Kitabı oku: «Vom Träumen und Aufwachen», sayfa 7
Scham – ein Nicht-Thema?
Es hat Nachteile, wenn wir Scham zu einem Nicht-Thema machen. Einmal ist das sehr schmerzhaft für die Minderheiten, die zu Verkörperung der Scham gemacht, verachtet und ausgegrenzt werden. Aber wir alle verlieren etwas, wenn wir die Scham zu einem Nicht-Thema machen. Denn sie ist zwar schmerzhaft, hat aber auch positive Aufgaben. León Wurmser nennt Scham die Wächterin der menschlichen Würde (Wurmser 1997, S. 74). Das heißt, wenn wir die Menschenwürde wirklich verstehen möchten, ist es hilfreich, die Scham zu kennen.
»Die Würde des Menschen ist unantastbar«, steht zwar im Grundgesetz, und das ist großartig.
Aber fragt man Leute auf der Straße: »Was ist denn die Menschenwürde?« »Ja, sie ist wichtig!« Und fragt man nach, was bedeutet sie denn? Dann kommt oft nichts. Oft schauen die Menschen nach oben, weil der Begriff »Menschenwürde« für sie abstrakt ist. Und solange dieser Begriff als etwas Abstraktes erlebt wird, bleibt er folgenlos.
Mir geht es darum, den Begriff von »oben« nach »unten«, in die Praxis zu bringen, und dazu hilft uns die Scham, weil sie psychologisch für die Würde »zuständig« ist.
Nochmal kurz zurück zum Roman von Rushdie. Er schildert, wie die Schamgefühle der Eltern in die Seele eines Kindes weitergegossen werden. Er schildert eine Geburt, im Krankenhaus; der Vater blickt auf sein soeben geborenes Kind: Er blickt voller Wut und Verachtung, als er sieht, dass sein Erstgeborenes nur ein Mädchen ist, nur ein Mädchen. Daraufhin errötete das Baby. Seit dem ersten Blickkontakt schämte es sich zu viel. Es wächst heran, geistig behindert, und wird schließlich zur Mörderin.
Soweit Rushdie, immer sehr zugespitzt. Wichtige Eigenschaften der Scham sind hier schon geschildert.
Erstens, ihre Entwicklung beginnt sehr früh. Die Vorläufer der Scham beginnen, nach Leon Wurmser, mit dem ersten Blickkontakt. Das heißt, wenn wir mit Schamgefühl zu tun haben, ist dies nicht nur eines von vielen Gefühlen, sondern eins, das ganz an den Anfang, an den Kern der Existenz geht.
Zweitens ist wichtig, ob ein Mensch mit Wut und Verachtung angeschaut wird, wie in Rushdies Romanszene, oder mit Liebe und Anerkennung. Es geht also gar nicht um komplexe Kommunikationstechniken, sondern um die Qualität des Blicks. Wie schauen wir? Das kennen wir wahrscheinlich alle: Ob die Beziehung zum Beispiel mit einem Klienten oder einer Klientin gelingt, entscheidet sich oft schon mit dem ersten Blickkontakt.
Das Interessante am Blickkontakt ist, dass wir ihn ja nur bedingt »machen« können. Es geht also nicht um aufgesetzte Kundenfreundlichkeit. Meiner Frau und mir ist das neulich passiert: Wir kommen in ein Restaurant und sind die einzigen Gäste. Es ist deutlich spürbar, dass wir den Kellner stören. Endlich kommt er dann doch auf uns zu und zieht im letzten Moment noch die Mundwinkel nach oben (offenbar hat er irgendwann ein Kundenfreundlichkeitstraining absolviert) und sagt: »Ja, bitte?«, »Bitte schön!«, »Gerne«. Das hat vorne und hinten nicht gestimmt. Die ganze Haltung signalisierte: »Lassen Sie mich in Ruhe«, darüber war aufgesetzte Kundenfreundlichkeit. Darum geht es mir nicht, sondern um eine Haltung. Und eine Haltung der Menschenwürde erreichen wir, wenn wir in Kontakt sind mit der Scham. Was ich damit meine, möchte ich mit einer anderen Begebenheit illustrieren: Ein Bekannter berichtete von einem Besuch bei der Familie der Tochter. Im Laufe des Besuchs hat das Enkelkind die Oma gehauen, bis Letztere irgendwann sagte: »Tobias, hör auf, du tust mir weh!« Jetzt schämt sich der kleine Tobias und kommt zum Opa, um zu kuscheln. Da sagt der Opa: »Tobias, du brauchst dich aber nicht zu schämen.«
Hm … würden wir so mit Trauer umgehen? Wenn ein Kind trauert, weil die geliebte Schwester gestorben ist, würden wir ihm sagen: »Du musst aber nicht traurig sein«? Natürlich darf ein Kind trauern. Und genauso, denke ich, darf Tobias sich schämen. Weil die Scham so schmerzhaft ist, steckt für ihn das Entwicklungspotenzial drin: »Das tue ich nie wieder!« Wenn wir – gut gemeint – Tobias die Scham nehmen, nehmen wir ihm die Chance für moralische Entwicklung. Ich vermute, dass der Opa die Scham seines Enkels nicht ausgehalten hat. Wenn aber der Opa in Kontakt wäre mit seiner Scham, dann könnte er die Haltung vermitteln: »Tobias, ich kenne die Scham. Ich weiß, wie schmerzhaft sie ist. Von daher kann ich einfühlen, wie du dich fühlst. Willkommen, hier darfst du sein mit deiner Scham. Ich werde deine Scham nicht banalisieren. Ich nehme dich ernst mit deiner Scham. Ich werde dich aber auch nicht zusätzlich verspotten oder verhöhnen.« – Dies ist die Haltung, um die es mir geht.
