Kitabı oku: «Was bildet ihr uns ein?», sayfa 6
Der erste Auslandsaufenthalt hinterließ Eindruck
Vor dem Hintergrund meiner Schulempfehlung war die Sorge mein ständiger Begleiter, das Abitur nicht zu schaffen. Diese Angst lernte ich in der Oberstufe zunächst schrittweise, dann ein für alle Mal abzulegen. Aus der Retrospektive lag das zunächst am erwähnten Türkischunterricht, dem Religionslehrer, aber auch an meinen Englisch- und Französischlehrerinnen. In der Sekundarstufe I ermöglichte meine Französischlehrerin es mir, das erste Mal ins Ausland zu gehen. Tatsächlich war dies für mich immer ein Traum, der so fern lag, da meine Eltern dies nicht wollten. Als beim Sommercamp, das vom Verschwisterungskomitee meiner Nachbarstadt organisiert wurde, und dessen ersten Vorsitz meine Französischlehrerin innehatte, ein Betreuer kurzfristig ausfiel, ergriff ich die Chance, ins Ausland zu gehen und sprang kurzfristig als ehrenamtlicher Betreuer für deutsche und französische Kinder im Alter zwischen neun und zwölf Jahren ein. Dieses Erlebnis war für meine damaligen Verhältnisse so überwältigend, dass ich in der 12. Klasse Englisch und Französisch als Leistungskurse wählte. Wehrend der 12. und 13. Klasse leitete ich dann gemeinsam mit einer Freundin eine Arbeitsgemeinschaft Französisch für Anfänger im Nachmittagsangebot meiner Schule.
Auch meine engagierte Englischlehrerin bemerkte mein großes Interesse für Fremdsprachen und förderte mich nicht nur im Unterrichtsfach, sondern motivierte mich, darüber hinaus mehr zu wagen und an Herausforderungen zu wachsen. Schnell begriff ich, dass die Sprache der Schlüssel zur Welt ist. Nachdem ich in Frankreich auf den Geschmack gekommen war, setzte ich alles daran, im Ausland studieren gehen zu können. Nur ein Jahr zuvor war an diese Vorstellung noch nicht einmal im Traum zu denken! Nach jeder Englischklausur ging ich zur Nachbesprechung zu meiner Lehrerin, die sich immer viel Zeit für mich nahm und mir hilfreiche Ratschläge gab.
Nach dem Abitur schließlich entschied ich mich, in Berlin Politikwissenschaft zu studieren. Zunächst einmal hatte ich ein mulmiges Gefühl, da ich nicht wusste, ob ich mich in der Großstadt, wo ich niemanden kannte, zurechtfinden würde, ob ich im Studium überhaupt mithalten könnte oder ob ich finanziell über die Runden kommen würde. Doch all diese Ängste erwiesen sich im Nachhinein als unbegründet. Ich fand mich schnell in Stadt und Studium ein, habe sehr gute Freundschaften geschlossen und bezog erst einmal BAföG. Bereits im dritten Semester studierte ich im Rahmen des Erasmus-Programms für ein halbes Jahr in Paris. In diesem Semester wurde ich dann in eine deutsche Stiftung aufgenommen. Studieren im Ausland gefiel mir schließlich so gut, dass ich mich bereits in Paris für ein Austauschstipendium an einer New Yorker Universität bewarb. Im letzten Semester meines Bachelorstudiums arbeitete ich als Praktikant in einer Nichtregierungsorganisation bei den Vereinten Nationen in New York. Ein Jahr später schließlich studierte ich in New York und absolvierte das erste Jahr meines Masters in International Affairs. Danach bewarb ich mich wieder in Berlin für den Studiengang Internationale Beziehungen, den ich zurzeit abschließe.
