Kitabı oku: «Vom Träumen und Aufwachen», sayfa 6

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Die Methode

Um die inneren Bilder der Kraftquellen jedes Einzelnen bewusst, sichtbar und mit möglichst vielen Sinnen erlebbar zu machen, wähle ich methodisch das Neuro-Imaginative Gestalten (NIG®, entwickelt von Eva Madelung, von mir weiterentwickelt). Das NIG ermöglicht kreative Aufstellungen sowohl im systemisch-konstruktivistischen als auch im systemisch-phänomenologischen Bereich und lässt sich im Einzelsetting und in Gruppen einsetzen.

In der NIG-Aufstellung erstellt der Klient oder Teilnehmer16 mit seiner nichtdominanten Hand rasche Skizzen, die auf dem Boden als Bodenanker ausgelegt werden. Der Klient/Teilnehmer betritt die einzelnen Skizzen, um ihre Wahrnehmung im ganzheitlichen Erleben zu vertiefen.

Eine neutrale Metaposition, die außerhalb des Aufstellungsgeschehens etabliert wird, macht einen Perspektivenwechsel und eine kognitive Durchdringung des Erlebten möglich.

In dem NIG-Format »Identitätsstiftende Ressourcen« leite ich die einzelnen Schritte des Prozesses für alle Teilnehmer gleichzeitig an, d. h. jeder einzelne Teilnehmer durchläuft innerhalb der Gesamtgruppe seinen eigenen Prozess.

Im Anschluss an diese NIG-Aufstellung tauschen die Teilnehmer ihre Erfahrungen in der Partnergruppe beziehungsweise im Plenum aus.

Das NIG®-Format

1)Partnerarbeit

– Welche Ressourcen habe ich in der Familie, dem Freundeskreis, am Arbeitsplatz, mit Gleichgesinnten, im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder politischen System gefunden oder im Laufe der Zeit entwickelt?

– Ressource 1: in meinen Lebensjahren vor dem Mauerfall

– Ressource 2: in meinen Lebensjahren nach dem Mauerfall

– …

2)Einzelarbeit: Erstellen von 2 Skizzen mit der nichtdominanten Hand

[3)–7): Einzelarbeit im Gruppensetting, angeleitet von der Referentin]

3)Individuelle Platzsuche im Raum, individuelles Auslegen der Skizzen auf dem Boden, Bestimmung von Abstand und Ausrichtung der Blätter

4)Betreten der eigenen Skizzen, Wahrnehmen der Wirkung

– Wie nehme ich Stand, Haltung, Atmung, Blickrichtung und Gefühle wahr?

– Wie haben diese Ressourcen mich auf meinem Weg weitergeführt, sich positiv auf meine heutige Identität, mein heutiges Leben ausgewirkt?

5)Gegebenenfalls Veränderung oder Neuerstellung einer Skizze, sollte sich eine Skizze als nicht ausreichend starke Kraftquelle erweisen

6)Perspektivenwechsel durch Hinzunahme einer neutralen Metaposition

– Auslegen eines leeren Blattes in ausreichender Entfernung von den Ressourcenskizzen

7)Betreten der Metaposition

– Wie ist der Gesamteindruck beim Blick auf die Ressourcen?

– Wie ist das Verhältnis der Ressourcen zueinander?

– Wirken die Ressourcen als Polaritäten oder als Ergänzungen?

– Wie sind die Auswirkungen dieser Ressourcen auf meine heutige Identität?

– Gibt es eine Empfehlung oder Einsicht der Metaposition?

8)Partnergruppe und Plenum: Teilen der Erfahrungen

Gefundene Kraftquellen – in meinem Erleben des Workshops

Der Raum, der zum großen Ensemble des Naumburger Doms gehört, ist gefüllt mit sehr vielen Menschen – wie erwartet in all ihrer Vielfalt: Die junge, die mittlere und die ältere Generation, sie kommen aus dem Osten oder Westen Deutschlands, als Pendler zwischen den Welten, als Bewohner des seit 1990 bestehenden einen Deutschland oder auch aus dem deutschsprachigen Ausland. Jede und jeder von ihnen bringt seine ganz eigenen biografischen und transgenerationalen Erfahrungen, Prägungen und auch Erwartungen mit. Werde ich für diese Vielfalt den richtigen Ton treffen, wird mein Wunsch nach Perspektivenwechsel und Begegnung seinen Weg finden?