Wie finden wir in der Arbeit mit Klienten eine Haltung, sodass sie spüren: »Hier darf ich sein mit meiner Scham. Hier werde ich damit ernst genommen.« So wie wir von Trauerarbeit sprechen, so spreche ich von Schamarbeit. Beides ist schmerzhaft.
Drittens weist Rushdies Roman auch auf die transgenerationale Qualität der Scham hin:
Unbewusste Schamgefühle können über viele Generationen weiterwirken. Viele Menschen fragen sich: »Warum sind die Deutschen eigentlich so, wie sie sind?« Ich bin überzeugt, um diese Frage zu beantworte, müssen wir mindestens bis zu unserem großen Trauma zurück, dem Dreißigjährigen Krieg. Wir denken, 400 Jahre seien ewig lang her. Psychologisch ist das aber gerade sozusagen um die Ecke.
Sigmund Freud hat mal geschrieben: »Das Unbewusste ist zeitlos« (Freud 1915, S. 145). Das heißt, bei unbewussten Prozessen brauchen wir ein ganz anderes Zeitkonzept …
Wer das damals überlebt hat, 30 Jahre – der war wahrlich traumatisiert. In manchen Gegenden überlebte ein Drittel der Bevölkerung oder noch weniger. Magdeburg zum Beispiel wurde fast völlig ausgelöscht. Wir wissen heute aus der Traumaforschung und Familientherapie, dass Überlebende von Folter, Vergewaltigung, auch die Täter, mit massiven Schamgefühlen zurückbleiben. Und wenn die nicht aufgearbeitet werden, wirken sie weiter und weiter. Das hat dann (natürlich in Kombination mit vielen anderen Einflüssen) zum Ersten Weltkrieg geführt, zur Weimarer Republik, zum Zweiten Weltkrieg, Holocaust und so weiter und so weiter.
Dieses unbewusste Weitergießen von Schamgefühlen, durch immer neue, fortgesetzte Beschämung, dies haben wir über Jahrhunderte praktiziert, in der Schule, im Umgang miteinander. Ich finde, es reicht! Es ist wirklich an der Zeit, damit aufzuhören und Würde in die zwischenmenschlichen Beziehungen einzuführen, in der Beratung, in der Schule, im Umgang miteinander in West und Ost u. v. a.
Universalität von Scham
Scham ist universell. Schon die im Alten Testament beschriebenen allerersten Menschen erlebten Scham. Das heißt, Scham beginnt dort, wo der Mensch beginnt. Jeder Mensch kennt die Scham (abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen, wenn etwa so etwas vorliegt, das wir einen »Gehirndefekt« nennen). Jeder Mensch kennt die Scham, was nicht bedeutet, dass wir die Schamgefühle unseres Gegenübers so ohne Weiteres erkennen.
