht:
Das autobiografisch inszenierte Selbst ist nicht das Ziel unserer Arbeit, sondern ihre Voraussetzung. Wir gehen nicht auf die Bühne, um ein interessantes, dramatisches oder problematisches Selbst vorzuzeigen. Sondern wir gehen auf die Bühne mit einer Aufgabe, einer offenen Frage, und wir selbst präsentieren uns als beispielhafte Fälle oder Akteur*innen im Angesicht dieser Aufgabe. Das ist der Unterschied.37
Und noch einmal René Pollesch: »Das Problem ist, dass politisches Theater noch immer als Repräsentationstheater gemacht wird, in dem Kritik einfach nur die eine Verabredung ist, in dessen Reproduktionsprozess sich keiner kritisch verhält«.38
Eigentlich ein alter Hut, dass das Politische in der Kunst heute kaum mehr in dessen direkter Thematisierung in Form einer zu versendenden Botschaft liegt, sondern seine Potentiale vor allem in der Darstellungsweise entfaltet.39 Wie also, frei nach Jean-Luc Godard, politisch Theater machen und nicht bloß politisches Theater?
Die letzte, gerade auch im Kontext von Stückentwicklungen richtungsweisende Bemerkung stammt von Johan Simons, der das Theater als »eine Art Probebühne für die Wirklichkeit« versteht:
Wie stark repräsentieren wir noch unsere – veränderte – Gesellschaft? Oder anders gefragt: Für wen spielen wir Theater? […] Vielleicht liegt eine Chance darin, dass man sich im Theater nicht nur mit Figuren identifiziert. Das Besondere am Schauspiel ist, dass man sich mit Problemen identifizieren kann. Mit Gedanken.40
Dazu zwei abschließende Beispiele:
1.) In der Repräsentationsfalle. Karen Breece, Mütter und Söhne
(Regie: Karen Breece, Berliner Ensemble, Neues Haus, UA 20. September 2019)
Eine Inszenierung, die auf lange, aufwändige Recherchen von Karen Breece zum Thema Rechtsradikalismus aufbaut, wobei die Regisseurin zugleich als (alleinige) Autorin der Spielvorlage fungiert und das von ihr angereicherte dokumentarische Material in Form einer Doku-Fiktion künstlerisch zu übersetzen versucht. Mütter und Söhne, so heißt es vielversprechend im Programmzettel, »wirft aus dem Mikrokosmos – der Perspektive radikalisierter Söhne und deren Familien, in denen diese Söhne einmal Kinder waren – den Blick auf den Makrokosmos, die Gesellschaft, und stellt damit neben der Frage der Verantwortung von Politik und Gesellschaft auch die Frage nach der Verantwortung jedes einzelnen von uns.«
Problematisch ist allerdings, dass der Text trotz seiner politischen Brisanz zu schwach ist, da er dem Theater gegenüber kaum Widerstand leistet, was auch an seiner Formblässe liegt. So reduziert sich die Spielvorlage auf informationsreiche, zusammengeschraubte sowie figurenzentrierte Standpunkte, welche den fünf Schauspieler*innen im Probenprozess in den Mund gelegt werden, wobei die Schauspieler*innen in ihren zu verkörpernden Figuren stecken bleiben – und genau dieses Moment meint Simons − und damit als autonome/kritische Subjekte kaum sichtbar werden. Das Ergebnis: holzschnittartige verzweifelte Mütter-Figuren und Nazisöhne, die ebenso als Aussteiger Figuren-Schablonen bleiben und lediglich gesellschaftliche Realitäten nacherzählen/nachspielen.
Breece, die bereits am selben Haus eine Stückentwicklung mit Obdachlosen und professionellen Schauspieler*innen über Obdachlosigkeit realisierte, plante ursprünglich auch hier wieder nach dem gleichen Prinzip zu verfahren, hielt es aber für zu riskant, Aussteiger aus der Naziszene auf die Bühne zu holen.41 Da war Christoph Schlingensief mit seiner am Schauspiel Zürich 2001 realisierten Hamlet-Inszenierung wesentlich konsequenter!
Das Kernproblem von Mütter und Söhne wird in der szenischen Umsetzung umso deutlicher, die an gut gemeintes, politisch korrektes Betroffenheitstheater erinnert und keine ästhetisch-politische Sprengkraft entfaltet, weil es den Reproduktionsprozess nicht kritisch aufzubrechen versucht. Dabei entsteht der Eindruck, dass die Schauspieler*innen hier nichts von sich erzählen, lediglich Text aufsagen/nachsprechen und dabei Figuren behaupten, die kaum eine Schnittmenge mit der Lebensrealität der Schauspieler*innen aufweisen.