In einer kurzen Begrüßung gebe ich unseren Unterschieden in Herkunft, Alter und Erfahrungen Raum und lade dazu ein, in diesem Workshop auch unseren Gemeinsamkeiten Raum zu geben, nämlich uns zusammen auf die Suche zu machen nach wichtigen Kraftquellen, die unser Leben vor und nach dem Mauerfall beeinflusst haben und möglicherweise bis heute wirken. Und ich spreche darüber, ob es möglich sein wird, diese gefundenen Kraftquellen dann auch in ihrer Unterschiedlichkeit würdigen zu können.

In Partnergruppen tauchen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen zunächst vorsichtig, dann immer vertrauensvoller in den Austausch ihrer jeweiligen »Kraftquellenwelten« ein. Deutlich sicht- und spürbar breitet sich auf den Gesichtern eine leise Freude aus über diese Möglichkeit, die eigene Vergangenheit unter dem Aspekt »Stärkende Erfahrungen« zu betrachten, dabei einen interessierten und wohlwollenden Zuhörer zu haben und dem Gegenüber selber ein solcher Zuhörer zu sein. Die zugewandte Körperhaltung der sich ja meist fremden Teilnehmer und die tastenden bis angeregten Unterhaltungen zeigen mir, dass dieser Austausch es möglich macht, den eigenen und den Erfahrungen des anderen mit Offenheit zu begegnen.

Im nächsten Schritt lässt sich jeder Teilnehmer auf die für die meisten neue und ungewohnte Erfahrung ein: die beiden gefundenen Ressourcen mit der nichtdominanten Hand auf jeweils einem Blatt dazustellen. Ich spreche über die Gleich-Wertigkeit jeder Skizze, die ja Ausdruck einer tiefen Erfahrung ist, es geht hier nicht um einen Wettbewerb von schönen Bildern.

Im Anschluss gelingt es dann trotz knappen Raums, dass jeder Teilnehmer einen Platz auf dem Boden findet, um seine beiden Ressourcenskizzen nach eigenen Vorstellungen auszulegen. Das individuelle Betreten der eigenen Skizzen – für die ganze Gruppe angeleitet von mir – erlaubt dann das Erleben der Qualität der jeweiligen Kraftquelle mit dem ganzen Körper.

Die ruhige Konzentration der Teilnehmer zeigt mir, dass die multisensorische Wahrnehmung der eigenen Kraftquelle als ganzheitliche, erfüllende Erfahrung erlebt wird. Es entsteht im Seminarraum diese spezifische Atmosphäre, die sich einstellt, wenn es uns einmal mehr und immer wieder neu gelingt, mit den manchmal vergessenen oder nicht genutzten Schätzen unseres Lebens in Kontakt zu kommen. Es wird ein staunendes Innehalten spürbar, das auch mich als Leiterin des Prozesses mit einschließt.

Um das körperlich und emotional Erlebte auch kognitiv einordnen und reflektieren zu können, betreten die Teilnehmer die Metaposition, die sie als leeres Blatt in ausreichender Entfernung von den Skizzen auf dem Boden auslegen. Obwohl sich nun durch Platzmangel einige Blätter der Teilnehmer recht nah kommen, gelingt der gewünschte »neutrale Blick« auf die eigenen Skizzen. Als Referentin leite ich den Prozess mit Fragen an die Metaposition. Ich frage nach dem Gesamteindruck der Skizzen, nach dem Verhältnis der Ressourcen zueinander und nach ihrer Wirkung auf die heutige Identität der Person, die die Skizzen erstellt hat. Ich frage auch, ob die Metaposition dieser Person eine Einsicht oder Empfehlung mit auf den Weg geben kann.

Der sich anschließende rege Austausch in der Partnergruppe und das abschließende Teilen in der Gruppe bzw. im Plenum lassen uns teilhaben an den äußerst vielfältigen Erfahrungen, die die Teilnehmer entsprechend ihrem Hintergrund und ihrer Wirklichkeit mit dem NIG-Format gemacht haben. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass die Teilnehmer in den Mittelpunkt ihres Erfahrungsberichtes nicht das Unterschiedliche oder vielleicht sogar Trennendes stellen. Vielmehr richten sie ihren Fokus auf Verständnis, Anerkennung und Wertschätzung der gefundenen Kraftquellen – und dies gilt sowohl für die eigenen als auch für die der anderen.