Jeder Mensch kennt die Scham, aber sie ist individuell unterschiedlich. Meine Geschichte mit Scham ist anders als Ihre: weil wir verschiedene Familiengeschichten haben, weil wir in verschiedenen Teilen Deutschlands aufgewachsen sind usw. Aber es geht noch weiter:
Boris Cyrulnik (2011), ein französischer Neuropsychiater, schätzt, dass jedes fünfte oder sechste Kind mit einer genetischen Besonderheit geboren wird, die dazu führt (übersetzt in die Metapher, die ich hier verwende), dass sie sozusagen wie kleine Gefäße sind. Das müssen wir erst einmal akzeptieren. Es hilft nicht, einen »kleingefäßigen« Menschen jetzt noch zusätzlich zu beschämen: »Stell dich nicht so an!«, »Jetzt seien Sie mal nicht so überempfindlich!« Es hat seine guten Gründe, dass manche Menschen wie ein kleines Gefäß sind: familiengeschichtliche, gesellschaftliche, häufig auch genetische Gründe.
Dies muss jedoch kein lebenslängliches Schicksal sein. Stellen wir uns vor, ein »kleingefäßiges« Menschenkind wird geboren in eine Familie, in der die Eltern liebevoll, würdeachtend miteinander umgehen. Dann kann das Gefäß allmählich weiter werden. Aber wenn die Eltern vielleicht selber traumatisiert sind oder das Kind schlagen oder verächtlich mit ihm umgehen, dann wird das Kind gezwungen, auf seine »Kleingefäßigkeit« zurückzuschrumpfen. Und Jahre, Jahrzehnte später, wenn so ein »kleingefäßiger« Mensch zu Ihnen in Beratung oder Therapie kommt, ist es wichtig, dass Sie mit ihm so umgehen, dass das Gefäß weit werden kann. Und vielleicht erlebt ein Klient bei Ihnen zum allerersten Mal in seinem Leben, wie es ist, ein großes Gefäß sein.
Hinzu kommen Unterschiede, wofür Männer bzw. Frauen sich jeweils schämen und womit sie möglicherweise unterschiedlich umgehen; dazu gleich mehr.
Außerdem gibt es kulturspezifische Unterschiede, d. h., wenn wir mit Menschen aus anderen Kulturen, aus anderen Ländern, aus anderen Schichten (als denen, denen wir selbst angehören) arbeiten, dann ist die Scham vielleicht ganz anders angeordnet, es gibt andere Umgangsweisen, Grenzen, Begriffe. Da hilft es nicht zu sagen: »Mein Umgang mit Scham ist universell gültig.« Zum Beispiel tragen bei den Tuareg in Nordafrika traditionell Männer einen Gesichtsschleier, und wenn ein traditioneller Tuareg in der Öffentlichkeit den Schleier abnehmen muss, dann fühlt er sich so, wie wir uns fühlen würden, wenn wir plötzlich nackt herumlaufen müssten. Ebenso wenig hilfreich wäre die Einstellung: »Der west- (bzw. ost)deutsche Umgang mit Scham gilt für alle!«
Wenn wir die Schamgrenze unseres Gegenübers nicht achten, besteht die große Gefahr von Missverständnissen, Kontaktabbruch oder Schlimmerem. Weil Scham so schmerzhaft ist; sie ist eine der stärksten Emotionen überhaupt. So stark, dass wir im Zustand von massiver akuter Scham vielleicht gar nicht mehr klar denken können; vielleicht nur noch stammeln. Stattdessen treten körperliche Reaktionen auf wie: Schwitzen, Rotwerden oder Die-Hände-vor-die-Augen-Halten. So zeigt auch die Körpersprache, dass zu viel Scham die Beziehung unterbricht; sie isoliert, macht einsam, trennt, entsolidarisiert. Wenn unser Gegenüber zu viel Scham erlebt, dann ist es »weg«, dann können wir in der Beratung noch so wichtige Sätze sagen, das hört unser Gegenüber eventuell gar nicht.
Die Körperhaltung bei Scham ist interessant: Die betroffene Person wendet sich ab, schaut weg und krümmt sich nach unten. Das weist auf eine wichtige Eigenschaft der Scham hin; dies bringt auch die deutsche Sprache zum Ausdruck: »Ich schäme mich«, »Er schämt sich« usw., das heißt: Die sich schämende Person kreist um sich selbst.
Psychologisch gesehen, sind Narzissmus und Scham häufig verbunden. Nehmen Sie zum Beispiel einen Patienten, der Jungen sexuell »missbraucht« hat und seinem Therapeuten wieder und wieder sagt: »Ich schäme mich«. Er kreist nur um sich selbst. Zwar ist es wichtig, dass er sich schämt (dazu gleich mehr), aber solange er sich nur schämt, bleibt dies ein narzisstisches Um-sich-selbst-Kreisen.
