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Vom Mädchen, das übers Wasser ging: ausgewählte Übergänge im Œuvre Barbara Frischmuths
Barbara Hoiß
Abstract

Wo und wie sich Übergänge manifestieren, soll exemplarisch an Barbara Frischmuths Werk aufgezeigt werden. Dabei rücken vor allem transitorische, realistische, phantastische und das Genre bzw. die Leserschaft betreffende Kontaktstellen in den Vordergrund.

Ein Übergang

Immanuel Kant schreibt im Kapitel „Übergänge“ des opus postumus:

„Es ist kein Sprung von einem Territorium ins andere denn das würde keine notwendige Verbindung zum Behuf des Ganzen einer Naturwissenschaft abgeben, sondern eine Stellung, welche die Vernunft annehmen muss, um beyde Ufer mit einem Schritt zugleich zu berühren.“1

Wenngleich Kant vom Übergang zwischen den metaphysischen Anfangsgründen und der Physik spricht, gilt für einen Übergang jedweder Art das gleichzeitige Berühren von zwei Seiten. Das Nomen „Übergang“2 weist zudem zahlreiche Bedeutungsebenen bzw. Verwendungsmöglichkeiten auf: Da ist zum einen das Verbindungsstück zwischen zwei getrennten Elementen, das wären Flussübergänge, Bergübergänge, sogenannte Pässe, aber auch Grenzübertrittsstellen. Zum anderen können der Wechsel einer Gangart oder der Wechsel innerhalb eines Musikstücks als Übergang bezeichnet werden. Es gibt zahlreiche Synonyme: Veränderung, Wandlung, Transition, Zwischenspiel, Überführung, Brücke. Nun stellt sich die Frage, warum gerade Übergänge? Natürlich ist es Aufgabe der Literaturwissenschaft, Grenzlinien zwischen verschiedene Epochen, zwischen Textsorten oder Erzählweisen, manchmal sogar zwischen Autorinnen und Autoren zu ziehen und so Ordnungen anzubieten. Gerade diese Ordnungen müssen sich permanent die Frage nach den Zwischenstücken, nach den Übergängen gefallen lassen, um glaubwürdig zu bleiben. Mit einem Fuß an einem Ufer und dem anderen am anderen Ufer verliert sich der Kontakt zu beiden Welten nicht so leicht. Themen und Textsorten, Leserschaften und Lebensentwürfe, Erzählweisen und Erkenntnisse bleiben verbunden.

Wo und wie sich Übergänge manifestieren, soll im Folgenden exemplarisch an Barbara Frischmuths Werk aufgezeigt werden. Die Autorin schreibt für Kinder und für Erwachsene, ihre Texte sind in mehrere Sprachen übersetzt und international bekannt, zuletzt erscheint 2019 Verschüttete Milch3. In diesem Beitrag soll entlang des jüngsten Romans der Schwerpunkt auf erzählten generationalen Übergängen, auf dem Übergang von Kinder- und Jugendliteratur zur Erwachsenenliteratur, auf dem Changieren zwischen phantastischer und realistischer Literatur und auf sprachlichen Übergängen liegen, andere Übergänge werden hingegen nur gestreift. Das liegt zum einen daran, dass diese bereits gut beforscht sind (Wachen und Träumen, religiöse oder interkulturelle Übergänge), zum anderen daran, dass sie – obwohl interessant – im Zusammenhang mit dem Ausgangstext Verschüttete Milch nicht zentral erscheinen (Der Übergang von Natur zur Kultur oder mediale Übergänge).