Mich erfüllt das mit großer Freude, denn ich weiß aus persönlicher und fachlicher Erfahrung: Gelingt es uns, unsere eigenen Stärken und Kraftquellen und die der anderen zu würdigen, verbinden wir uns auch mit unserer eigenen Würde und dem Respekt vor der Würde des anderen.

Im Grundgesetz der BRD heißt es in Artikel 1: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Auf dem nicht immer leichten Weg zur Umsetzung dieses Artikels in unserem Leben durften wir in diesem Workshop einen kleinen Schritt zusammen gehen: einen gemeinsamen Schritt. Dafür bin ich dankbar.

Gefundene Kraftquellen – im Erleben von Teilnehmern und Teilnehmerinnen

Nach dem Workshop beschreibt ein Therapeut und Coach aus Hamburg seine Erfahrungen folgendermaßen:

»Zwei Elemente sind für mich Aha-Erlebnisse aus dem Workshop von Barbara Innecken.

Geboren und aufgewachsen in Hessen, sind die von mir visualisierten und erlebten Ressourcen mehr mit meiner Entwicklungs- und Lernbiografie, d. h. mit meinem Lebensalter, verbunden als mit dem Ereignis ›Mauerfall‹.

Die zweite Erfahrung ist für mich in dieser Form neu und sehr berührend und bereichernd. Im Austausch mit anderen Teilnehmern zu erfahren, wie sich – am Beispiel von identitätsstiftenden Ressourcen – der Biografiebruch der im Osten geborenen und aufgewachsenen Menschen anfühlt. Der Workshop öffnet genau dafür einen besonderen Raum des tiefen Austausches zwischen Ost und West, der sich für mich dann auch in den Pausen danach fortsetzt.«

Eine Schulpsychologin aus Jena berichtet über ihre Erfahrungen:

»Ich erlebe den Workshop als einen Raum der Begegnung.

Barbara begrüßt die heterogene Gruppe in einer behutsamen Distanz, die Wertschätzung für jeden einzelnen Teilnehmer ausdrückt, egal, wo er herkommt und wie alt er sein mag.

Im Laufe des Workshops entwickelt sich durch die Beschäftigung mit den eigenen Ressourcen in Partnergesprächen und das Gestalten von Bildern Nähe, Lebendigkeit und Intimität. Das Greifen zum Stift mit der nichtdominanten Hand erlebe ich als eine von vielen Musterunterbrechungen in diesem Rahmen.«

Die Sichtweise einer Schweizer Teilnehmerin ist für mich eine besondere Erfahrung: Durch sie kommt eine wichtige neue Dimension für mich hinzu, der Blick von außen, aus einer anderen Kultur, einer anderen Wirklichkeit, nicht nur aus der Perspektive von West- oder Ostdeutschland. Ich komme dadurch raus aus der »Badewanne des Selbstmitleids« und aus dem Vergleich des (wenn man so will) größeren Leides zwischen Ost und West:

»Die ressourcenorientierte Ausrichtung des Workshops empfinde ich als eine wohltuende Alternative zum leidig bekannten Problemblick. Die Anerkennung des Guten fehlt in meiner Wahrnehmung im Osten bis heute.

Die Frage nach den identitätsstiftenden Ressourcen vor und nach dem Mauerbau fällt bei mir wie ein Samen auf fruchtbaren Boden, und ich bin überzeugt, dass wir mehr davon brauchen.«

Gefundene Kraftquellen – auf der Tagung

Mein Workshop ist eingebettet in das Gesamtgeschehen der Tagung »30 Jahre Mauerfall. Die Freiheit, die ich meine … Zwischen Identität und Wandel – auf Spurensuche«.

Es sind berührende und bewegende Tage, die die Ideengeberinnen und Organisatorinnen, die Veranstalter, die zahlreichen Helfer, die Besucher und die Referenten miteinander erleben dürfen. Der gute Geist der Tagung zeigt sich überall, angefangen mit der sorgfältigen Wahl des Ortes (Dom von Naumburg!) und des Datums – ja, die Tagung findet tatsächlich auf den Tag genau 30 Jahre nach dem Mauerfall statt! In allen Vorträgen, Gesprächsforen, Workshops und in dem künstlerischen Rahmen zeigt sich der gute Geist in Impulsen zu Brückenbau und Begegnung, zu respektvollem Dialog, zur Kultur des Zuhörens und der Annäherung zwischen Ost und West, dem »Schauen durch die Augen des anderen«, wie wir im NIG sagen. Gelebt wird dieser gute Geist auch in der Tatsache, dass Berufsverbände, die normalerweise ihre jeweilig eigenen Interessen und Profile vertreten, auf dieser Tagung gemeinsam als Veranstalter und Förderer auftreten.