Lehrer können Potenziale entdecken
Vor dem Hintergrund meines eigenen Werdegangs bin ich der festen Überzeugung, dass es vor allem gut ausgebildeter Lehrer bedarf, die das Potenzial ihrer Schüler erkennen und aktiv fördern, so dass diese die Möglichkeiten in sich entdecken und ihre Lebensziele verwirklichen können. Insbesondere Schüler mit Migrationshintergrund, deren Familien als sogenannte Gastarbeiter nach Deutschland kamen, haben einen besonderen Aufholbedarf. Ich persönlich kann zwar nicht behaupten, dass mich eindeutig erkennbare Hürden im Schulsystem aufgehalten hätten. Aber dies lag vermutlich daran, dass ich auf eine integrierte Gesamtschule ging und dass meine Stärken im sprachlich-literarischkünstlerischen Aufgabenfeld meine Schwächen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich ausgleichen konnten. Aus eigener Erfahrung kann ich auch sagen, dass ich an der Gesamtschule von leistungsstärkeren Mitschülern lernen konnte. Dies war zum Beispiel im Fach Mathematik der Fall. Diese Schulform ermöglichte es mir, ohne Schulwechsel eine Zugangsberechtigung zur gymnasialen Oberstufe zu erlangen. Wie eingangs geschildert, habe ich die „Hürden“ viel mehr in Form von Diskriminierung durch weniger wohlwollende Lehrer wahrgenommen. Natürlich ist der Einsatz von qualifizierten Lehrkräften keine universelle Schablonenlösung! Der Bildungserfolg hängt auch grundsätzlich von der jeweiligen Motivation und vom Interesse des Kindes ab. Doch erfolgreiche Integration beginnt im frühen Kindesalter und ist ein anhaltender Prozess, auf den viele Menschen aus dem privaten – und vor allem aus dem öffentlichen Bereich – wirkungsvoll Einfluss nehmen können. Denn tatsächlich verbringt ein junger Mensch ja mehr Zeit im öffentlichen als im privaten Raum. Ich selbst bezeichne mich rückblickend oft als ein „Kind deutscher Institutionen“. Ich besitze viele deutsche Eigenschaften, die vor allem dann zum Vorschein kommen, wenn ich meine Familie in der Türkei besuche. Dort bin ich kein wirklicher Türke. Auch wenn ich gut Türkisch spreche, habe ich einen deutschen Akzent. Meine Art zu denken ist deutsch. So sagt mir meine Familie in der Türkei, dass ich strukturiert und logisch an Probleme herangehe. Ich habe deutsche Angewohnheiten, die sich durch meine Bildung in der deutschen Schule gefestigt haben. Aber ebenso bin ich kulturell türkisch geprägt, was auf meine elterliche Erziehung zu Hause zurückgeht. Diese Eigenschaften unterscheiden mich manchmal von meinen deutschen Freunden. Als Kind war diese Erfahrung immer von dem Gefühl geprägt, zwischen den Stühlen zu sitzen. Aber in jungen Jahren möchte man einfach dazugehören! Das heißt auf dem einen oder anderen Stuhl sitzen, und sich angekommen fühlen und auch wissen. Heute bewege ich mich bewusst zwischen diesen beiden Stühlen. Einmal sitze ich auf dem deutschen Stuhl und das andere Mal wieder auf dem türkischen. Jedoch nie ständig auf einem der beiden. Dies hat aus meiner heutigen Sicht viele Vorteile: Jugendliche mit Migrationshintergrund oder Jugendliche, deren Eltern aus zwei verschiedenen Nationen kommen, sind viel eher in der Globalisierung angekommen als ihre deutschen Altersgenossen. In der globalisierten Welt, die im Begriff ist, das bisherige gesellschaftliche Leben stark zu verändern, ist der Multikulturalismus des einzelnen Menschen zu einer wichtigen Charaktereigenschaft erstarkt. – Für gewöhnlich bringt der „Migrationshintergrund“ einen Reichtum für das gesellschaftliche Leben mit sich. – Sei es jede weitere Sprache, die man zu sprechen in der Lage ist, oder aber eine andere Sicht der Dinge, um nur zwei Vorteile für die Welt von heute und morgen zu nennen. Es ist die Hauptaufgabe der Bildungsinstitutionen, diese Diversität konstruktiv zu managen. Dem Zusammenwirken zwischen privat und öffentlich, zwischen elterlicher und schulischer Erziehung, messe ich deshalb große Bedeutung für die erfolgreiche Integration von Schülern mit Migrationshintergrund in das deutsche Leben bei.