Vorausgeschicktes zur Autorin, zu Werk und Forschung

Die Biografie Barbara Frischmuths4 soll als Vorbemerkung zur besseren Orientierung vorangestellt werden. 1941 in Altaussee geboren, studierte sie in Graz Türkisch, Englisch und später Ungarisch auf Dolmetsch. Ein Studienaufenthalt führte sie nach Erzurum in der Türkei. Wieder in Österreich wechselt sie 1964 Studienort und Studium und beginnt in Wien Turkulogie, Iranistik und Islamkunde zu studieren, bricht aber das Studium ab, um sich dem Schreiben zu widmen. 1961 las sie erstmals im Forum Stadtpark in Graz und war Gründungsmitglied der Grazer Autoren Vereinigung. Mit dem Roman Die Klosterschule gelang ihr 1968 der Durchbruch. Der Pluderich (1969) oder Philomena Mückenschnabel (1970) waren erste kinder- und jugendliterarische Veröffentlichungen. Später folgten auch Kinder- und Jugendromane wie Ida und Ob (1973), gemeinsam mit Jutta Treiber Ida, Bine und die Pferde (1991) Sommersee (1991) oder Donna und Dario (1997). Zu ihren bekanntesten allgemeinliterarischen Büchern zählen die Sternwieser-Trilogie (Die Mystifikation der Sophie Silber (1976); Amy oder die Metamorphose (1978); Kai oder die Liebe zu den Modellen (1979)) und die Demeter-Trilogie (Herrin der Tiere (1986); Über die Verhältnisse (1987); Einander Kind (1990)). Einige Texte schweben zwischen Kinder- und Jugend- und Erwachsenenliteratur, man denke nur an Die Ferienfamilie (1981) oder Machtnix oder der Lauf, den die Welt nahm (1993). Viele Leserinnen und Leser kennen die Gartenbücher der Autorin: Fingerhut und Feenhandschuh. Ein literarisches Gartentagebuch (1999) oder Der unwiderstehliche Garten. Eine Beziehungsgeschichte (2015). Andere Produkte des langen künstlerischen Schaffens seien nur erwähnt wie die Theaterstücke und Übersetzungen, die Hörspiele und Libretti, die Poetikvorlesungen und Essays. Für ihr Schreiben wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. 1970 mit dem Staatspreis für Literatur, 1972 mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis, später auch mit dem Anton-Wildgans-Preis, dem Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln und 2013 mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Barbara Frischmuth lässt sich in grobe Themenkomplexe gliedern, allerdings überschneiden sich diese in den einzelnen Aufsätzen und das angegebene Jahrzehnt zeigt eher den Beginn der Beschäftigung mit einer Thematik an, die später noch weiter fortgeführt wird. Während in den 1970ern der Internatsroman5, das Sprachspiel und die Grazer Gruppe thematisiert werden, entdeckt in den 1980er Jahren eine feministische Literaturwissenschaft6 Frischmuths Schreiben für sich. In den 1990ern interessieren der Traum7 und der Mythos – hier vor allem im Zusammenhang mit der Demetertrilogie und der Poetikvorlesung Traum der Literatur – Literatur des Traums und der Übergang vom Orient zum Okzident8. Verstärkt kommen zur Jahrtausendwende und danach der interkulturelle Aspekt der Texte und die Religion9 dazu. Die Beschäftigung mit Religion gipfelt in der Poetikvorlesung Zeit – Gott – Schreiben an der Universität Wien im Juni 2018.10 Außerdem wird Frischmuths Gartenbüchern Beachtung geschenkt und der Übergang Kultur und Natur sowie Pflanzen und Tiere gewinnt an Bedeutung.11 Das heißt keinesfalls, dass all diese Aspekte nicht von Anfang an in Frischmuths Texten zu finden gewesen wären, vielmehr geben die Themen Aufschluss über die Gesellschaft und zeigen, wie sich Interessen und Fragestellungen verschieben. Kindheit und Identitätsfindung spielen von Beginn an eine gewichtige Rolle. Werner M. Bauer schreibt darüber, dass Frischmuth „[ü]ber das Ende der zivilisatorischen Welt und die Notwendigkeit des Erstellens von Utopien und über den Zusammenhang zwischen der mikrokosmischen Welt der Kinder und der Welt der Erwachsenen“12 nachsinnt. Umso verwunderlicher erscheint, dass im Verhältnis zu anderen Bereichen, der Kinder- und Jugendliteratur der Autorin weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird.13