Diese Tagung ist für mich ein positives Wandlungsbeispiel für die von Joachim Gauck angesprochenen langsamen »Prägungen der Seele und Wandlungen der Mentalität« und gibt mir Hoffnung, wenn wir nun im Jahr 2020 ein weiteres Jubiläum feiern dürfen: 30 Jahre deutsche Einheit.

Dank

Mein herzlicher Dank geht an die »geistigen Mütter« und Organisatorinnen der Tagung in Naumburg: Beate Jaquet, Madlen Tamm, Christine Ziepert.

Ebenfalls herzlich bedanken möchte ich mich bei meinen beiden Kollegen Kathrin Mann und Wolf Maurer, die uns an ihren Erfahrungen in meinem Workshop haben teilnehmen lassen.

Literatur

de Shazer, S. (2002): Der Dreh. Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie. Heidelberg (Carl-Auer), 14. Aufl. 2019.

»Gauck freut sich über ›Fridays for Future‹«. Süddeutsche Zeitung, 29.9.2019.

Hüther, G. (2018): Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft. München (Knaus).

van Kampenhout, D. (2017): Die Tränen der Ahnen. Opfer und Täter in der kollektiven Seele. Heidelberg (Carl-Auer), 3. Aufl. 2018.

Madelung, E. u. B. lnnecken (2003): Im Bilde sein. Vom kreativen Umgang mit Aufstellungen in Einzeltherapie, Beratung, Gruppen und Selbsthilfe. Heidelberg (Carl-Auer), 4. Aufl. 2015.

Marks, S. (2019): Scham – die tabuisierte Emotion. Ostfildern (Patmos).

Proust, M. (2017): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Berlin (Suhrkamp).

14Das systemische Institut Naumburg (SINN) bietet eine breite Palette systemischer Fortbildungen und Seminare an.

15Das Neuro-Imaginative Gestalten (NIG®) ist eine kreative Aufstellungsmethode, die sich durch einen Brückenbau zwischen systemisch-konstruktivistischen und systemischphänomenologischen Vorgehensweisen auszeichnet.

16In dieser und der folgenden Passage bis zum Ende des Beitrags wird der besseren Lesbarkeit halber meist nur das männliche grammatische Geschlecht verwendet; in diesen Fällen sind das weibliche grammatische Geschlecht sowie alle anderen denkbaren grammatischen Geschlechter aber immer mit eingeschlossen.

Scham – die tabuisierte Emotion17

Stephan Marks

Vor genau 30 Jahren (also 1989) saß ich zufällig mit vielen anderen in Berlin auf der Mauer und habe auf sie eingehämmert. Ich kam gerade frisch aus den USA zurück und war noch im Jetlag. Ich hatte fünf Jahre in den USA gelebt und war zurück nach Deutschland gekommen mit der Idee, Wege zu finden, wie wir konstruktiv mit unserer deutschen Geschichte umgehen können. Ich hatte diese deutsche Geschichte immer als etwas Drückendes, Schweres erlebt.

Warum Hitler folgen? – Ein Forschungsprojekt

Diese Idee führte mich schließlich zu einem Forschungsprojekt, das ich 1998 in Freiburg im Breisgau gründete. Wir, zehn Forscher und Forscherinnen, führten Interviews mit Nazi-Anhängern, alten Menschen, die Hitler damals »toll« fanden. Eine Bevölkerungsgruppe, die bis heute in der Forschung fast völlig übergangen wurde. Ich wollte endlich verstehen, warum die Menschen Hitler damals folgten. Die Fachliteratur konnte mir bis dahin keine befriedigende Antwort geben.

