Kitabı oku: «Welche Bildung braucht die Wirtschaft?», sayfa 2

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Philosophisch-pädagogische Blicke

Helmut Geiselhart geht vom Ende der Grands Récits aus, vom Verlust der zusammenhängenden Bildes unserer Welt; vom Verlust einer zusammenhängenden Sprache, die Sehnsucht und Politik, innen und außen, Leiden und Erfüllung sinnvoll aufeinander beziehen könnte. Es gebe kein sprachliches Bild menschlichen Daseins als Ganzen mehr. Das habe tiefgreifende, noch kaum reflektierte Folgen. Die erste nachideologische Generation – X, Y, Z – stehe dem unmittelbaren Erleben offener gegenüber als alle Generationen zuvor, sei damit auch schutz- und wehrloser gegenüber Ansprüchen des Systems. Sie tauchten einfach ein in ein Jetzt. Bar der Möglichkeit, wie die 68er eine Gegenideologie, ein kritisches Bewusstsein gegen die gegebenen Verhältnisse zu stellen. Geiselharts Analyse kann erklären, warum diese Generation den Älteren mitunter seltsam angepasst vorkommt.

Für Klaus Mertes macht das Mehr als Messbare den Kern des Bildungsprozesses aus. Aber warum verschwindet dieses Mehr im politischen Diskurs über Bildung? Seine These: Die Sprache der Zentralinstitutionen überrolle die untere und mittlere Ebene derart, dass die Sprache der bildenden Begegnung verstumme. Mertes fordert Subsidiarität: Die Ebene der Bildungsplanung müsse anerkennen, dass Bildung auf der Mikroebene stattfinde; die Zentrale habe der persönlichen Bildungs- und Beziehungsarbeit zu dienen und sich vor ihrer Erfahrung zu rechtfertigen. Die Begründungspflicht für Eingriffe liege bei der je höheren Ebene.

Carl Bossard konfrontiert die Anziehungskraft der Casting-Shows mit dem Verschwinden der Lehrperson im pädagogischen und bildungspolitischen Mainstream. Die Jugend suche die lebendige Beziehung zum Vorbild, während Pädagogik und Bildungspolitik das selbstgesteuerte Lernen propagierten. Sodass die Lehrperson mehr organisiere und auf Fragen hin berate denn als Gegenüber da sei. So gerate das Entscheidende in den Schatten: die Beziehung, in der sich Resonanz ereigne und die eine Auseinandersetzung aushalte.

Der Herausgeber entwickelt aus Kants kategorischem Imperativ den Grundriss einer Bildungsethik, die das Werden des Menschen vor Instrumentalisierung, vor Verzweckung schützt – durch andere und auch durch sich selbst.

Was sehen Verantwortliche des Schweizer Bildungssystems?

Michael Hengartner, Rektor der Universität Zürich und Präsident der swissuniversities, und Anna Däppen-Fellmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Stab des Generalsekretariats der Universität Zürich, entwickeln die Aufgabe der Universität aus ihrem mittelalterlichen Ursprung. Sie habe neben der sprachlichen und naturwissenschaftlichen Allgemeinbildung, den sieben artes liberales, immer schon der Berufsbildung von Juristen, Priestern und Ärzten gedient. Bologna passe das Studium der Realität der Massenuniversität an. Die Reform habe sich in ihren beiden Grundelementen – Zweiteilung des Studiums, europaweit vergleichbare Punkte – bewährt: Sie fördere die Mobilität, belebe den Wettbewerb, strukturiere das Studium besser und gebe früher Rückmeldung über die erzielten Leistungen. Einzuräumen sei, dass die kleinteiligen Prüfungen zur Verzettelung und zum Verlust des großen Zusammenhangs führen könnten. Die Lösung liege in einer besseren Vernetzung der Module. Das lasse sich durch Anpassung des Systems bewerkstelligen, ein grundsätzliches Überdenken der Reform sei nicht angezeigt.

Aus der Sicht des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation SBFI umreißt Josef Widmer das Verhältnis von Wirtschaft und Bildung aus systemischer Sicht und präsentiert Schwerpunkte und Ziele der nationalen Bildungspolitik. Der politische Text macht deutlich, wie die Steuerung des Bildungssystems sehr viele verschiedene Interessen vermittelt. Das Bildungssystem sei ein Abbild der gesellschaftlichen Entwicklung, nicht umgekehrt: Bildungspolitische Entscheide seien in der Schweiz aufgrund des demokratischen und partizipativen Prozesses breit abgestützt. Das lasse auf der Systemebene erst gar keinen fundamentalen Änderungs- oder Handlungsbedarf entstehen. Wo dennoch Steuerung angemahnt werde, sei sie evidenzbasiert zu begründen.