Transition zwischen den Lebensabschnitten

Jüngstes Beispiel für die Identitätsfindung im Zusammenhang mit der Kindheit ist Verschüttete Milch. 2019 im Aufbau-Verlag erschienen, ist der Roman eng mit Einander Kind und Woher wir kommen verbunden.14 Verschüttete Milch beginnt im Dorf im Gebirge – ein Verweis auf Hugo von Hofmannsthals frühe Erzählung Das Dorf im Gebirge (1896) – unschwer ist Altaussee zu erkennen. Die Protagonistin Juliane erinnert sich mit der Hilfe von Fotos an ihre Kindheit und Jugend in diesem Dorf. Der Roman besteht aus drei Teilen, Die Kleine, Juli und Juliane. Vom Kleinkind zum Schulkind, vom Kind zur Jugendlichen und von der Jugendlichen zur Erwachsenen folgen Leserinnen und Leser einer heterodiegetischen Erzählerfigur durch den dreigeteilten Text. Der Übergang vom namenlosen Kind, der Kleinen, zur Juli, fällt mit dem Übergang vom Kleinkind zum Schulkind zusammen. Er erfolgt abrupt. Ein letztes Mal ist in der ersten Zeile des zweiten Teiles das Mädchen die Kleine, dann nennt man sie beim Namen.

Man hatte der Kleinen seit einem Jahr so viel von der Schule vorgeredet, dass sie sogar die Tage zu zählen begann. […] Sie war von nun an Juli, und Juli wusste genau, wo das Schulhaus stand.15

Es ist, als hätte sie diesen Namen erst mit der Selbstständigkeit erhalten, die ihr der Schulweg und der Schulbesuch bescheren. Das lesende Volksschulkind Juli entwickelt sich nur langsam zur Juliane. Der Übergang zur jungen Erwachsenen ist nicht zuletzt ein Ortswechsel, ein Schritt hinaus aus der Familie, ein Schritt hinaus aus dem Dorf im Gebirge. Zu Juliane wird Juli z. B., wenn sie mit dem jüdischen Juristen und Gast Dr. Abendrot Englisch spricht und sich mit ihm über den Dalai Lama austauscht. Als die Mutter das Internatsgeld nicht bezahlt und das Zeugnis von der Schule einbehalten wird, ist Juli Juliane und viel später als erinnernde Frau, deren Erzählen von Anfang an als unzuverlässiges, als unzuverlässige Erinnerung ausgewiesen wird, ist sie ebenfalls Juliane. Der Verweis auf die Göttin Mnemosyne an dieser Stelle spielt auf ebendiese Unzuverlässigkeit an.16 Isolierte Bilder tauchen vor den Augen der Erzählerin auf, manchmal in Form von Fotos, manchmal verfälscht durch eine Sonnenbrille.

Auch in anderen Texten nutzt Frischmuth die Energie und die Spannung, die diesen Lebensübergängen inhärent ist. Dabei spielt es weniger eine Rolle, ob sich die Texte an erwachsene oder kindliche Leserinnen und Leser richten, wie man bei Kai und die Liebe zu den Modellen (1979), Die Ferienfamilie (1981) und Sommersee (1991) sieht.

Übergang von Kinder- und Jugend- zu Erwachsenenliteratur

Wie definiert sich nun Kinder- und Jugendliteratur und wo lässt sich ein Übergang zur Allgemeinliteratur festmachen? Zunächst ist Verschüttete Milch eine Kindheitsgeschichte, eine Erinnerung, wie schon in den ersten Seiten klar wird: Die längst erwachsene Juliane kramt in Kartons mit Familienfotos. Auch was die Länge, den Aufbau des Werkes betrifft sowie den Reichtum an Handlungssträngen und Bezügen, rückt der Roman von der Kinder- und Jugendliteratur ab. Auf der anderen Seite gibt es gute Argumente für Kinder- und vor allem Jugendliteratur. Einen Gutteil des Coming-of-age-Romans – die Kinder- und Jugendliteraturforschung verwendet parallel dazu auch den Begriff „Adoleszenzroman“ – in Verschüttete Milch bestreitet die kindliche und später jugendliche Protagonistin. Die Erzählerin tritt nahe hinter dieses Kind, das Hänschen klein und „In die weite Welt hinein“ vor sich hin summt und fast in den See fällt, ohne schon schwimmen zu können. Isoliert würde diese Episode wohl zur Kinderliteratur taugen.