Sie können jetzt denken: „Das Bildungssystem kann doch nicht so schlecht sein! Der hat es doch geschafft!“ Doch nicht ohne Grund trifft man Arbeiterkinder mit Migrationshintergrund statistisch gesehen seltener an deutschen Universitäten. Meistens sind sie strukturell benachteiligt, also werden aufgrund von Kategorien wie ihrer ethnischen Herkunft abgewertet. Außerdem werden sie oftmals viel zu früh aufgegeben oder aber gar nicht erst gefördert.
Man sollte nicht das unglaubliche Durchhaltevermögen verkennen, das man für die Überwindung der genannten Hürden benötigt. Dass es vielen nicht nur um den Unterrichtsstoff, sondern zusätzlich noch um das korrekte Erlernen der Sprache geht, ist offensichtlich. Deshalb liegt eine doppelte Last auf Arbeiterkindern mit Migrationshintergrund. Ein ausgeglichenes Schulsystem, wie es in einigen Aspekten die Gesamtschule darstellt, kann diesen Schülern helfen, persönlich und gesellschaftlich voranzukommen.
Motivieren, bis das Vorbild kommt
Bettina Malter, Susanne Julia Czaja, Tobias Stephan und Anne Hoffmann
Was tun, wenn der Mitarbeiter nicht motiviert ist? Zu dieser Frage haben Wissenschaftler verschiedenste Theorien aufgestellt, um hier Lösungen vorzulegen. Auch Unternehmen haben ein großes Interesse daran und entwickeln eigene Strategien, denn schließlich hängt von der Motivation der Mitarbeiter die Qualität der Arbeit ab und somit auch der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens. Doch wie sieht das bei Schülern aus? Gibt es Theorien, wie Schüler besser motiviert werden können? Weit verbreitet ist die Annahme, dass Kinder von Natur aus lernbegeistert sind, dass es also gar nicht nötig sei, sie zu motivieren Der President des Lehrerverbandes Josef Kraus spricht von einer „Holschuld des Kindes“80. Demnach seien Schüler selbst verantwortlich, was sie aus dem Unterricht mitnehmen. Von Motivation in der Schule noch keine Spur. Nimmt man folglich an, dass sie keine Rolle an Schulen spielen muss?
Schaut man in die Vergangenheit, so wird man schnell fündig. Schon der Philosoph Immanuel Kant schrieb, dass Kinder am besten mit „einem Gefühl der Lust“81 lernen können. Und die Bildungsreformer des 18. Jahrhundert hatten gar die Vorstellung, die Erziehung diene dazu, „Kinder zu einem […] glückseligen Leben vorzubereiten“82.
Der erste Lehrstuhlinhaber für Pädagogik, Ernst Christian Trapp, machte daher den Erfolg von Bildung vom Glück des Kindes abhängig. Aber Schule und Glück sind in unserer heutigen Gesellschaft zwei Parameter, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen: Die Schule soll schließlich keinen Spaß machen. Wo kommen wir denn da hin? „Mit der Schule ist es [schließlich] wie mit der Medizin: Nur wenn sie bitter schmeckt, wirkt sie“, wie es ein Lehrer in dem Film Die Feuerzangenbowle beschreibt. So oder so ähnlich hat es der ein oder andere wohl schon einmal in seiner eigenen Schulzeit gehört. Dass dem so ist, verdanken wir Wilhelm von Humboldt. Mit seiner Vorstellung von Bildung verschwand das Glück aus den Klassenzimmern, und ob Lernen Freude macht, wurde gleichgültig.83
Glauben kann eben doch Berge versetzen
Aber einmal ernsthaft gefragt: Wo kommen wir denn hin? Wo landen wir, wenn wir die Humboldtsche Idee beiseite schieben und dem Glück wieder seinen Raum geben? Denn fragt man Hirnforscher, so schreiben auch sie der Lust einen großen Stellenwert beim Lernen zu und bemängeln, dass neue Erkenntnisse der Emotions- und Motivationspsychologie kaum in die Pädagogik oder Didaktik einfließen.