Eine besondere Chance bietet das Interview mit Hans Ambühl, der die Bildungspolitik der Kantone als Generalsekretär koordiniert. Er stellt sich der Kritik, erklärt, verteidigt Positionen – und anerkennt Schwierigkeiten und wunde Punkte. Er führt den Dialog der Tagung weiter, vertieft ihn, präzisiert die Positionen. Der Tonfall zeigt Anerkennung und Wertschätzung.

Ein Bottom-up-Projekt wie dieses Buch beginnt als Outlaw. Umso dankbarer ist es für die Anerkennung der Verantwortlichen. Die Geschichte der Christen war immer dann besonders fruchtbar, wenn Macht und Prophet miteinander sprachen und aufeinander hörten. Innozenz III., auf dem Höhepunkt der weltlichen Macht der Päpste, sprach mit Franz von Assisi, hielt seine radikale Kritik an der reichen Kirche aus, gab ihm Raum. Er anerkannte die Bettelorden. Das Neue durfte im Alten wachsen und führte die abendländische Kirche zu ihrer höchsten Blüte. Nicht ohne sich mit dem linken Flügel der Franziskaner zähe Probleme einzuhandeln, nicht ohne furchtbare Schatten wie die Katharerkreuzzüge – aber man war im Gespräch, und man war glaubwürdig für die Jugend. Mit Luther hingegen sprach niemand. Schon seinen ersten Brief beantwortete sein Bischof nicht. Stattdessen strengte er sofort einen Ketzerprozess an: weil er sich gegenüber den Fuggern, die den Ablasshandel organisierten, in wirtschaftliche Abhängigkeit begeben hatte. Er war ökonomisch nicht frei.

Reibungen

Fokussiert ein Fotograf ein Detail, tritt es scharf hervor; der Hintergrund verschwimmt. Will er aber das Ganze im Blick halten, bleiben interessante Details klein, gehen unter. Jeder Fokus hat Grenzen. Jede Sprache nimmt manche Verhältnisse deutlich wahr, andere bleiben unscharf oder finden sich ausgeblendet. Einer Sprache ihre Begrenztheit als solche zum Vorwurf zu machen, wäre wenig durchdacht. Allen Sprachen stellt sich die Aufgabe, neben der sorgfältigen Pflege des eigenen Fokus auch auf die der anderen zu hören, die eigene Position auch von außen wahrzunehmen und sich von ihr in Frage stellen zu lassen. Auch wenn das etwas unbequem ist und Arbeit verspricht. Am Dialog über Interessen- und Sprachgrenzen hinweg führt, zumal in komplexem Gelände, kein Weg vorbei. Treten wir also in die verschiedenen Sichtweisen ein, begegnen wir Spannungen zwischen den Interessen und den Sprachen der Beteiligten! Das sorgfältige Hören auf die Differenzen ist der erste Schritt zu ihrer Versöhnung.

Die wichtigste Reibung liegt in der Unmöglichkeit, den sich bildenden Menschen und die Tätigkeit der Bildungsinstitution ganz oder auch nur überwiegend in ökonomischer Sprache zu beschreiben. Dieser Versuch liegt, in den meisten Leitbildern und in allen Strategien der Deutschschweizer Universitäten vor. Diese Verkürzung und Vereinnahmung des werdenden Menschen ist mit Aufklärung, Demokratie und Liberalität unvereinbar.

Eine zweite Spannung ergibt sich aus dem Verhältnis zwischen der Begegnung sich bildender Menschen an der Basis und steuernder Großinstitutionen, die verschiedene Sprachen sprechen müssen. Nach Klaus Mertes überrollt die Sprache der Zentralinstitutionen diejenige der bildenden Begegnung. Dieser Analyse scheint zu entsprechen, dass Josef Widmer sich auf eine systemische Sprache beschränkt, und Michael Hengartner von institutionellen Notwendigkeiten – der Führung einer Massenuniversität, der Integration Europas – her argumentiert.