Bei Scham denkt man oft an etwas ganz Intimes. Und doch kann die Scham in jeder Beziehung und jeder Begegnung mit Menschen auftauchen. Sie ist der soziale Affekt; Scham ist das Gefühl, welches das Zwischenmenschliche reguliert. – Was bedeutet das für die zwischenmenschlichen Beziehungen einer Gesellschaft, wie zum Beispiel der deutschen, die das Bewusstsein für die Scham so massiv abgeschafft hat? Dies hat verheerende Auswirkungen, das sehen wir jeden Tag auf der Straße, in der Politik …
Scham und Beschämung werden oft verwechselt; es ist mir wichtig, sie zu unterscheiden. Ich beginne mit einem leeren Glas und erzähle ein Beispiel aus der Schule. Sagen wir: Ein Schüler hat etwas geklaut aus der Schultasche einer Mitschülerin, z. B. einen Apfel. Dafür schämt er sich.
Die Psychologie der Scham
Die eigentliche Scham beginnt ab Mitte des zweiten Lebensjahres, wenn eine bestimmte Gehirnregion sich entwickelt, die uns Menschen befähigt, wie von außen auf uns selbst zu blicken (Selbstobjektivierung). Genau dieser Entwicklungsschritt wird übrigens im Alten Testament beschrieben, in der Geschichte von Adam und Eva: Sie waren nackt, hatten kein Bewusstsein davon und schämten sich nicht. Aber dann verändert sich etwas: Sie aßen eine Frucht vom Baum der Erkenntnis, und plötzlich erkannten sie, dass sie nackt waren. Sie blickten auf sich selbst und schämten sich.
Übertragen auf mein Beispiel: Der Junge blickt auf sich und erkennt, »Oh, ich bin ja ein Dieb« – und schämt sich. Insofern ist die eigentliche Scham wie eine eigene Leistung, sie ist wie eine sprudelnde Quelle. (Um Missverständnisse zu vermeiden: Es kann schon sein, dass wir dem Jungen sagen müssen: »Stopp, es ist nicht in Ordnung zu stehlen!« Was nicht bedeutet, dass wir ihn beschämen dürfen.)
Scham ist eine eigene Leistung des sich Schämenden, die es anzuerkennen gilt. Das heißt, Ihre Klienten, die zu Ihnen kommen, in Beratung oder Therapie, bringen ihr mehr oder weniger volles Glas an Scham mit. Dies ist ihre Scham, sie gilt es anzuerkennen. Wenn wir mit Menschen arbeiten, ist es nicht unser Auftrag, unsere eigene Scham »los«zuwerden, indem wir sie, metaphorisch gesprochen, unserem Gegenüber eingießen. – Dies geht ja ganz einfach, wir kennen das:
Erstens werden Menschen beschämt, wenn wir sie missachten, etwa durch verächtliche Haltung, arrogante Sprache oder indem wir ihre Lebensleistung vom Tisch wischen. Indem wir, mit anderen Worten, ihr Grundbedürfnis nach Anerkennung verletzen.
Zweitens beschämen wir Menschen, wenn wir ihr Grundbedürfnis nach Schutz verletzen, etwa indem wir etwas, was privat ist, in die Öffentlichkeit zerren, etwas Körperliches oder Seelisches.
Drittens werden Menschen beschämt, wenn wir ihnen zu verstehen geben, sie seien »falsch«; zum Beispiel (aus Sicht der dominierenden Werte der alten Bundesländer:) nicht genügend jung, schön, schlank, fit, leistungsfähig, selbstoptimiert, erfolgreich u. v. a. Wenn wir also ihr Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit verletzen.
Viertens beschämen wir Menschen, wenn wir ihr Grundbedürfnis nach Integrität verletzen, z. B. indem wir all das, was ihnen über Jahrzehnte wichtig war, für nichtig erklären. Oder wenn wir sie zu Zeugen von Unrecht machen, wie dies durch die Massenmedien tagtäglich geschieht: Etwa wenn Otto Schily, kurz nach der ersten gesamtdeutschen Wahl, eine Banane in die TV-Kamera hält, um all die Wähler verächtlich zu machen, die nicht für seine SPD gestimmt haben.
Wenn wir die Art und Weise, wie die beiden Deutschland »wiedervereinigt« wurden, aus der Sicht dieser vier Grundbedürfnisse betrachten, wird m. E. deutlich, dass sie mit massiven Beschämungen verbunden war, für alle. Auch wenn ich dies »nur« aus der Ferne, vom Schwarzwald aus, und nur vermittelt über die Medien verfolgt habe: Ich schäme mich noch heute für vieles, was in dieser Zeit passiert ist.