So macht der Neurobiologe Gerald Hüther deutlich, dass Menschen nicht nur einfach Sachverhalte lernen, sondern die Lernsituation an sich stets mit einfließt. Lernen Jugendliche also unter Angst und Druck, wird dieses negative Gefühl mit dem zu lernenden Thema oder gar dem Fach verknüpft.84 Und nicht nur das. Es ist sogar neurologisch bewiesen, dass Menschen unter Angst schlechter lernen. Denn in diesem Gefühlszustand schaltet das Gehirn in einen Modus, in dem es sich darauf konzentriert, der Quelle der Angst zu entkommen. Jegliche Kreativität wird dadurch völlig eingeschränkt. Der bekannte Gehirn- und Lernexperte Manfred Spitzer betont in einem Vortrag gar, dass noch Jahrzehnte später bei Themen, die mit Angst verknüpft sind, keine kreativen Tätigkeiten möglich sind.85 Es ist also ganz deutlich, dass die Schule nicht nur ein Ort des Wissens sein kann.
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) stellte im Jahr 2003 fest, welch wichtige Rolle die Motivation von Schülern für den Lernerfolg hat.86 Und motiviert ist ein Mensch wohl, wenn er Freude an dem hat, was er tut. Der OECD zufolge sei nicht nur guter Unterricht für den Lernerfolg verantwortlich, sondern auch die Eigenmotivation des Schülers. So zeigt das Ergebnis: Schüler, die besser motiviert sind und an ihr eigenes Können glauben, erzielen bessere Leistungen in der Schule.
Dieser Zusammenhang klingt intuitiv so richtig, dass man fast meinen mag, eine solche Studie nicht zu benötigen. Doch schaut man in unserem Schulsystem an, wie wenig Zeit für die Frage nach Glück und Motivation aufgewendet wird, dann bleibt nur die Forderung: mehr davon! Am besten wöchentlich, bis endlich jemand in der Politik aufwacht und die Dramatik begreift, die sich hinter diesem Thema verbirgt: Wir brauchen ein Schulsystem, in dem Lernen Spaß macht. Und das würde gleichzeitig bedeuten, dass die Schule an sich neu gedacht und auch die Einstellung gegenüber Schülern verändert werden muss.
Denn wie Kinder und Jugendliche von außen gesehen werden, wirkt sich direkt auf sie aus. Einstellungen, die durch das System vermittelt werden, übertragen sich einer anderen Studie der OECD zufolge87 auf die Schüler und beeinflussen so direkt ihre Zukunft. Auf der psychologischen Ebene lässt sich das mit dem sogenannten Erwartung-mal-Wert-Modell des Pioniers der Motivationspsychologie, John Atkinson, erklären. Danach wird eine Person wenig um ein Ziel bemüht sein, wenn sie glaubt, dass ihre Erfolgsaussichten gering sind. Denn Menschen streben danach, Ereignisse zu erleben, die positiv für sie sind. Misserfolge suchen sie zu vermeiden.88 Anders gesagt: Ein Schüler, der nicht an sich glaubt und somit auch seine Erfolgsaussichten als gering einschätzt, wird immer unter seinen eigentlichen Möglichkeiten bleiben – solange das System ihm nichts anderes kommuniziert. Wenn die Schule also davon ausgeht, dass bestimmte Schüler nicht motiviert werden müssen, da sie ohnehin verloren sind, überträgt sich das auf den Eigenantrieb der Jugendlichen.