So sind die Realität außerhalb des Theaters, ein vielschichtiger Dokumentarfilm, eine fundierte wissenschaftliche Studie, ein polyphones Hörspiel, aber auch Romane, die ihre Kraft speziell durch Wechselwirkungen mit der Soziologie beziehen, wesentlich dichter als die erschreckend eindimensionale, in/an der Spielillusion erstickende Inszenierung, die vieles anzusprechen versucht, aber letztlich sprachlos bleibt – auch weil die individuellen Erzählstandpunkte und persönlichen Haltungen der Schauspieler*innen nicht konsequent diskursiv ausgeleuchtet werden.42
2.) Jenseits der Repräsentationsfalle. Sanja Mitrović, Danke Deutschland
(Regie: Sanja Mitrović, UA im Rahmen von FIND 2019, Schaubühne Berlin)
Anders diese Arbeit, in der Mitrović mit dem Ensemble, das aus fünf Schaubühnenmitgliedern sowie drei deutschvietnamesischen Gastperformer*innen besteht, multiperspektivisch die eigene sowie deutsch-deutsche Geschichte und deren divergierende Identitätsmuster spiegelt. Und zwar, indem sie die Geschichte der doppelten Einwanderung, d. h. der Bürgerkriegsflüchtlinge beziehungsweise »Boat-people« aus dem kapitalistischen Süd-Vietnam nach Westdeutschland und der »Vertragsarbeiter« aus Nordvietnam in die DDR vor und speziell nach der Wende aufarbeitet.
Dabei werden vor allem zwei Schauplätze und deren politische Ursachen als auch Folgen untersucht: der bis heute in der Öffentlichkeit wenig präsente Brandanschlag auf eine Hamburger Flüchtlingsunterkunft von 1980, dem zwei vietnamesische Studenten zum Opfer fielen, sowie der von Livemedien begleitete »Sturm« auf das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen von 1992 – die beide vom Ensemble als Reenactment skizziert werden.
Mitrović interessiert sich besonders für die Frage, wie sich das Verhältnis von Staatsbürger*innen und Einwanderern in der deutschen Gesellschaft unter wechselnden politischen Verhältnissen verändert, aber auch wie die doppelte vietnamesische Community auf ihre eigene Wiedervereinigung in Deutschland reagiert. So verweist der Titel Danke Deutschland auf eine mehrheitliche und bis heute resistente Haltung der vietnamesischen Community, die sich Deutschland lieber dankbar gegenüber zeigen und damit eher unsichtbar bleiben möchte als Kritik an dem von ihr doppelt erfahrenen Alltagsrassismus zu leisten.
Genauso vielschichtig wie die gemeinsam entwickelte sowie auf komplexen Recherchen und insbesondere persönlichen Erfahrungen aller Beteiligten aufbauende Spielvorlage ist die szenische Umsetzung, die durch ihre »dezentralisierte Aufführungsstruktur«, die programmatische »multiple Autorschaft« sowie die ausgeprägte Mündigkeit und der damit verbundenen wirklich »kollektiven Hervorbringung« besticht.43 Gerade hier zeigt sich die hohe Bedeutung der Making-of-Ästhetik in Form der Performativität zweiten Grades, indem die Darsteller*innen wiederholt auf Diskurse aus der Probenphase verweisen, offen(-siv) auf Lücken/Widersprüche ihrer kollektiven Recherche sowie auf Rollenkonflikte hinweisen und sich damit auf der Bühne differenziert politisch artikulieren, indem sie rassistische Strukturen/Resonanzräume offenlegen, die nicht nur die reine Gegenwart betreffen.
Eine Voraussetzung für die Plausibilität des verdichteten Materials ist ebenso eine konsequente Besetzung gegen den Strich, da die Gastperformer*innen sowie Schaubühnen-Schauspieler*innen grundsätzlich fixe Rollenmuster vermeiden und dafür lieber wiederholt auch geschlechterübergreifend die Rollen tauschen, um sich immer wieder neu zueinander ins Verhältnis zu setzen sowie sich im Gegenüber zu spiegeln. Damit wird ebenso eine Fixierung von Opfer- und Täter-Relationen zugunsten von Figurenbrüchen/-auflösungen, die wiederum die Schauspieler*innen in ihrer Persönlichkeit aufwerten, verhindert. So souffliert z. B. ein Gastperformer einige persönliche Erfahrungen einem Kollegen auf Vietnamesisch, der diese dann in dessen Sprache wiederholt und damit gewohnte Rollenmuster aufbricht.