Zurück zur Psychologie der Scham.
Es gibt Menschen, deren Glas, metaphorisch gesagt, halb leer ist; hier könnte man noch eingießen. Aber es gibt Menschen, die sind schon übervoll mit Schamgefühlen. Was passiert dann? Schamforscher wie Micha Hilgers unterscheiden zwischen einerseits einem gesunden Maß an Scham (»gesunder Scham«), wenn die Psyche des Menschen, das Gefäß sozusagen, halb leer oder halb voll ist; wenn er oder sie noch damit umgehen und daraus lernen kann. Im Unterschied dazu steht »traumatische Scham«, wenn das Ich wie überflutet wird, ertrinkt in Schamgefühlen. Ertrinkende zeigen ja manchmal ganz unerwartete Reaktionen, schlagen z. B. um sich. Dasselbe passiert bei traumatischer Scham. Wenn wir mit Schamgefühlen überflutet werden, sind dieselben Gehirnregionen aktiv wie beim Ertrinkenden (vgl. Marks 2021, S. 79).
Nehmen wir z. B. zwei Schüler, die durchs Abitur gefallen sind; beide schämen sich. Der eine von beiden nimmt Nachhilfe, belegt Ferienkurse, er lernt, übt, büffelt und macht ein Jahr später ein super Abitur. Sein Freund, auch durchgefallen, geht auf den Dachboden und erhängt sich. Beide Male Scham; in dem einen Fall ein ganz starker Entwicklungsanstoß. Weil die Scham so schmerzhaft ist, ist sie einer der stärksten Entwicklungsimpulsgeber, in einem gesunden Maß. Wenn aber zu viel Scham da ist, traumatische Scham, können Chancen sich nicht verwirklichen, und es geschieht etwas ganz anderes.
Scham im Gehirn
Was passiert dabei im Gehirn? Ich erinnere mich, als Schüler stehe ich vorne an der Tafel, ich gebe eine ungeschickte Antwort, meine Mitschüler lachen, und dann geht gar nichts mehr. Vor drei Minuten noch wusste ich diese verdammte Physikformel, aber plötzlich, im Zustand von Ungeschicktheit (die Scham darüber ist meine eigene Leistung) plus Ausgelachtwerden (Beschämung von außen) kann ich mich nicht an die Formel erinnern. Zu viel Scham macht das, was wir umgangssprachlich »dumm sein« nennen. Gehirnforscher wie Donald Nathanson sagen dasselbe etwas eleganter: Dies ist wie ein Schock, der höhere Funktionen der vorderen Hirnrinde zum Entgleisen bringt. Höhere Funktionen der vorderen Hirnrinde: Dort sind z. B. Mathe- und Physikformeln, Sprachvermögen, die »Zehn Gebote«, moralisches Bewusstsein gespeichert (Nathanson 1987, S. 26).
Schön, dass es dies gibt; aber im Zustand von Schamüberflutung sind diese Regionen nicht mehr verfügbar, weil das sogenannte Reptilienhirn die Regie übernimmt. Es geht nur um »Weg von der Angstquelle, um jeden Preis!« durch Angreifen, Fliehen oder Sichverstecken, Im-Abgrund-versinken-Wollen.
Wir kennen das vermutlich alle: Es gibt eine schamauslösende Situation, zunächst passiert scheinbar gar nichts – und plötzlich eine Reaktion wie vom anderen Planeten, weil auch tatsächlich ganz gegensätzliche Gehirnregionen jeweils im Vordergrund stehen.
Es gibt noch weitere Ergebnisse aus der Gehirnforschung, die den Moment akuter Scham als extreme Fehlregulation von Sympathikus und Parasympathikus beschreiben. Diese beiden Teile des autonomen Nervensystems arbeiten normalerweise abwechselnd. In der Regel wird morgens der Sympathikus hochgefahren, mit der Folge, dass Herz, Lunge, Gehirn mehr arbeiten. Abends wird der Parasympathikus hochgefahren und sein Gegenspieler nach unten; daher werden Herz und Gehirn ruhiger: So entsteht ein Wechsel zwischen »aktiv« und »passiv«, Anspannung und Entspannung, Sympathikus und Parasympathikus.