Ein dritter Punkt betrifft die Offenheit der ökonomischen Sprache für die Logik anderer Sprachen. Die wirtschaftliche Sprache kann Worte aus anderen Sprachen übernehmen und ins Zentrum stellen, etwa den »guten Lehrer« bei Ulrich Looser, die »Persönlichkeitsentwicklung« oder den »Widerspruchsgeist« bei Mara Häusler. Aber damit tritt sie noch nicht in das betreffende Phänomen und seine innere Logik ein. In der betriebswirtschaftlichen Sprache, die das zugreifende Handeln und Kontrollieren fokussiert, bleibt die Eigendynamik des geforderten Phänomens verdeckt: ihr Ereignischarakter und der Kontrollverlust, den man zulassen muss, damit die gewünschte Bildung – eintritt? Eben nicht. Nur: eintreten kann. Den guten Lehrer kann kein System effizient herstellen. Und niemand kann die Reife seiner Persönlichkeit gezielt ansteuern. Am Tor dieser Prozesse steht eine Erfahrung der Ohnmacht, eine Öffnung, ein Loslassen. Man kann nur die Bedingungen verbessern, Räume öffnen für Auseinandersetzung, Selbstzweifel, für Lebensphasen ohne sichtbaren Erfolg – möglicherweise ineffizient, horribile dictu, aber tatsächlich: Ohne Hören des Fremden auch in sich selbst, ohne Infragestellen eigener Werte, ohne Konflikt ereignet sich die bildende Beziehung nicht. In die Logik des guten Lehrers tritt die pädagogische Sprache Carl Bossards ein. Leserin und Leser spüren, wie sie sich nicht bruchlos in den Gedankengang Loosers einfügt: denn hier steht die Gegenseitigkeit der Beziehung, nicht mehr die gezielte Intervention eines organisierenden Ichs im Zentrum. Wie die geforderten guten Lehrer zu der Begeisterung kommen, derer sie zwingend bedürfen, um sie vermitteln zu können – ob stark verschulte und verplante Studiengänge mit wenig Raum und Förderung für Distanz und Selbstreflexion diese Fähigkeiten fördern: Darüber kann die ökonomische Sprache nichts sagen, davon versteht sie nichts. Sie handelt vom sinnvollen Umgang mit äußeren Ressourcen, mit Dingen. Der Mensch aber, der Jemand, das Wesen der Gegenseitigkeit steht in einer ganz anderen Logik. Aber – sind nicht Marktbeziehungen genau solche Gegenseitigkeiten? Dieser Einwand würde noch einmal zeigen, wie eine tragfähige Lehrer-Schüler-Beziehung dem ökonomischen Blick entgeht. Sie lebt genau nicht vom berechenbaren Nutzen, sondern vom Vertrauen.

Eine weitere Frage entzündet sich an der Modularisierung der Studiengänge. Michael Hengartner fordert größere, zusammenhängende Unterrichtseinheiten und ihre stärkere gegenseitige Vernetzung. Jonathan Gardy dagegen beschreibt sein großräumig modularisiertes Studium als Entmündigung. Für Erlösung hat man sich genau im vierten Semester zu interessieren, für die Reformation erst im Master. Hier wird aneinander vorbeigesprochen. Der eine spricht von sachlichen Erfordernissen; der andere von Selbstaktivität, von Freiheit, aus der Sicht von Gesellschaft und Institution also von einem Kontrollverlust. Hengartner spricht von institutionellen Sachzwängen, Gardy von Macht.

Fragen gibt es also genug! Nun bilde sich der geneigte Leser, die geneigte Leserin selbst – eine eigene Meinung!

Dank

Vielen, sehr vielen ist der Herausgeber in Dankbarkeit und Freundschaft verbunden. Allen voran Marielle Hofer, damals im Master Psychologie, die sich mit Feuereifer und unermüdlicher Arbeitsfreude für die Tagung begeisterte. In den zwei Jahren der Vorbereitung war ihr keine Arbeit zu viel, kein Aufwand zu hoch. Ohne Marielle wäre die Tagung nicht zustande gekommen. Niklaus Brantschen SJ, Leiter des Lassalle-Instituts, förderte das Projekt klug und zugewandt, auch mit kritischen Fragen und Einfordern der nächsten Schritte. Prof. Andreas Hack, Direktor des Instituts für Organisation und Personal IOP der Universität Bern, gab dem Vorhaben einen akademischen Ort und finanzierte die Projektassistenz. Auch die Trägerschaft des aki, der Katholischen Hochschulseelsorge in Bern, gab grünes Licht. So konnten wir das ehrgeizige Projekt namens einer Kirche durchführen, der die Lebensbedingungen ihres Milieus nicht gleichgültig sind. Im Zusammenwirken der drei Träger, ihres Knowhows und ihrer Netzwerke wurde Schritt für Schritt ein weit ausgreifender Dialog möglich. Erwin Koller, Begründer und langjähriger Moderator der Sternstunden des Schweizer Fernsehens, gab ihm auf der Tagung mit Engagement, Empathie und Witz eine ansprechende Gestalt.