Die amoralische Kinderklapper als Crossover-Literatur?

An einem konkreten Beispiel soll die Diskussion um die Begrifflichkeit Kinder- und Jugendliteratur und Allgemeinliteratur gezeigt werden und mit Absicht wurde dabei ein Text ausgewählt, der nicht im engeren Sinn phantastischer Literatur zuzurechnen ist. Die amoralische Kinderklapper, 1969 im Suhrkamp-Verlag erschienen, wird meistens in der Literaturgeschichtsschreibung zur Kinder- und Jugendliteratur gezählt.17 Anders bezieht Heinz F. Schafroth den Blick des Erwachsenen mit ein: „Nur unsere [die der Erwachsenen] eigenen Vorstellungen von Kinderwelt werden demaskiert und berichtigt, die literarischen und die nicht-literarischen.“18 Peter Bichsel19 und Barbara Frischmuth selbst zählen das Buch nicht zu ihren Texten für Kinder oder Jugendliche. Sie habe sich „mit Mitteln der modernen Prosa mit Kindersprache auseinandergesetzt“.20 Wie sich andere Rezensionen und Aufsätze verhalten, hat Eva Brauhammer in ihrer Diplomarbeit festgestellt.21 Warum kommt es zu diesen unterschiedlichen Auffassungen? Was braucht der Text, um als Kinder- bzw. Jugendliteratur zu gelten?

Zum einen sind der Titel und das Motto verführerisch, die auf die Moralische Kinderklapper (1788) von Johann Karl August Musäus rekurrieren. Dann finden sich vielfältige intertextuelle Verweise, wie die Namen der Kinder oder ganze Textpassagen, die an kinder- und jungendliterarische Vorbilder angelehnt sind.22 Ein genauer Blick auf den Text zeigt, wie eng die Textkonstruktion mit den ausgewiesenen Texten für Erwachsene korrespondiert. Das erste Kapitel trägt den Titel Wie die Rede auf den Tod kommt und darin klären sich die Positionen schnell. Das Kindermädchen Annemarie spricht in Wir-Form zu den Kindern und bietet eine litaneiartige Absichtserklärung, bietet zählen statt erzählen an. Das „Wir wollen“ wird von den Kindern aufgegriffen und sofort in eine eigene Welt übersetzt. „Nein, das wollen wir nicht, sagen die Kinder, fallen um und beißen ins Gras.“23 Redewendungen werden von den Kindern gleich in die Tat umgesetzt und entlarven Sprachformen und -normen der Erwachsenenwelt. Überhaupt benutzt Frischmuth viel Figurenrede in dem Text und verzichtet darüber auf eine privilegierte Erzählerrede. Identifikationsfiguren finden sich bei den Kindern und den Erwachsenen, letzteren ergeht es allerdings schlecht mit den selbsttätigen und auf sich bezogenen Kindern. Diese leben ihre animalische Seite, das Töten von Tieren, kannibalische Phantasien, Ausgrenzung und Verleumdung fern der Erwachsenenwelt aus, welche die Kinder für die verweigerte Teilhabe bestraft.24 Dementsprechend würden Leserinnen und Leser die Darstellung der Hilflosigkeit der Erwachsenen gegenüber der souverän bespielten Welt der Kinder wohl eher in der Allgemeinliteratur erwarten. Das mag vielleicht der Grund sein, warum Ernst Seibert den Text als Antikinderliteratur25 bezeichnet. Allerdings könnte man weiter gehen und von Crossover-Literatur sprechen. Die Mischung aus Erzählung, Roman, Gedicht, Kurzgeschichte, Parabel usw. bestimmt die Amoralische Kinderklapper. Die Genrehybridität wird als Merkmal einer Crossover-Literatur diskutiert, da durch sie die unterschiedlichsten Leserinnen und Leser in der Rezeption erreicht werden.26 Heidi Lexe beschreibt dieses Phänomen, das sich bis in die Forschung fortpflanzt, für den Abenteuerroman.27 Ein weiteres Merkmal einer Crossover-Literatur wären intertextuelle Markierungen, wie sie von Bettina Kümmerling-Meibauer28 aufgezeigt wurden, und über Namen (Mowglie29) und Handlungsweisen diffundieren literarische Werke durch Frischmuths Text. Die sprachliche und somit die historische Komponente ist ebenfalls von Bedeutung. Es darf nicht ausgeblendet werden, dass der Text im Sog des Forum Stadtpark erscheint und experimentelle Schreibweisen eine Auflehnung gegen den damals herrschenden Literaturbetrieb bedeuten. Peter Handke, der wie Barbara Frischmuth zur Grazer Gruppe zählt, schreibt in seinem 1967 erschienenen Essay Die Literatur ist romantisch:

Die Literatur macht alles Wirkliche, auch das Engagement, zu Stil. Alle Wörter macht sie unbrauchbar und verdirbt sie, mehr oder weniger. Sie überspielt alles; Wörter, die als Handeln gemeint waren, werden zu Spiel: sie macht die Wirklichkeit, die sprachliche, die sie zitiert, und die außersprachliche, die sie benennt zu Spiel. Die Literatur ist unwirklich, unrealistisch.30

Aus diesem Spiel, das auf der Verfremdung der Wirklichkeit beruht, entwickelt Handke Stücke wie Kaspar (1968) und Prosa wie Wunschloses Unglück (1972). In einem vergleichbaren Verfahren analysiert Frischmuth in der Amoralischen Kinderklapper die Sprache, womit Fiktion vermittelt wird. Diese Sprachkritik und die Lust an der Sprachkritik wird heute selbstverständlich in der Kinderliteratur betrieben, in den späten 1960er und in den 1970er Jahren überraschten die kinder- und jugendliterarischen Werke einer Friederike Mayröcker, eines Ernst Jandls, eines H.C. Artmanns, einer Elfriede Jelinek oder eines Thomas Bernhards.

Verschüttete Milch in der Klosterschule

Das Arbeiten an der Sprache und der Form literarischer Texte geht mit einer Demokratisierung der Literatur einher, und dazu war es in den 1970er und den 1980er Jahren nötig zu provozieren. Am deutlichsten zeigt sich die erzählerische und sprachliche Sprengkraft bei Frischmuth in einem anderen Comming-of-Age Roman: Die Klosterschule (1978). Die Erzählstrategien des Internatsromans mit all ihren Wiederholungen, den jedes Gespräch und jede Erzählung ersetzenden Floskeln und der Härte, die mit jedem Wort und jeder Silbe auf Leserin und Leser einprasselt, wurden schon vielfach besprochen.31

Versöhnlicher wirken die Worte zum Internat und der Funktion der erwachsenen Erzieher im Roman Verschüttete Milch, es scheint, als hätten sich die Fragen zum Leben verschoben. Das strenge Korsett verblasst etwas und die Möglichkeiten einer derartigen Ausbildung tauchen in der Erinnerung auf. Wenn auch die kulturelle Fremde der Protagonistin nicht aufgehoben ist, kann sie sich damit abfinden.32

Das Internat war wie ein Hemd, das Juli an- und ausziehen konnte. Ein straffes Hemd, das ihre Bewegungsfreiheit einschränkte, solange sie es trug. […] Es war wichtiger, den Erwartungen, die das Internat in einen setzte, zu entsprechen, als sich mit eigenen Vorstellungen hervorzutun. Dennoch witterte das Internat Begabungen und versuchte, diese auch zu fördern, solange sie das Regelwerk nicht sprengten.33