Natürlich geht es auch darum, die eigenen Biographien zu performen, die jedoch nicht nur als eindimensionale Authentizitätseffekte auf die Bühne gestellt werden, indem die Schauspieler*innen diese beziehungsweise sich selbst mit persönlichen Dokumenten wie Kindheits-/Familien-Fotos, einem Ernst-Busch-Studentenausweis oder anderen Gegenständen beglaubigen.
Wie sich Authentizitätseffekte diskursiv aufladen lassen und Klischees des Publikums dekonstruiert werden können, zeigt Mitrović z. B. in einer Szene, in der ein als Deutsch-Vietnamese empfundener Performer, der zugleich noch Transgender ist, dem Publikum augenzwinkernd mit französischem Akzent mitteilt, dass er/sie gar nicht aus Vietnam, sondern aus Laos stamme und vor seiner Ankunft in Deutschland zunächst einige Jahre in Frankreich verbracht habe, dies aber wegen seiner Rolle zunächst verschwiegen und die französische Einfärbung seines Deutsch bewusst unterdrückt habe.
Eine ähnliche Strategie wählt auch Milo Rau in Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs (UA 07. Dezember 2015 am TNB Rennes), wobei Rau diese Stückentwicklung selbst als (theatralen) Essay bezeichnet.44 So gibt es in der Inszenierung einen entscheidenden Moment, in dem Consolate Sipérius, eine Überlebende des Genozids von 1993 in Burundi, dem Publikum, das sie aufgrund ihrer sehr persönlichen Berichte bisher auf ein authentisches Opfer beziehungsweise auf einen sich selbst bezeugenden Flüchtling reduziert hatte, mitteilt, dass sie längst eine professionelle Schauspielerin ist und in Brüssel Hauptrollen in europäischen Klassikern, wie Julia, Nora oder Antigone, gespielt habe.
Doch nochmals kurz zurück zu Danke Deutschland, in dem es um mehr geht als die Dekonstruktion von Klischees. Und zwar um das individuelle Verhandeln der jeweils eigenen Geschichte, die dann jeweils kurzgeschlossen und in einem größeren, d. h. über das Spielkollektiv und einen rein subjektiv geprägten Blickwinkel hinausgehenden politischen Kontext analysiert wird. Hier zitieren die Schauspieler*innen wiederholt vielstimmig aus Polizeiberichten, Politikerreden und Zeitungsartikeln, zeigen verschiedene Pressefotos und hinterfragen die Dokumente gemeinsam kritisch. Entsprechend betont Mitrović auch das soziale Moment ihrer Arbeit: »Ich finde es wichtig, die Dynamik zwischen individuellen und kollektiven Versionen der ›Wahrheit‹ gemeinsam zu untersuchen und auch Theater als soziale Aktivität zu begreifen.«45
In diesem Sinne ist es ebenso konsequent, dass das Ensemblemitglied Veronica Bachfischer, die sich ehrenamtlich für Geflüchtete einsetzt und dies auch in einer Szene selbst kurz anspricht, nach der Aufführung im Foyer interessierten Zuschauer*innen das Mentorenprogramm des Berliner Fördervereins XENION konkreter vorstellt und auf Wunsch Informationsmaterial aushändigt. Damit zeigt sich, dass Stückentwicklungen gerade dann szenisch(es) Wissen generieren und das Theater »mögliche Einsatzräume des Politischen hervortreiben kann«, wenn die Schauspieler*innen/Performer*innen einen intensiven Stoffwechsel mit ihrer (eigenen) Lebenswirklichkeit und der Spielvorlage eingehen, mündig (auch mittels eigenem Text) auftreten, mit ihrer persönlichen spielerischen Präsenz auf die Realität einwirken, d. h. unmittelbar das Leben selbst spüren − und somit auch das Publikum reflexiv berühren.46 Dabei − und dieser Gefahr entgeht Danke Deutschland − »sollte Engagement in der Kunst sich nicht von der autonomen Logik des Ästhetischen losmachen wollen«47, da sonst der ästhetische Grund und damit auch die künstlerischen Spielräume des Theaters wohl noch stärker verblassen würden … Daran anknüpfend bilanziert Hans-Thies Lehmann zu Recht, »dass Theater von Anfang an immer auch eine Art von Denken auf und mit der Bühne ist, eine Art von Denken als szenische Praxis«.48
Hinzuzufügen wäre hier die soziale Praxis, ohne dabei, und darauf kommt es mir an, die Ästhetik des Theaters aus den Augen zu verlieren.