Dieses Problem erleben wir in Deutschland in extremer Form an Hauptschulen. Dort lernen Schüler, denen das Schulsystem vermittelt hat: Ihr seid nicht gut genug! Sie wurden nach der Grundschule aussortiert und wissen, dass sie nicht für gut genug befunden wurden, eine Realschule oder gar ein Gymnasium zu besuchen. Die Gesellschaft trägt ihr Übriges dazu bei: Seien es der Jugendclub, wo abschätzig über „die Hauptschüler“ geredet wird, die Freunde aus der Grundschule, die sich von ihnen distanzieren, oder die Medien, die sich auf Extremfelle stürzen und damit weiter Vorurteile nähren: dumm, faul und der Wunsch, einmal Hartz IV zu bekommen. Selbst mögliche Idole wie Kultmoderator Stephan Raab bedienen diese Klischees. Über die Schlagworte dumm und Hauptschülerin gelangt man auf der Plattform YouTube zu einem bekannten Einspieler der Sendung TV Total89: Ein junges Mädchen antwortet auf die Frage, was ihr Traumberuf wäre: arbeitslos – ein Lacher, zumindest für viele Zuschauer. Die Hauptschüler selbst fühlen sich diffamiert und müssen ständig beweisen, dass sie diesem Klischee nicht entsprechen. Wenn überhaupt, bedient wohl nur ein minimaler Prozentsatz der Hauptschüler die Vorstellungen, die über sie kursieren.
Dass unter diesen Umständen bei Hauptschülern nur selten die Motivation erhalten bleibt, die sie, wie wohl fast alle Kinder, bei der Einschulung hatten, verwundert nicht. Sie werden durch das System regelrecht demotiviert. Das Fatale aber ist, dass es dabei nicht bleibt. Das Urteil der Gesellschaft nehmen sie an, und sie beginnen, wirklich zu glauben, dass sie unfähig sind! Dies ist so entscheidend, dass es an dieser Stelle wiederholt werden muss: Sie beginnen aufgrund falscher Bilder zu glauben, dass sie unfähig sind! So trifft man das Selbstwertgefühl dieser Jugendlichen maximal im Keller an, wenn sie es nicht schon ganz begraben haben. Dieser verlorene Glaube an sich selbst, wiegt bei jedem Schritt, den sie in der Schule machen, schwer, und sogar noch im späteren Berufsleben. Im Unterricht versuchen sie oft gar nicht, gegebene Aufgaben zu lösen, weil sie die Gewissheit verinnerlicht haben, es ohnehin nicht zu schaffen. So bleibt die Mehrheit der Hauptschüler weit hinter ihren Möglichkeiten, da das System ihnen nichts anderes vermittelt. Die Chancenlosigkeit, die sich daraus ergibt, birgt zudem offenbar die Gefahr, psychisch krank zu machen. So sind besonders Schüler an Haupt- und Realschulen von depressiven Stimmungen betroffen – insgesamt 32 Prozent. Doch auch auf Gymnasien hat der Druck und die Angst zu versagen übergegriffen. Dort ist fast jeder Vierte von Selbstzweifeln geplagt. 90
Glücklich sein statt Glück haben
Es ist also mehr als deutlich, dass wir ein neues Verständnis von Schule brauchen. Und da reicht es nicht aus, einfach nur die Hauptschule abzuschaffen, was derzeit die Politik als das Allheilmittel zur Lösung aller Probleme proklamiert. Das Grundproblem wird dadurch nicht beseitigt, denn die Einteilung in „Gut“ und „Schlecht“ bleibt bestehen und auch die fatale Grundannahme des Systems: Es gibt schlechte Schüler, die die Besseren aufhalten.
Eine Schule für alle wäre der erste Schritt, aber auch nur der allererste. Eigenmotivation ist entscheidend für den Lernerfolg, und diese Einsicht muss in den Neustart des Bildungssystems maßgeblich einfließen. Doch was genau kann im Klassenzimmer passieren?