Zuverlässig, stets ansprechbereit und wach mitdenkend verwaltete Katharina Schürpf vom Lassalle-Institut die Anmeldungen und Finanzen. Eleanora Erne, Cello, und Benjamin Kieser, Klavier, haben uns wunderbar inspirierte Zwischenräume geschenkt. Die Mitarbeitenden des ZFV Caterings und Urs Rothmayr haben uns mit Berner Spezialitäten freundlich bewirtet. Die Fotos von Basil Schweri und Lea Schlunegger verleihen den Atmosphären der Tagung sensibel Ausdruck. Eberhard von Kuenheim, Sandro Christensen, Mara Häusler, Adriana Hofer und Selina Abächerli haben Foti zur Verfügung gestellt. Franzisca Frania besorgte die Transkription der drei Interviews. Die Geschwister-Mäder-Stiftung, Zürich, hat die Tagung mit einem namhaften Beitrag erst möglich gemacht. Gabriele und Andreas Beuchert im badischen Mosbach haben mit einer großzügigen Spende zur Drucklegung dieses Bandes beigetragen.

Zahlreiche Studierende ganz verschiedener Fächer haben sich für unsere Tagung engagiert: neben unseren studentischen Autorinnen und Autoren haben André Lourenço (Philosophie), Anja Hufschmid (BWL), Alina Guggenbühl (PH Primarstufe), Bernhard Cerff (Medizin), Florian Möri (Jus), Janine Trachsel (BWL), Marcel Zwyssig (Psychologie), Max Portmann (BWL), Michelle Wyler (Religionswissenschaft), Myrtha Mathis (Biologie), Robin Sheppard (BWL), Samira Frei (Geschichte) und Sebastian Casas (VWL) je an ihrem Ort das Gelingen der Tagung ermöglicht.

Weitere nahmen teil, dachten und diskutierten mit. Die wache, tätige Beteiligung der etwa 50 Studierenden fiel auf. Während an der Universität viele Dozierende über wenig aktive Mitarbeit klagen, meldeten sich die jungen Leute, sobald sich die Möglichkeit dazu bot, eifrig und konzentriert zu Wort. Es macht lebendig, sich mit den Zielen des eigenen Bildungsweges, des eigenen Werdens auseinanderzusetzen. Vitale Fragen setzen in der Auseinandersetzung Kräfte des Engagements und der Kreativität frei, von deren Existenz der Lernende oft gar nicht wusste. Wer leidenschaftlich fragt, in existenziell betreffenden Fragen, stößt auf neue Kraftquellen. Allen, die solches Fließen zugelassen und so unser Fragen, Hören und Sprechen mitgetragen haben, gilt mein herzlicher Dank!

Wirtschaftliche Stimmen


Thomas Sattelberger: Bildung neu denken – Kreation und Transformation statt Ökonomisierung und Anpassung


Thomas Sattelberger * 1949, gehört zu den führenden Personalmanagern Deutschlands. Er begann seine Karriere bei Daimler Benz. 1994 wechselte er zur Lufthansa. Dort gründete er mit der Lufthansa School of Business die erste Corporate University in Deutschland; 1999 wurde er Vorstand Passagiergeschäft. 2003 wurde er Personalvorstand beim Automobilzulieferer Continental, 2007–2012 nahm er dieselbe Position bei der Deutschen Telekom ein. Dort führte er u. a. eine Frauenquote von 30 Prozent im gesamten Führungsteam ein. Sattelberger ist vielfältig engagiert, u. a. als Vorstandsvorsitzender der BDA-/BDI-Initiative MINT Zukunft schaffen. Er kandidiert für die FDP für den Deutschen Bundestag.

Bildung neu denken – Kreation und Transformation statt Ökonomisierung und Anpassung

> Interview: Thomas Philipp, Marielle Hofer

Thomas Sattelberger, seit 40 Jahren sind Sie im Personal- und Bildungswesen tätig und gestalten es in führenden Positionen mit. Wo stehen wir heute?