Im Zustand von massiver akuter Scham sind nun beide Systeme extrem hochgefahren: extrem aktiv und zugleich extrem passiv. Hierbei gibt es starke Übereinstimmung mit dem traumatischen Prozess, daher ist auch der Begriff »traumatische Scham« stimmig.
Extrem aktiv und zugleich extrem passiv: In diesem fehlregulierten Zustand fällen wir eine Entscheidung, wie wir auf die Schamszene reagieren. Dies konnten wir gut in einer kleinen Studie beobachten: Sportunterricht, Schüler spielen Fußball. Ein Junge macht einen Fehler, spielt einen schlechten Pass und wird ausgelacht von seinen Mitschülern. Ein paar Momente später konnten wir sehen, wie dieser ausgelachte Schüler plötzlich brutal einem Mitschüler in die Knochen tritt. Das heißt, er springt aus der Scham in die Gewalt.
Dies ist das Schwierige bei der Scham: Kaum jemand sagt: »Ich schäme mich.« Was wir stattdessen von außen beobachten, sind andere Verhaltensweisen. Weil alles andere erträglicher ist als die Scham – jedenfalls solange wir keinen bewussten Umgang mit ihr lernen (wir tun ja so, als gäbe es sie nicht, sie ist ja eine tabuisierte Emotion).
Scham und Abwehr: Projektionen, Ressentiments, Wut, Gewalt
Wir alle lernen, Scham durch etwas anderes zu ersetzen, zum Beispiel in der Schule, in der Ausbildung, durch unseren Filmhelden u. v. a. Überall werden uns verschiedene Möglichkeiten gezeigt, Schamgefühle nicht zu spüren, sondern abzuwehren, durch etwas anderes zu ersetzen. In der Fachliteratur, z. B. bei Leon Wurmser (1997) und Micha Hilgers (1997), finden Sie ganze Kapitel über häufige Abwehrmechanismen. Nachfolgend möchte ich einige Beispiele geben für Verhaltensweisen, die den Zweck haben, Scham sozusagen »los«zuwerden:
•Projektion: Das, wofür man sich schämt, wird auf andere projiziert. Etwa in der Schule: Ein Schüler schämt sich für seine homosexuellen Fantasien und projiziert dies auf einen Mitschüler: »Das ist eine schwule Sau.« In einem Seminar für Führungskräfte berichtet eine Teilnehmerin von einem Mitarbeiter ihres Teams als »faulem Sack«. Es stellt sich heraus, dass sie selber extrem erschöpft ist und erholungsbedürftig. Das erlebt sie als Schwäche, wofür sie sich schämt. Dies ist im Grunde ihr eigenes Thema, aber sie projiziert es auf einen Kollegen.
•Ein weiterer Abwehrmechanismus ist die Umwandlung von »passiv« nach »aktiv«. Um die eigene Scham nicht fühlen zu müssen, werden andere gezwungen, sich zu schämen. Dazu werden sie beschämt, verachtet, lächerlich gemacht, zum Gespött gemacht, in die Ecke gestellt, abgewertet, gemobbt, ausgegrenzt u. v. a. Je nach Umfeld kann dies auf eine ganz subtile Weise geschehen. Wenn ich etwa auf mein Studium in den 70er-Jahren zurückblicke, merke ich, dass ich mich oft so dumm gefühlt habe, wenn der Professor Dr. vorne mit seinen Fremdwörtern, Fachausdrücken und verschachtelten Sätzen sprach. Erst in Nordamerika lernte ich Professoren kennen, die sich verständlich ausdrücken; das kannte ich bis dahin gar nicht. Arroganz ist eine verbreitete Abwehrform. Leon Wurmser schreibt: »Man stolziert wie ein Gockel und zwingt andere, sich dumm, klein, hässlich zu fühlen« (Wurmser 1997, S. 306).
•Ressentiments: Man verbarrikadiert sich, vergräbt sich voller Verachtung, Groll, Rachsucht und unerbittlichem Hass auf bestimmte Gruppen oder »die da oben«. Die neuen Medien bieten ganz neue Möglichkeiten, ressentimentgeladen ganz um sich selbst kreisen. Im Internet, wo alles Mögliche und Unmögliche angeboten wird, kann man sich mit wenigen Klicks Bestätigung und Gleichgesinnte suchen, mit denen man sich kollektiv-narzisstisch als Subkultur in einer selbst gebastelten Scheinwelt verbarrikadiert. Für Außenstehende ist es oft schwer, gegen Ressentiments mit wissenschaftlich belegten Fakten zu argumentieren: Diese Fakten werden als Fake News oder Produkte der »Lügenpresse« und dergleichen zurückgewiesen.