Die Macht ist in einer Klosterschule sowohl im 1976 als auch im 2019 erschienen Text auf den Körper der Schülerinnen und Dinge, die diese Schülerinnen berühren, ausgerichtet. Nach Michel Foucault wird diese Macht dahingehend eingesetzt, zu „zwingen, beugen, brechen, zerstören“.34 Diese schlägt den Leserinnen und Lesern in Die Klosterschule förmlich ins Gesicht. Thomas Rothschild spricht von einer „Sprachfolter“.35 Allerdings „affirmiert [er] dabei keineswegs die vorherrschenden Machtstrukturen, sondern entlarvt sie in subversiver Weise, indem er ihre performative Machart offenlegt“.36 Verschüttete Milch lässt diese Machtentladung gegenüber dem Individuum neben der Förderung der „Begabung“ stehen.

Bilderbücher, eigentlich für Erwachsene?

Dezidiert als Kinderliteratur verfasst sind die Bilderbücher Der Pluderich (1969), Der Polsterer (1970), Gutenachtgeschichte für Maria Carolina (1994) oder Vom Mädchen, das übers Wasser ging (1996). Wie sieht es mit Grizzly Dickbauch und Frau Nuffl oder Alice im Wunderland aus? Grizzly Dickbauch und Frau Nuffl wird 1975 mit Linolschnitten von Alex Hertenstein von der Pfaffenweiler Presse in einer auf 200 Exemplare limitierten und handsignierten Auflage vorgelegt.37 Zwei kindliche Figuren, deren Namen an Spielzeug erinnern, begegnen einander in für Kleinkinder alltäglichen Situationen. Ausstattung und erzählerische Distanz zu den kindlichen Figuren – sowohl in Erzähltempus als auch in der Erzählweise – deuten eher auf eine Literatur hin, die auf ein erwachsenes Leserpublikum abzielt.

Alice im Wunderland wird meist als typische Kinder- und Jugendliteratur wahrgenommen, aber erfüllt die Version Frischmuths diese Erwartung? Die Autorin bekommt – wie sie im Gespräch am Literaturtag sagte – vom Verlag das Angebot, die Bilder von Jassen Ghiuselev mit einem Text zu versehen. In Sepiatönen gehaltene Wimmelbilder mit verschobenen Perspektiven bilden die Grundlage. Die Zeilen und Wörteranzahl sind vorgeschrieben. Das ist ein enges Korsett, will man dem Original von Lewis Carroll Alice’s adventures in Wonderland gerecht werden. Wie schwer dieses Unterfangen wirklich war, schlägt sich an den zum Teil enttäuschten Äußerungen in den Rezensionen nieder.38 Der Text sei ohne Kenntnis der Geschichte nicht zu verstehen und für Kinder ungeeignet, außerdem werde die Ansprache des impliziten Lesers zu oft bemüht, heißt es. Andererseits zeigt Alice im Wunderland zwei wichtige Aspekte auf, die einen Schlüssel zu Frischmuths Werk bieten. Das ist zum einen die Sprachmalerei: Da „hurtelt“39 das Kaninchen durch die Welt und der Satz über die Raupe ist fast so lang wie die Raupe selbst: „Die Raupe kriecht vom Pilz herunter, und bevor sie verschwindet, erklärt sie Alice, dass die eine Seite des Pilzes sie größer und die andere sie kleiner machen kann.“40 Zum anderen ist Alice einer der Texte, der das Gesamtwerk von Frischmuth prägt wie kaum ein zweiter. Phantastische Wesen und Welten haben es der Autorin angetan. Auch in Verschüttete Milch verweist Frischmuth auf Carrolls Werk:

Als sie das Foto dann irgendwann doch gefunden und mittlerweile mehr Muße für Recherchen hatte, widmete sie sich auch jenen nicht gesuchten Fotos länger als gewöhnlich und saß plötzlich in einer Zeit fest, die sie wie Alice im Wunderland nicht bloß in einen selbst geweinten See von Tränen fallen, sondern auch ständig kleiner und größer werden ließ.41

Die von Frischmuth verfasste Alice ist ihre Alice, eine Alice für eine Erwachsene.

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