In einer ganzen Reihe von Paradigmenwechseln! Was das Thema Demokratie betrifft. Das Thema Migration. Und den Übergang von der Industrie- in die Wissens- und Kreationsgesellschaft. In der Wirtschaft wissen heute viele, dass Kreation angesagt ist, wir aber noch in Strukturen leben, die Effizienz optimieren. In den einzelnen Zellen des Gefängnisses ist das Wissen da, aber das System wird noch nicht geöffnet. Eine schwierige Lage, weil man jetzt beide Systeme nebeneinander fahren müsste! Man kann nicht abrupt umschalten, sondern muss – was man Kannibalisierung nennt – aus den alten Systemen noch die Renditen erwirtschaften, um in unbekanntem, neuem Terrain zu investieren. Ohne zu wissen, ob das erfolgreich sein wird.

Entsprechend sieht es im Bildungssystem aus. Es war überfällig, es mit Effizienzkriterien zu konfrontieren. Wie lang braucht man für eine Ausbildung? Wie lang darf man studieren? Kann man die Schule verkürzen? Kann man Inhalte effizienter aneinanderketten? Kann man Prüfungsleistungen vergleichen und optimieren? Die Industrie hat diese Fragen schon in den 90er-Jahren gestellt, während sich die Bildungspolitik damals in Deutschland und auch in der Schweiz ganz aus internationalen Bewertungen zurückzog, ohne zu merken, dass sie nur noch Überzeugungstäterdebatten führte. PISA schallte als Weck- und Alarmruf der Effizienz durch Europa; die Skandinavier und einige Asiaten hatten mit Sieben-Meilen-Stiefeln ein effizientes Bildungssystem aufgebaut. Wir nicht!

Von der Effizienz zur Kreation

Wie so oft wurde daraus ein Übermaß; das Pendel schwang viel zu weit aus. Denn am Horizont deutete sich schon an, dass sich das Zeitalter der industriellen Massenproduktion und der industrialisierten Bildung dem Ende entgegenneigt. Ich sage das nicht, um anzuklagen, sondern einfach historisch: So ist es gelaufen. So wie die Wirtschaft Räume braucht, wo sie noch ihre Margen erwirtschaftet, um in unbekannten Terrains zu innovieren, muss die Hochschule in den Räumen der Effizienz Wissen reproduzieren, aber deutlich weniger als bisher, und schnell viel mehr Räume für Kreation öffnen.

Ich habe mit Interesse gesehen, dass die deutsche Kultusministerkonferenz (2016) eine Reform der Reform ankündigt: Im ersten Jahr sollen nicht alle Noten für den Bachelorabschluss zählen, der Druck auf die Studiendauer wird etwas zurückgenommen, die Prüfungsordnung leicht enttaktet. Es ist nur eine Absichtserklärung, und wahrscheinlich wird es sehr lang dauern. Ein erstes zartes Pflänzchen.

Ob die Kultusminister die Zeichen der Zeit erkannt haben? Wir brauchen keine apolitischen Absolventen, die nur auf Job und Sicherheit schauen, ohne den Kontext, in dem sie arbeiten, reflektieren zu können. Wir haben eine Generation von Anpassern produziert. Der Studierendensurvey (2012/13) des deutschen Bildungsministeriums zeigt, dass sich nur noch eine Minderheit der deutschen Studierenden politisch interessiert. Die meisten sehen ihre Zukunft im öffentlichen Dienst oder im Großkonzern (vgl. S. 202). Das zeigt etwas! Sodass ich jetzt hoffe – Absichtserklärungen sind ja immer Hoffnungen –, dass das Pendel ein kräftiges Stück zurückschwingt. Sodass aus der Kultur der Maschine – man kann auch die Universität wie eine Maschine betreiben – in großen Bereichen wieder eine Kultur der Kreation entsteht. Aus einer Kultur purer Reproduktion von Wissen, zu der die Bologna-Reform verkommen ist, soll auch wieder eine Kultur der Neuschöpfung und Neukombination von Wissen werden!

Wie geraten Effizienzdenken und Kreation denn in Widerspruch?