1Zum Kontext von postdramatischen Stückentwicklungen im Kindertheater vgl. Deinert, Sylvia: Das Wie zum Sprechen bringen. Postdramatische Stückentwicklung im Kindertheater, Frankfurt a. M. 2005.
2So heißt es u. a. in den Informationen zum themengebundenen Open Call des Stückemarktes 2020: »[…] können sowohl Theatertexte als auch Theaterprojekte – zum Beispiel Site-Specific-Projekte, theatrale Interventionen, narrative Räume – und Performances, die auf dokumentarischem Material basieren und an der Schnittstelle verschiedener künstlerischer Disziplinen entstanden sind, eingesendet werden. Unser Interesse gilt dabei insbesondere jungen AutorInnen und KünstlerInnen, die im Sinne eines erweiterten Begriffs von AutorInnenschaft neue Narrationen und Perspektiven aufzeigen und innovative, weltenerzeugende Sprachen entwickeln.« (https://www.berlinerfestspiele.de [abgerufen am 26. November 2019]).
3Richter, Falk: Disconnected. Theater Tanz Politik, Berlin 2018, S. 52.
4Ebd., S. 94 – 96.
5Vgl. dazu u. a. Schmitz, Lilo (Hrsg.): Artivismus. Kunst und Aktion im Alltag der Stadt, Bielefeld 2015.
6Vgl. Tigges, Stefan: »Die Wahrnehmung wahrnehmen. Heiner Goebbels performative Installation ›Stifters Dinge‹«, in: Cahiers d´Études Germaniques 79.Théâtre, peinture et photographie à l´épreuve de l´intermédialité dans l´espace francoallemand (XIV – XXI siècles), (2/2020), im Erscheinen.
7Behrendt, Eva/Wille, Franz: »Agenda: Türen öffnen. Ein Gespräch mit Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel von Rimini Protokoll über Strategien freier Theaterarbeit«, in: Theater heute (3/2020), S. 4 – 11, hier: S. 10f.
8Rau, Milo/NT Gent & International Institute of Political Murder (Hrsg.): Globaler Realismus. Goldenes Buch I, Berlin 2018, S. 142 – 145, hier: S. 144. Weiter zu diskutieren sind auch die anderen aufgeführten Forderungen, die sowohl die Auswahlkriterien der Schauspieler*innen, die auf der Bühne gesprochenen Sprachen als auch die Bühnenbildästhetik betreffen und gleichermaßen strukturelle wie ästhetische Fragen aufwerfen.
9Diese Frage formuliert Nina Tecklenburg u. a. in einer Skizze zu ihrer Lehrveranstaltung, die sie für Schauspiel-, Regie- und Dramaturgiestudierende 2017/2018 an der Berliner Hochschule Ernst Busch anbot. Nina Tecklenburg realisierte ebenso eine umfassende Untersuchung zu Narrativen und erzählerischen Strategien in Theater und Performance, wobei sie entgegen dem Titel künstlerische Positionen im zeitgenössischen Schauspiel praktisch/theoretisch ausblendet. Vgl. Tecklenburg, Nina: Performing Stories. Erzählen in Theater und Performance, Bielefeld 2014.
10Sumper, Michael: »Stückentwicklung – Segen oder Fluch? Aus der Sicht der Schauspielstudierenden«, in: Programmheft My lovely Europe. Ein Heimatabend, S. 17, in: My lovely Europe. Ein Heimatabend, Institut für Schauspiel, Kunst Universität Graz, Regie: Carolina Unser, Dramaturgie: Prof. Dr. Evelyn Deutsch-Schreiner Premiere: 13. Februar 2017, Theater im Palais, Graz.
11Darauf wies ebenso Hans-Thies Lehmann in Christoph Schlüters Film Hans-Thies Lehmann. Postdramatisches Theater (2019) hin, der anlässlich des 20. Geburtstages des Buches und seiner Rezeptionsgeschichte im Rahmen eines Kolloquiums in der Berliner Akademie der Künste am 22. November 2019 uraufgeführt wurde.