•Größenfantasien und Idealisierung: Man identifiziert sich mit einem Sportverein oder einer Nation, an deren vermeintlicher Größe man teilhaben möchte. Man träumt sich aus seiner erniedrigenden Existenz heraus, indem man sich oder seine Gruppe als großartig fantasiert.
•Wiederherstellung der verlorenen Ehre: Was tun Menschen nicht alles, wenn sie in Schande geraten sind! In Erich Kästners Roman Das fliegende Klassenzimmer springt der Schüler Uli mit dem Regenschirm vom Dach des Schulhauses, um nicht länger von Mitschülern als Feigling gehänselt zu werden. Wie viele Generationen von Männern sind in den Krieg gezogen oder haben sich an Kriegsverbrechen beteiligt, um nicht als Feiglinge verachtet und ausgegrenzt zu werden! Wie viele haben sich duelliert für die Ehre!
•Scham wird häufig durch Trotz, Wut oder Gewalt abgewehrt. Dies soll durch ein Experiment illustriert werden: Zu Beginn des letzten Krieges USA gegen den Irak (dieser Krieg richtete sich gegen Saddam Hussein), wurden in den USA junge Männer befragt: »Was hältst du von diesem Krieg, und was für ein Auto würdest du gerne kaufen?« Das Experiment war so aufgebaut, dass die jungen Männer in zwei Gruppen eingeteilt wurden. Die eine Hälfte wurde ganz normal befragt, die andere Hälfte wurde kurz vor der Befragung durch verstecktes Theater beschämt; das merkten die jungen Männer gar nicht bewusst. Kurz danach wurden sie befragt, und die Ergebnisse wurden verglichen. Dabei zeigte sich, dass die jungen Männer, die eben durch verstecktes Theater beschämt worden waren, deutlich häufiger als die Nichtbeschämten den Krieg befürworteten und den Kauf von diesen protzigen, hochrädrigen Pick-ups mit den dicken Auspuffen, die man samstagabends in US-Kleinstädten auf und ab fahren sieht, favorisierten (vgl. Knopf 2006, S. 12). Sodass wir psychologisch sagen müssen: Hochmut kommt häufig nach dem Fall. Erst die Beschämung, Erniedrigung, Demütigung und danach das protzige, hochmütige, arrogante oder gewalttätige Verhalten – dieser psychologische Mechanismus wird zum Beispiel systematisch benutzt in der Grundausbildung in militaristischen Organisationen, etwa bei den Marines, einer sehr brutalen Militäreinheit. In der Grundausbildung werden die Rekruten erst einmal gedemütigt, bloßgestellt, lächerlich gemacht, entwürdigt, beschämt. Wenn sie dann übervoll sind mit Schamgefühlen, kommt die Organisation und sagt: »Wenn ihr strammsteht und gewaltbereit seid, dann seid ihr richtige Männer!« Diese Gewaltbereitschaft kann dann genutzt und gerichtet werden. Weil die Scham so passiv ist, weil sie sich so ohnmächtig anfühlt, ist man lieber aktiv; ist man lieber Täter als der letzte Dreck. Deswegen wird Scham häufig durch Trotz, Wut, Gewalt abgewehrt. Je nach Umfeld kann das auch Gewalt »nur« durch Worte sein. – Seit ich vor Jahrzehnten angefangen habe, Volkshochschulvorträge zu halten, mache ich häufig folgende Beobachtung: Der Vortrag ist zu Ende, die Diskussion ist ebenfalls beendet, der Referent verabschiedet sich – und dann, ganz hinten, nahe der Ausgangstür, geht noch ein Arm hoch. Es sind immer ältere Männer, vermutlich Kriegsveteranen. Wenn sie dann das Wort erhalten, sagen sie nicht etwa, was ihnen interessant oder wichtig war, sondern: »Dies hat gefehlt, jenes war falsch.« So ein Verhalten ist eine bösartige Form von verbaler Gewalt, denn man kann ja nichts mehr ändern, die Zeit ist ja abgelaufen. Verbale Gewalt wird häufig verharmlost: »Das wird man doch mal sagen dürfen.« Solche verbalen Heckenschützen kennen Sie vielleicht aus der Beratung: Wir denken vielleicht, es läuft ein guter Beratungsprozess. Wir gehen mit dem Klienten oder der Klientin zur Tür, verabschieden uns, und dann dreht er oder sie sich noch mal um und sagt: »Das hier bringt doch alles nichts!« Je nach Umfeld, je nach Milieu wird Scham eventuell auch durch körperliche Gewalt abgewehrt. Sehr deutlich wurde das in der Befragung von jugendlichen Straftätern oder von jungen Männern, die alte Menschen ermordet hatten (vgl. Marks 2021, S. 106 f.): »Warum hast du das getan? Du kanntest ihn bzw. sie doch gar nicht?« Eine Antwort lautete: »Der hat mich so komisch angeguckt!« Nur ein Blick! Das wurde mir in einer Fortbildung mit Wachpersonal eines Gefängnisses bestätigt; sie sagen: »Manchmal, wenn wir über den Gefängnishof gehen, genügt ein falsches Wort, ein falscher Blick, und uns fliegt der Laden um die Ohren.« Nur ein Blick! Ein anderer jugendlicher Mörder antwortet: »Ich wollte meinen Kumpels beweisen, dass ich kein Feigling bin.« Er ist lieber ein Mörder, als vor seinen Kumpels als Feigling dazustehen! Was tun wir Menschen unter Umständen nicht alles, um Scham – oder Schande, wie es in vielen Kulturen heißt – zu vermeiden.