Die wirkliche Frage ist, ob ich in der Steuerung einer Universität oder eines Unternehmens beide Logiken vereinen kann. Das fordert Ambidextrie, Beidhändigkeit. Mit der linken Hand so gut sein wie mit der rechten. Innovation ermöglichen und Margen reinbringen. Die meisten Unternehmensführer – Frauen gibt es ja ganz wenige – tun sich extrem schwer, in der Phase des Übergangs zwei Welten zu schaffen. Sie sind ja in alten Routinen ausgebildet worden und haben mit ihnen ihre Erfolge gezeitigt. Das gilt auch für Hochschulrektoren und Dekane, die 15 Jahre Effizienz gestaltet haben. Können Menschen des alten Systems es öffnen und erneuern? Das ist die größte Schwierigkeit. Den Studierenden gelingt dieses Um- und Verlernen schneller.

Das Problem liegt also nicht so sehr in der Sache als in der Bildung, in der Formung einer Generation von Verantwortlichen?

So ist es. Wie können Manager, vor 30 Jahren für die Effizienzmaschinen des 20. Jahrhunderts ausgebildet, oft in Unternehmen, die aus dem 19. Jahrhundert stammen, eine neue Ära einläuten? Das Gleiche gilt für Hochschulrektoren. An der Universität hängen wenige Experimente häufig an wenigen fortschrittlichen Professoren oder Dekanen. Mit deren Pensionierung sind selbst diese zu Ende. Ein Subsystem bleibt abhängig vom Gesamtsystem; nachhaltig ist nur ein Wandel des Gesamtsystems. Deshalb ist die Schlüsselfrage: Wie schaffen wir die institutionelle Weiterentwicklung des Gesamtsystems? Da gibt es zwei Wege. Der eine besteht sozusagen in einer Reevangelisierung der gesamten Universitäten mit alt-neuem Geist. Solche Kulturreformen sind mühselig, Systeme sind ja so träge!

Ich staune, dass Sie das religiöse Wort verwenden! Was verstehen Sie unter Evangelisierung?

Ich kann auch humanistische Aufklärung sagen. Bewusstsein verändern, mit Hegel: Das Bewusstsein bestimmt das Sein. Der zweite Weg liegt in einer neuen Struktur, eher marxistisch: Neues Sein ermöglicht neues Bewusstsein. Wahrscheinlich ist beides wahr.

Heute teilen sich manche Firmen. Das alte Geschäft – etwa alte Energien und zentrale Energieversorgung – wird in der alten Struktur unter Effizienzgesichtspunkten weitergeführt; das neue Geschäft – etwa regenerative Energien und dezentrales Energiemanagement – tritt in einer eigenen Struktur daneben; verzahnt, aber eigenständig. An der TU München bin ich Schirmherr des MakerSpace: 2000 Quadratmeter modernster Technologie, teure große und kleine Geräte, etwa 3D-Drucker. Mit einer neuen Lernphilosophie: Die Studierenden überlegen selbst, was sie machen möchten, und probieren es aus. Warum hat die TU den MakerSpace nach Garching ausgelagert, als eigenes Institut?

Um dem Neuen Raum zu geben?

Ja! In der Hoffnung, dass das alte Immunsystem es so nicht abstößt. Mit dem Risiko, dass das Neue sich nie richtig verzahnt mit dem Alten. Wähle ich also einen evangelisierenden, humanistischen Ansatz der Veränderung, wie eine Graswurzelbewegung, bottom-up, oder top-down einen strukturpolitischen Ansatz? Oder ein Hybrid?

Thomas Kuhn meinte, dass sich ein neues Paradigma in der Wissenschaft erst dann durchsetze, wenn die Alten gestorben seien. Da war er pessimistisch …

Auch Max Planck hat gesagt: Fortschritt der Wissenschaft bewegt sich nur über den Tod des Alten … Wahrscheinlich sollen wir beide Ansätze mischen. Einerseits Evangelisierung, mit neuem, wirklich bekehrtem Personal an der Spitze. Pfingst­erlebnisse gibt es ja immer noch. Dass Saulus zum Paulus wird, ist möglich! Daneben brauchen wir strukturell separierte Experimentierräume, die zeigen können, dass das Neue blüht und gedeiht. Nicht bloß kleine Höhlen oder unterirdische Gänge, die ein fortschrittlicher Professor anlegt und hofft … Ich habe zu viele isolierte Reformanstrengungen an Schulen und Hochschulen erlebt, um noch zu glauben, dass das der erfolgreiche Weg sei. Den Leuchttürmen drehen die Menschen meistens den Rücken zu. Also braucht man neue Führung.