Es gibt ja sehr viel Forschung über Adolf Hitler. Doch um zu verstehen, warum sich so viele Menschen für Hitler begeisterten, finde ich, bringt es wenig, Hitler noch detaillierter zu erforschen, sondern wir müssen, ganz einfach, die Anhänger befragen. Die Durchführung dieses Projekts stieß nicht nur auf Zustimmung. Manche Leute fanden das gar nicht so gut. Einige Kollegen im Hochschulumfeld haben den Kontakt mit mir abgebrochen: »Wenn Sie mit diesen alten Nazis reden, müssen Sie ja selber Nazi sein.«

Wir haben es trotzdem gemacht (oder: jetzt erst recht). Aber im Lauf dieser Interviews bemerkten wir plötzlich, dass wir uns schämen. Merkwürdig: Wieso schämen wir uns, wenn wir Nazi-Anhänger interviewen? Erst später habe ich es verstanden; wir interpretierten diesen Vorgang dann als Gegenübertragung. Als zum ersten Mal der Begriff »Scham« auftauchte, habe ich spontan in die Hände geklatscht, weil mir sofort klar war, dass wir jetzt endlich einen Schlüssel zum Verständnis des Nationalsozialismus gefunden hatten.

Daraufhin machte ich mich erst einmal kundig über die Scham. Ich trug die Forschung zu diesem Thema zusammen und habe dann zum ersten Mal wirklich verstanden, wie es damals möglich war, dass so viele Menschen Hitler folgten. All das habe ich zusammengefasst in dem Buch: Warum folgten sie Hitler? Die Psychologie des Nationalsozialismus (Marks 2007).

Ein zentraler Affekt

In den nächsten Monaten trat dann eine andere Frage in den Vordergrund. Wenn Scham damals so bedeutsam dafür war, Hitler »an die Macht« zu bringen: Welche Bedeutung hat sie heute, Jahrzehnte später, in der deutschen Gesellschaft? Es wurde mehr und mehr deutlich, wie viele untergründige Probleme der deutschen Gesellschaft mit einer unbewussten Schamthematik zu tun haben. Etwa unser Umgang mit Menschen ohne Arbeit. Wenn der Arbeitsplatz »abgewickelt« wird, hat das nichts mit Schuld zu tun, ist aber für Betroffene massiv beschämend, umso mehr, wenn es so gehandhabt wird wie häufig nach dem Ende der DDR. Wie gehen wir hierzulande mit alten Menschen um? Wie gehen West- und Ostdeutsche miteinander um? »Die Wessis«, »die Ossis«?

Vor allem hat mich elektrisiert, was in deutschen Schulen passiert. Seit Jahrzehnten wird geklagt, deutsche Schulen seien nicht so erfolgreich wie die in anderen Ländern.

Aus schampsychologischer Sicht ist das ganz einfach zu erklären: Auf der einen Seite werden in Deutschland die Lehrer und Lehrerinnen pauschal beschämt als faule Säcke, faule Hunde, Halbtagsjobber: von manchen Politikern, Medien und der öffentlichen Meinung. Auf der anderen Seite, obwohl Schule gewiss besser geworden ist, passiert es immer noch in jedem dritten oder vierten Klassenzimmer, dass Schüler und Schülerinnen von Lehrern und Lehrerinnen bloßgestellt oder lächerlich gemacht werden. Wie sollte Lehren und Lernen hierzulande gelingen, wenn für viele Lehrer und Lehrerinnen wie Schüler und Schülerinnen die Schule ein Ort der Entwürdigung ist?

Da ich selber sehr gelitten habe unter einem beschämenden Schulunterricht, machte ich mich auf den Weg, um das zu verändern, soweit ich das kann. Seitdem gebe ich Lehrerfortbildungen.18 Ich bekomme auch sehr viele Einladungen von anderen Berufsgruppen; ich habe seither viele Fortbildungen gegeben für Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Schuldnerberater, Polizisten, Mitarbeiter in Gefängnissen, Hebammen, Führungskräfte, Staatsanwälte, Therapeuten, Supervisoren, Mediatoren, Seelsorger, Pflegekräfte, Ehrenamtliche in der Telefonseelsorge, in der Hospizarbeit, in der Strafgefangenenarbeit und viele weitere: Menschen, die mit Menschen arbeiten.

In diesem Vortrag hier möchte ich Ihnen einige grundlegende Informationen über Scham vorstellen.

Was ist Scham?

Zunächst möchte ich Ihnen eine Metapher mit auf den Weg geben, sodass wir uns die Scham auch bildlich vorstellen können. Sie geht zurück auf Salman Rushdie. In seinem Roman Scham und Schande schreibt er:

»Stellen Sie sich Scham als eine Flüssigkeit vor, sagen wir, als ein süßes, schäumendes Getränk, das aus Automaten gezogen wird. Sie drücken den richtigen Knopf, und ein Becher plumpst unter einen pissenden Strahl der Flüssigkeit« (Rushdie 2019, S. 145).