Sie merken schon: Bei den bisher genannten Abwehrmechanismen stand eher der Sympathikus, die aktive Seite, im Vordergrund. Die aktive Seite passt eher zur traditionellen Jungen- und Männerrolle. Jetzt noch Beispiele für die passive Seite, wobei der Parasympathikus eher im Vordergrund steht:
•Sich-Verstecken: Eine Seminarteilnehmerin schilderte: »Ich stand auch einmal vorne an der Tafel und wurde ausgelacht, und dann bin ich kollabiert.« Es kann auch sein, dass wir zwar nicht körperlich kollabieren, sondern »nur« innerlich. Etwa im Kunstunterricht: »Wenn ich kein Bild male, kann ich auch nicht vorgeführt werden. Ich bin ja nicht kreativ.« Lehrer berichten in Fortbildungen immer wieder: »Bei mir ist eine Schülerin, ich lese ihren Namen im Klassenbuch, und ich weiß nicht, wer das ist.« Das sind Menschen, die schon als Kinder gelernt haben, sich unsichtbar zu machen. Die Botschaft lautet etwa: »Wenn der Lehrer mich nicht sieht, kann ich auch nicht vorgeführt werden.« Wir machen uns ganz klein, zeigen unsere Talente nicht. Stellen unser Licht unter den Scheffel, aus Angst, ausgelacht zu werden. Wer einen beschämenden Sportunterricht hatte, geht dann vielleicht nicht mehr in der Öffentlichkeit tanzen oder treibt keinen Sport. Wer während des Stimmbruchs vorsingen musste und ausgelacht wurde, der singt später vielleicht nie wieder. Was kommt da alles nicht in die Welt!? Was bleibt da verborgen aus Angst, ausgelacht zu werden!?
•Lügen: Wenn das Umfeld so ist, dass es als existenzielle Bedrohung erlebt wird, bei einem Fehler ertappt zu werden (das genau bedeutet traumatische Scham: Überlebensangst), dann kann man nicht einfach sagen: »Ja, ich habe diesen Fehler gemacht.« Vielmehr muss man dann lügen, schummeln, abschreiben, die Schuld anderen zuweisen, Rechtfertigungen vorbringen u. v. a.
•Perfektionismus: Aus Angst, ausgelacht zu werden, gibt man alles, um perfekt zu sein.
•Ein weiterer Abwehrmechanismus ist emotionale Erstarrung: »Schwache«, weiche Gefühle wie Liebe, Güte, Empathie, Hoffnung, Trauer, Schmerz oder Scham zu zeigen macht ja verletzbar. Da ist es scheinbar viel sicherer, sich hinter einer Fassade von Coolness zu verbergen. Lehrer wissen, wie das ist, vor 20 oder 30 »coolen« Schülergesichtern zu unterrichten: ohne Nicken, ohne Lächeln, ohne Resonanz. Emotionale Erstarrung wurde häufig beobachtet bei Überlebenden von traumatischen Erfahrungen, zum Beispiel bei Kriegsveteranen. Dies kann zu einer alles durchdringenden, chronischen Langeweile werden. Diese wiederum kann zu Depressionen führen, im Extrem bis zum Suizid. Wenn Rot die Farbe der Scham ist, gilt häufig: »Lieber tot als rot.«
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