Das Problem ist, dass es die eine zuverlässige Motivationsformel nicht gibt. Dennoch bleibt die Frage, was den Menschen motivieren kann. Es scheint erst einmal ein Widerspruch zu sein, dass ein Anstoß von außen kommen soll, um die inneren Motivationskräfte zu bewegen. Es gibt aber immer wieder Beispiele aus der Praxis, bei denen genau das funktioniert. Eine wichtige Antriebsformel ist dabei das Erfolgserlebnis. Es bedarf keiner hohen Mathematik, um erst einmal festzustellen: Je höher der Schwierigkeitsgrad einer Aufgabe, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Schüler91 Erfolg hat. Nun soll es aber nicht darum gehen, nur einfache Aufgaben zu stellen, um den Jugendlichen Erfolg vorzugaukeln. Dies hätte dem Psychologen Falko Rheinberg nach sogar demotivierende Folgen, da die Lösung zu selbstverständlich scheint. Deswegen müssen Aufgaben so gestellt werden, dass sie nicht zu einfach erscheinen und der Anreiz da ist, sie zu lösen. Gleichzeitig dürfen sie nicht zu schwierig sein. Es sind also die mittelschweren Aufgaben, die Schüler herausfordern und voranbringen. Mit der Zeit verschiebt sich dann der Anspruch der Jugendlichen und somit auch das, was mittelschwer bedeutet. Daher ist es entscheidend, dass Aufgaben individuell auf Schüler zugeschnitten werden.
Im Buch von Rheinberg werden aber auch Praxisbeispiele dargestellt, wie Motivation problemlos in den Schulalltag eingebaut werden kann: Man stelle sich vor, man müsste im Mathematikunterricht zehn Aufgaben rechnen und man wüsste genau, mit Mathe hat das noch nie so richtig geklappt. Jetzt steht auf dem Aufgabenblatt die Frage, wie viele Aufgaben man glaubt, richtig zu rechnen? Wenn man vier vorhersagt und letztlich fünf schafft, ist es ein Erfolg, obwohl eigentlich nur die Hälfte richtig gerechnet wurde. Auf diesem Weg können Jugendliche aber lernen, sich selbst einzuschätzen, ihre Stärken und Schwächen kennenzulernen.92
Lernen nach Zahlen
Was im Klassenraum über Erfolg und Misserfolg entscheidet, sind letztendlich Noten. Dieser vermeintlich objektive Maßstab soll Schülern als Orientierung dienen, sich selbst zu beurteilen. Diejenigen, die die Schule schon hinter sich gelassen haben, schauen oft differenziert auf ihre Noten, die in der Schule vergeben wurden. Die meisten wissen oder können es im Studium oder im Berufsalltag sogar beweisen, dass Noten nur wenig über das eigene Leistungsvermögen aussagen. Für Schüler hingegen kommt es dem Urteil eines Richters gleich, dem Glauben geschenkt wird. Schließlich wird im Schulalltag auch viel dafür getan, dass Noten als objektiver Maßstab für Schüler erscheinen. Die offizielle Bestätigung, dass sie subjektiv sind, würde dieses Konzept einstürzen lassen. Was sagt es nun aber über mich als Person aus, wenn ich eine 5 erhalte?
Vielen Schülern wird damit ein Nichtkönnen suggeriert. Und damit ist das Selbstbild gezeichnet. Diese Endgültigkeit, die Noten für Schüler besitzen, kritisiert auch Sabine Czerny. Die Lehrerin aus Bayern war im Jahr 2009 mit dem Courage-Preis der Bayerischen Pfarrbruderschaft93 ausgezeichnet worden, weil sie „die gängige Art der Leistungsbewertung und die damit verbundene Klassifikation von Kindern in Frage gestellt“94 hatte. Zuvor war sie versetzt worden, weil sie ihre Schüler zu gut benotet hatte.