So weit, so gut. Aber was ist, wenn zu viel Scham da ist? Was ist, wenn mehr Scham da ist, als das Gefäß aufnehmen kann? Kein Problem, schreibt Rushdie. Viele Kulturen haben Minderheiten ausgewählt, und deren Aufgabe ist es, all die Scham, die zu viel ist, die keiner will, zu der sich keiner bekennt, all diese Scham aufzuwischen, aufzusaugen und zu verkörpern. Und wir haben keine gute Meinung von »diesen Leuten«, zum Beispiel in hinduistischen Gesellschaften sind dies die sogenannten Parias, die Unberührbaren, die so sehr den »Abschaum« einer Gesellschaft verkörpern, dass nicht mal der Schatten eines Parias auf einen »richtigen« Menschen fallen darf.

In Peru, sehr eindrücklich, sind es die Leute von den Anden, die alles Böse, Schlechte in unsere »guten« Städte runterbringen – so die Bewohner der Küstenstädte. Im Nationalsozialismus waren das die Juden, die »Zigeuner«, die Osteuropäer. In dem schwäbischen Dorf, in dem ich aufwuchs, in den 50er-Jahren, gab es auch eine Familie, die galten als »Zigeuner«. Die waren der Schandfleck des Dorfes, mit denen hat keiner geredet. Diese Leute hatten drei Makel. Sie waren arm, sie waren Flüchtlinge, und sie wohnten in einem Holzhaus, während »anständige« Leute »natürlich« in einem Steinhaus lebten.

Bis heute gibt es in vielen Orten so eine Straße oder einen Stadtteil, über deren Bewohner von anderen nur verächtlich geredet wird. Wenn zum Beispiel in Freiburg im Breisgau jemand sagt, er komme aus dem Stadtteil »Weingarten«, folgt sofort eine verächtliche Reaktion.

Für viele Westdeutsche sind dies pauschal »die Ossis.« In vielen Teams beobachte ich die Einstellung: »Wir wären ein ganz tolles Team, wenn nur ›der X‹ nicht wäre.« Irgendwann geht X oder wird gegangen; und dann heißt es: »Wir wären ein super Team, wenn nur ›die Y‹ nicht wäre.«

Viele Schulklassen haben einen Schüler oder eine Schülerin in dieser Rolle. Immer ist es eine Minderheit. Und indem diese Minderheit ausgegrenzt wird, wird das Thema »Scham« sozusagen entsorgt. Das ist wie das alttestamentarische Sündenbockritual: Eine Gemeinschaft bindet symbolisch ihre Sünden einem Ziegenbock auf, dann wird der Ziegenbock in die Wüste gejagt, und damit sind die Sünden entsorgt.

Aber hier geht es um die Entsorgung von Scham, und sie ist viel elementarer, viel schmerzhafter, viel existenzieller als nur Sünde. Auf diese Weise wird Scham zu einem Nicht-Thema gemacht, zu einer tabuisierten Emotion. Sie ist eine Emotion, die wir oft nicht im Bewusstsein haben, obwohl sie so allgegenwärtig, eben in allen zwischenmenschlichen Begegnungen gegenwärtig ist.

Zum Beispiel hat Altenpflege natürlich mit Scham zu tun: Aber ich kenne Pflegeteams, da wird nicht über Scham geredet. Eine Teilnehmerin berichtete zum Beispiel: »Immer wenn ich bei Herrn X. klopfe, um ihn zu pflegen, beginnt er, die Pflegesituation zu sexualisieren. Mit dieser Erfahrung kam ich in eine Teambesprechung und musste mir dann von Kollegen und Leitung anhören: ›Damit muss man halt professionell umgehen.‹« Das heißt, die Kollegin wurde als unprofessionell beschämt, und das Thema war wieder vom Tisch. Anderes Beispiel: Sportlehrer haben natürlich jeden Tag massiv mit Scham zu tun. Doch Scham ist so gut wie kein Thema in der Sportlehrerausbildung.

Auch in der sozialwissenschaftlichen Analyse gesellschaftlicher Prozesse taucht das Thema »Scham« erstaunlich wenig auf, obwohl es so allgegenwärtig ist.

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