Die Wahl eines neuen Universitätsrektors bedeutet meist einen Machtkampf. Die einen verbinden Macht mit Erhaltung des Status quo, die anderen verbinden Macht mit Reform. Die dritten verbinden Macht mit Macht. Schaffen es da die fortschrittlichen Kräfte, eine Koalition zu bilden, sodass die Spitze Reformen in die richtige Richtung dirigiert, in diskursivem Prozess mit den Stakeholdern? Ich sehe Rektoren nicht als Heroen, es geht um stakeholderbasierte Diskursprozesse.

Ein guter Freund hat das an der Universität Innsbruck lange Jahre versucht. Ich kenne die Wunden, die das hinterlässt. Sie müssen alte Mächte ablösen und einen Teil der Organisation evangelisieren. Und Sie müssen Sorge tragen, dass neue Strukturen das Neue schützen. Vor dem Alten! Im Dreiklang – alte Struktur, Kulturwandel und Parallelstruktur – kann sich die Institution nach vorn bewegen. Auch die Universität, die durch Ordinarienstruktur und Silo-Disziplinen träge ist. Bis die Human- in die Ingenieurwissenschaften einfließen, gehen in den deutschsprachigen Ländern noch 20 Jahre ins Land! Oder bevor die Technologie in die Humanwissenschaften einfließt oder die Sozialwissenschaften in die Ökonomie. Wir brauchen eine Aufweichung der Ordinarienstruktur und der Disziplinen, um nicht überall vor Gefängniszellen zu stehen und zu sagen: Da müssen wir ausmisten!

Leider haben wir nicht so viel Zeit, wie Thomas Kuhn einem Paradigmenwechsel gab. Viele Unternehmen haben extremen Bedarf, Kreativität zu gewinnen und unkreative Räume zu tilgen. Wie schnell wächst China heran, in unserem alten System, im Maschinenhaus! Wie schnell enteilen uns die USA, wirtschaftlich und digital! Wir können es uns nicht leisten, für die teilweise Rückabwicklung der Bologna-Reform so lang zu brauchen wie für ihre Einführung. Es muss schneller gehen.

Im Mittelpunkt Ihrer These steht die Kreation. Was genau verstehen Sie darunter? Kann es davon auch zu viel geben?

Wo es wenig Raum für Kreativität gibt, diskutiere ich ungern schon über Grenzen. Leben lassen, bevor ich eingrenze und normiere! Veränderung fängt in grauen, schmutzigen, manchmal chaotischen Räumen an. Wer gleich mit Angst herangeht und fragt, wie er das Überflüssige begrenzen kann, macht zarte Pflänzchen kaputt. Heute geht es darum zu ermöglichen, dass das Individuum wieder sucht, reflektiert und analysiert. Und urteilt! Was ein Mensch dann kreiert, ist gar nicht so wichtig. Es kommt darauf an, Räume zu schaffen, in denen Menschen verantwortlich Dinge untersuchen, bewerten und zu einer Entscheidung kommen, die zum Handeln befähigt. Also erstens wecken. Dann fördern: Hochschulen sollen Financiers der Interessenlagen, Motivationen und Leidenschaften ihrer Studierenden werden! Wenn sich nur wenige für frühmittelalterliche Literatur interessieren, soll man kein Streichen des Angebots diskutieren, sondern digitale Lernformen, verbunden mit anderen Universitäten, die ermöglichen, dass jemand dieser Leidenschaft frönen kann! Oder: Wie kann ich der Leidenschaft eines Ökonomen entgegenkommen, schon in den ersten Semestern empirisch zu forschen? Sodass schon früh der iterative Prozess von Theorie, Praxis, Evaluierung, Theorie, Praxis, Evaluierung … stattfindet. Die Universität muss individueller werden.

Führen hieße dann Kreation fördern: »Wie kann ich ermöglichen?«

Wie kann ich ermöglichen, ja. Wie kann ich Rahmen geben, dass? Wie kann ich Infrastruktur geben, dass? Die Aufgabe der Individualisierung stellt sich auch der Wirtschaft. Die Potenziale der Kreation jedes Menschen sind ja ganz anders, ganz einzigartig. Wenn ich alles nach DIN A4 abarbeite, fallen nicht nur die Leute raus mit IQ 140 – über die intensiv diskutiert wird –, sondern auch jene mit anderen Begabungen und anderem Potenzial. Das betrifft auch das Verhältnis von Hand- und Kopfarbeit. Ich habe Vorlesungen gesehen, in denen auch handwerklich gelernt wurde. Wo Studierende Brücken bastelten: immer zu dritt, über die Reihen hinweg – und damit selber experimentieren. Wie kann ich an Potenzialen, Begabungen, individuellen Leidenschaften ansetzen? Ein zentrales Thema! Das verlangt Räume, in denen ein Mensch sich entfalten kann. Auf der anderen Seite gibt es bestimmte Normierungen, die jeder können muss. Rechnen, Schreiben, Lesen in der Schule und neu das digitale Coding, die Grundlagen des Programmierens, sind unverzichtbare Kulturtechniken, die wir effizient vermitteln müssen.