12So stellt Lehmann klar: »Das Adjektiv ›postdramatisch‹ benennt ein Theater, das sich veranlasst sieht, jenseits des Dramas zu operieren, in einer Zeit ›nach‹ der Geltung des Paradigmas Drama im Theater. Nicht gemeint ist: abstrakte Negation, bloßes Wegsehen von der Drama-Tradition. Nach dem Drama heißt, daß es als – wie immer geschwächte, abgewirtschaftete – Struktur des ›normalen‹ Theaters fortlebt: als Erwartung großer Teile seines Publikums, als Grundlage vieler seiner Darstellungsweisen, als quasi automatisch funktionierende Norm seiner Dramaturgie. […] Das beschreibt postdramatisches Theater: die Glieder oder Äste des dramatischen Organismus sind, wenn auch als abgestorbenes Material, noch anwesend und bilden den Raum einer im doppelten Sinn ›aufbrechenden‹ Erinnerung.« Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999, S. 30.
13Vgl. hierzu auch Tigges, Stefan (Hrsg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008; Tigges, Stefan/Pewny, Katharina/Deutsch-Schreiner, Evelyn (Hrsg.): Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsspielräume in Theater, Tanz und Performance, Bielefeld 2010; Pelka, Artur/Tigges, Stefan (Hrsg.): Das Drama nach dem Drama. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945, Bielefeld 2011 (alle genannten Publikationen sind jeweils im Transcript Verlag erschienen).
14Vgl. dazu auch: Stegemann, Bernd: Kritik des Theaters, Berlin 2013; ders.: Achtung, echte Menschen!, in: Süddeutsche Zeitung, 2. Januar 2017 (https://www.sueddeutsche.de/kultur/essay-achtung-echte-menschen-1.3318236 [abgerufen am 12. August 2020])
15Rüping, Christopher: »Mut zur Lücke. Vorschläge für die Zukunft vom Regisseur des Jahres«, in: Theater heute (1/2020), S. 1.
16Herbert/Mohren: »Dramaturgie«, in: Malzacher, Florian/Müller, Dominik/Stilleke, Felizitas/Impulse Theater Festival 2013 – 2017 (Hrsg.): Stichworte, NRW KULTURsekretariat, Wuppertal/Berlin 2017, S. 30f., hier: S. 31.
17Interessant im Hinblick auf Stückentwicklungen und auf die von ihnen ausgelösten raumdramaturgischen Diskurse sind insbesondere Grübers Faust Salpêtrière (Paris 1975), Winterreise (Olympiastadion, Berlin 1977) oder Rudi (Hotel Esplanade, Berlin 1979), da die historisch, politisch und ästhetisch aufgeladenen Originalschauplätze eine elementare Rolle spielen.
18Die Fokussierung der Probenpraxis drückt sich entsprechend auch in der Theoriebildung aus. Vgl. Matzke, Annemarie: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012.
19Vgl. Reingard, Baumgart: »Süddeutsche Zeitung«, in: Jürgen Schitthelm (Hrsg.): 50 Jahre Schaubühne 1962 – 2012, Berlin 2012, S. 99f., hier: S. 99; vgl. Iden, Peter: »›Antikenprojekt‹. Erster Abend: ›Übungen für Schauspieler‹. Gesamtleitung: Peter Stein. 1974«, in: ders.: Die Schaubühne am Halleschen Ufer 1970 – 1979, Frankfurt a. M. 1982, S. 167 – 172, hier: S. 170.
20Iden, Peter: »Shakespeares Memory I und II. Regie: Peter Stein«, in: ders.: Die Schaubühne am Halleschen Ufer 1970 – 1979, München 1982, S. 212 – 220, hier: S. 213.
21Vgl. Henrichs, Benjamin: »Die Zeit«, in: Schitthelm: 50 Jahre Schaubühne 1962 – 2012, S. 100.
22Dazu heißt es im Programmheft: »Alle Schauspieler sind auf der Insel versammelt, sie sprechen Shakespeare-Texte. Die Auswahl folgt der Willkür unserer Vorlieben.« Programmheft, in: Shakespeares Memory. Bilder und Texte. Wegweiser, Dramaturgie: Dieter Sturm, Schaubühne am Halleschen Ufer, Spielzeit 1976/77, (ohne Seitenangabe).
23Iden: Die Schaubühne am Halleschen Ufer 1970 – 1979, S. 213.
24Henrichs: »Die Zeit«, S. 116.
25Vgl. Iden: Shakespeares Memory, S. 220.
26Ebd.