Anhand ihres Schulalltages beschreibt sie, dass Noten für die Jugendlichen Sieg oder Niederlage bedeuten. Dies führt sogar soweit, dass mit der Zensureneinführung Schüler aufhören, Fragen nach ihren Fehlern zu stellen, die sie im Test gemacht haben. Es scheint offenbar plötzlich unwichtig zu sein, Sachverhalte noch nach Prüfungen zu verstehen, denn schließlich war das Urteil in Form einer Zahl schon gesprochen. Dies führt dazu, dass die Bereitschaft zu lernen an die Note gebunden wird und Kinder darauf getrimmt werden, ihre Motivation von dem Urteil anderer abhängig zu machen – ein Effekt, der inzwischen unsere Gesellschaft durchdringt und selbst an Universitäten anzutreffen ist.
Aber sind wir bereit, die Noten abzuschaffen? Bereit, in einer von Wettbewerb geprägten Gesellschaft, in der Zahlen als das wichtigste Messkriterium gelten, ein gängiges System zu revolutionieren?
Diese Ziffern sind ein Maßstab, mit dem die meisten in unserer Gesellschaft aufgewachsen sind. Es ist vertraut und bringt an manch einem Familienabend Geschichten zutage, die Generationen verbinden: Denn vermutlich ist jeder schon einmal gefühlt ungerechtfertigt benotet worden. Genau weil es so vertraut ist, und seit Generationen gilt, fühlt es sich komisch an, sich die Schule ohne Noten vorzustellen.
Doch es gibt Schulen, an denen das funktioniert. Die Göttinger Georg-Christoph-Lichtenberg-Schule ist eine von fünf Schulen in Deutschland, die eine Ausnahmegenehmigung hat, keine Noten zu geben – zumindest bis zur 8. Klasse. Zu den Zeugnisterminen erhalten die Schüler sogenannte individuelle Lernentwicklungsberichte, in denen ausführlich die Entwicklung jedes Einzelnen beschrieben wird.95 Diese Art von Schule muss sich mit Vorwürfen wie Kuschelecken-Pädagogik auseinandersetzen, wie es einst der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog betitelte. Doch dieses „Kuscheln“ brachte im Jahr 2010 die beste Abiturientin Niedersachsens hervor.96 Erfolgreich lernen funktioniert also auch so.
Eine Schule ohne Noten kann, wenn es richtig umgesetzt wird, dem Glück wieder Eintritt zumindest in die Vorhalle der Schule gewähren. Diesen Schritt sollten wir wagen. Denn dieses Prinzip hat nicht nur eine motivierende, sondern langfristig eine gesellschaftliche Wirkung. Ohne Noten kehrt eine Kultur in die Klassenräume ein, die es erlaubt, Fehler zu machen, ohne gleich bestrafungsähnliche Konsequenzen tragen zu müssen. Und genau das muss in einer Schule möglich sein – denn aus Fehlern lernt man ja bekanntlich. Also muss es auch einen Raum geben, in dem es erlaubt ist, Fehler zu machen! Und welcher Ort würde sich dafür eher anbieten als die Schule?
Durch Noten wird Schülern vermittelt, dass es etwas Schlechtes ist, Fehler zu machen, und man die Konsequenzen dafür zu tragen hat. Ja, ja, „im harten Leben muss man auch die Konsequenzen tragen“, – man hört sie jetzt schon rufen. Aber das harte Leben fängt früh genug an, und für viele Schüler ist die Härte bereits zu Hause Alltag. In der Schule müssen sie aber die Möglichkeit haben, sich gemeinsam mit den Lehrern über ihre Stärken und Schwächen klar zu werden. Und dies kann über individuelle Bewertungen funktionieren. Dadurch ist der Lehrer nicht gezwungen, sich innerhalb einer Skala von eins bis sechs auszudrücken. Er kann und muss ganz differenziert begründen, wieso er die Leistung jedes Einzelnen so einschätzt.