Wollen sich Menschen überhaupt zu mehr Kreation und Transformation führen lassen? Sind sie nicht ganz zufrieden, wenn man ihnen sagt: »Das ist das Nächste, und dann das, und dann ist gut, dann bekommst du deine Anerkennung«?

Ist auch in Ordnung! Wir finden vielerorts Menschen, die sagen: Ich finde den Status quo gut. Dann soll die Hochschule ihnen den Status quo ermöglichen. Die Frage heißt: Ermöglicht die Kultur und Struktur der Hochschule Vielfalt – oder normiert sie Einfalt? Die gleiche Diskussion über das Ausdifferenzieren, das Managen von Vielfalt, das Ermöglichen von Potenzialentfaltung beschäftigt die Pädagogik an den Schulen. Das Thema setzt sich in den Betrieben fort. Interessanterweise kreieren Firmen, die sich eher der Avantgarde zurechnen, Aufgaben um den Menschen herum. Sie verzichten auf Aufgabenbeschreibungen, in die der Mensch hineinzupassen hat. Eine ganz andere Form der Talentpolitik! Organisation ad rem oder ad personam? Menschenbeglückung oder die Option der Freiheit?

Also niemand zur Kreation nötigen?

Nein, ganz und gar nicht.

Ein ethischer Fortschritt?

Wer auf Kreation setzt, muss dezentraler führen. Fördert dieser Führungsstil moralisches Handeln stärker als die zentralistische Kontrolle des Effizienzmodells?

Dezentrale Strukturen erzwingen größere Verantwortung nicht, aber ermöglichen sie. Und mit Sicherheit schaffen sie mehr Transparenz. Die Organisationsforschung spricht hier von loosely coupled systems …

Lose vernetzte Systeme – das hatten Sie bei Continental …

Ja. Über diese Fragen habe ich sehr viel nachgedacht. Effizienzorientierung fragt immer nach internen Synergien, nach der Standardisierung interner Prozesse. Wie können wir siebzehn verschiedene Marken von VW auf eine gleiche Plattform stellen, um effizienter zu produzieren? Zentralismus und Synergie. Aber nur interne Synergie! Nicht Synergie beim Kunden, beim Partner, beim Lieferanten, auf den Märkten draußen! Dann beglücke ich die Menschen draußen eher mit Einfalt als mit Vielfalt. Die Synergiediskussion der letzten zehn Jahre hat interne Abläufe fokussiert: mit geringeren Ressourcen das Gleiche erreichen oder mit gleichen Ressourcen mehr. Der Blick für die Motivationen der handelnden Akteure, der Stakeholder, ging verloren. Das hat dazu beigetragen, dass Unternehmen autistisch geworden sind. In meinem Berufsleben habe ich unterschiedlichste Strukturen erlebt. Im Rückblick wird mir bewusst, dass die beste die bei Conti war. Extreme Dezentralisierung, extreme unternehmerische Verantwortung. Jeder musste ein Ergebnis bringen, das diskussionsfähig war – Antwortfähigkeit nannten wir das. Die Freiheit, über das Was zu entscheiden und nicht nur über das Wie, war außerordentlich hoch. Eine dezentrale Struktur gibt ganz andere Möglichkeiten zu experimentieren. In monolithischen Strukturen kommt gleich die Frage: Ja, was passiert denn da links nebenan? Das will ich auch haben! Oder: Das darf nicht sein! In dezentralen Strukturen können Sie eigene Logiken entwickeln. Und die Ansteckungsgefahr ist geringer, wenn ein Subsystem erkrankt. Dem steht als Nachteil gegenüber, dass die Fliehkräfte sehr stark werden. Nichts ist ohne Schatten. Deshalb hat Google begonnen, die Geschäfte aufzuteilen und sich als kleine Holding darüber organisiert. Weil monolithische Strukturen zwar Effizienzen steigern können, aber die Risiken der Normierung zu hoch sind. In der jetzigen Phase ist die beste der schlechten Organisationsformen die Dezentralität, das loosely coupled network.

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