27Vgl. Adorno, Theodor W.: »Der Essay als Form«, in: ders.: Noten zur Literatur I, Frankfurt a. M. 1978, S. 9 – 49.
28Vgl. ebd.
29Ebd., S. 38.
30Busch, Kathrin: »Essay«, in: Badura, Jens/Dubach, Selma/Haarmann, Anke/Mersch, Dieter/Rey, Anton/Schenker, Christoph/Toro-Pérez, Germán (Hrsg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin 2015. Im selben Band findet sich ebenso in einem Kapitel zu den darstellenden Künsten ein Eintrag zu Stückentwicklungen, in dem auf deren diskursives Potential hingewiesen wird (S. 23 – 25).
31Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 203 – 205, hier: S. 203. Und daran anknüpfend vgl. Gabriel, Leon/Müller-Schöll, Nikolaus (Hrsg.): Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie, Bielefeld 2019.
32Vgl. Iden: Shakespeares Memory, S. 212 – 220, vgl. Shakespeares Memory. Bilder und Texte. Wegweiser.
33Henrichs: »Die Zeit«, S. 116.
34Neubaur, Caroline: »Darmstädter Echo«, in: Schitthelm: 50 Jahre Schaubühne 1962 – 2012.
35Pollesch, René: [Schritt-Schritt-Stolper], in: ders.: Der Schnittchenkauf, hrsg. von Pollesch, René/Müller, Christopher/Buchholz, Daniel, Berlin, Galerie Buchholz 2012. Wiederabgedruckt in: Programmheft, in: (Life on earth can be sweet) Donna, Premiere: 15. Dezember 2019, Deutsches Theater Berlin, Berlin, S. 24 – 27, hier: S. 26f.
36Papatheodorou, Ilia: »II. Wir sind Niemand. Ersetzbarsein im Kollektiv«, in: She She Pop: Sich fremd fühlen. Beiträge zu einer Poetik der Performance, Berlin 2018, S. 43 – 74, hier: S. 44.
37Bark, Sebastian: »III. Wir sind der Protagonist. Das Material der Performance«, in: She She Pop: Sich fremd fühlen, S. 86 – 113, hier: S. 90.
38Brandl-Risi, Bettina: »Neue Szenen des Virtuosen. Überbietung und Imperfektion im Gegenwartstheater«, in: Brandstetter, Gabriele/Brandl-Risi, Bettina/van Eikels, Kai (Hrsg.): Szenen des Virtuosen, Bielefeld 2017, S. 231 – 267, hier: S. 265.
39So auch Hans-Thies Lehmann: »Politisch wird Theater kaum mehr durch eine direkte Thematisierung des Politischen, sondern durch den impliziten Gehalt seiner Darstellungsweise.« Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 456.
40Simons, Johan: »Ein Turm zu Babel!«, in: Theater heute, Neue Konflikte. Jahrbuch 2018, S. 70 – 71. Diese Haltung bekräftigt Simons auch an anderer Stelle: »Theater vermittelt sich über Gedanken, nicht über Identifikation. Die Schauspieler*innen sollten nicht nur versuchen, die Rolle zu spielen, sondern auch die Gedankenwelt des Hier und Jetzt zu zeigen. Man entkommt dem ohnehin nicht, sich selbst zu beobachten und zu reflektieren. Als Schauspieler*in sollte man sich nicht darum bemühen, die ganze Zeit mit der Figur zu verschmelzen.« N.A: »Ich liebe das Nicht-Vollkommene. Johan Simons über Hamlet«, in: Hamlet, Programmheft, in: Hamlet, Regie: Johan Simons, Premiere: 15. Juni 2019, Schauspielhaus Bochum, Bochum, S. 15 – 18, hier: S. 15 u.18.
41Vgl. Auf der Straße, Regie: Karen Breece, Premiere: 13. September 2018, Berliner Ensemble, Berlin.
42Hier denke ich speziell an französische Autoren*innen wie Paul Nizan, Marc Augé, Annie Ernaux, Didier Eribon oder Edouard Louis, die mit unterschiedlichen diskursanalytischen Strategien operieren, dabei gleichermaßen form- wie gesellschaftsbewusst sind und dringliche politische Fragen anstoßen, denen ebenso philosophische oder ethnologische Dimensionen innewohnen können. So verwundert es kaum, dass einige dieser Autoren*innen speziell im deutschsprachigen Raum bereits für die Bühne adaptiert wurden und Stückentwicklungen, denen Texte von Ernaux oder Augé zugrunde liegen, bald folgen könnten.
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