Kitabı oku: «Welche Bildung braucht die Wirtschaft?», sayfa 4

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An der Tagung haben Sie den Akzent auf die Herzensbildung gelegt. Welche Bedeutung geben Sie ihr, wenn Sie Menschen anstellen? Was heißt das dann konkret?

Das heißt für mich zu spüren, wie die soziale und emotionale Intelligenz ist. Die Fähigkeit zum Dialog; wirklich zuzuhören – also nicht einfach nur Kopfnicken, sondern das verstehende Zuhören, das konstruktive Zuhören, das ganz wichtig ist für Kooperation und Lösungsorientierung. Empfinden, wo Menschen stehen, sie abholen lernen, Menschen für mein Ziel begeistern und im Team und Partnern gegenüber Wertschätzung ausdrücken können. Das heißt nicht immer, alles zu loben! Wertschätzung bedeutet, bewusst und fördernd: Kritik zu äußern und selbst einstecken zu können. Oft beherrschen das sehr einfache Menschen besser, agieren emotional und sozial intelligenter als manche Pseudogebildeten.

Welche Erfahrungen fördern denn das Wachsen der Herzensbildung? Und welche behindern es?

Elternhaus und Schule sind sehr entscheidend; der Freundeskreis und das berufliche Umfeld spielen ebenfalls eine große Rolle. Dabei denkt man zunächst nur an die positiven Vorbilder. Sehr viel Herzensbildung entsteht aber gerade auch durch die negativen Beispiele! Es gab viele Situationen, in denen ich sagte: »Genau so würde ich mich verhalten wollen!«, weil ich die handelnden Personen einfach großartig fand. Aber bei Führungskräften, die mit Leuten unmöglich umgegangen sind, hab ich manchmal mehr gelernt als aus den positiven Beispielen – weil ich mir dann immer wieder gesagt habe: »Bitte, so möchte ich nicht werden!« Und natürlich habe ich mich in der Reflexion oft dabei erwischt, dass ich mich genau so verhalten habe und wieder mal in die Falle hineingetappt bin.

Sie sagten, die Familie sei sehr wichtig, aber auch die Schule. Welche Erfahrungen müsste die Schule, müsste später die Universität möglich machen, damit diese Herzensbildung sozusagen mitwachsen kann im Werden eines jungen Menschen?

Erst mal geht es um Wissen. Das viel kritisierte sogenannte »Bulimie-Lernen« hat irgendwie immer dazugehört. Man muss halt auch lernen, mit einer großen Menge Wissen und komplexen Situationen umzugehen. Aber spätestens wenn man das Grundwissen hat, wenn es darum geht zu vertiefen, muss man jungen Menschen beibringen, sich immer darüber Gedanken zu machen, warum sie etwas tun, was eigentlich das Ziel ist.

Ein typisches Beispiel aus der Praxis: Da kommt eine Werkstudentin zu mir, soll eine Präsentation machen und fängt einfach wild an, Bilder zusammenzusuchen, statt sich erst mal zu überlegen: Was will sie erreichen? Will sie die Menschen erschüttern, will sie sie begeistern, will sie sie motivieren? Wen wird sie vor sich sitzen haben? Wie sind diese Menschen drauf, wie ist sie selbst drauf? Sich also erst mal mit dem zu beschäftigen, was hinterher zwischen den Zeilen steht – ich glaube, dass das fast nicht gelehrt wird. Man lernt eben: Gliederung, Problemstellung, Hauptteil, Schluss. Aber nicht so sehr: Was will ich damit eigentlich? Dann muss man auch lernen, strukturiert den Weg zum Ziel zu beschreiben. Dieses Fokussieren ist sehr wichtig. Statt achtzig Sachen gleichzeitig zu machen, sich zu fragen: Was sind die drei bis fünf wirklich wichtigen Dinge? Das hat auch sehr viel mit Disziplin zu tun, getreu dem Wort des großen Pianisten Vladimir Horowitz: »Erfolg ist 95 Prozent Transpiration und 5 Prozent Inspiration …«

Ein Bildungssystem soll Menschen vermitteln, dass sie sich einbringen können. Dass sie nicht nur ein anonymes kleines Rädchen sind, sondern – um mit Pater Dienberg zu sprechen – dass sie da, wo sie sind, etwas bewirken können. Zum Beispiel, indem sie den Mut haben, konstruktiv zu widersprechen! Dazu gehört die innere Unabhängigkeit – es wäre sehr schön, wenn Bildungsinstitutionen ­Hierarchien relativieren und sagen könnten: »Das sind auch Lernende!« und »Bleib unabhängig!« und »Sag ihnen einfach, was du denkst!«

Zu Bildungserfahrungen, die so etwas beflügeln können, gehört das Üben. Es gibt Universitäten und Fachhochschulen, wo Studierende als Projektarbeit selbst kleine Unternehmen gründen, in denen Teams miteinander ausprobieren, wie man sich Aufgaben zuordnet, wie man diesen Alltag miteinander »trainiert«. Wenn hier der Mut zum Widerspruch positiv aufgegriffen und konstruktiv zugehört wird, dann könnte das sehr beflügelnd wirken.

Also auch da wieder eine lebendige Praxis des Dialogs, die das fachliche Wissen wie durchlässig macht …

Ergänzt, genau.

… für dieses Ich und Du, das den Standpunkt des Lernenden stärkt und aufbaut.

»Ergänzt« ist eigentlich sogar zu wenig … das ganze Wissen, das natürlich vermittelt werden muss, sollte eingebettet werden in die Praxis des Dialogs. Indem ich all das, was ich mal als Wissen gelehrt habe, mit den Studierenden ausprobiere. So stell ich mir das vor. »Jetzt machen wir mal Alltag, wir gründen ein kleines Unternehmen … Wer ist der Personalchef?« Da geht es ja schon los! »Wer übernimmt jetzt welche Aufgabe?« Diese kleinen Machtkämpfchen, wie löse ich die jetzt? Wer macht was, wer muss zu welchem Ziel wie beitragen?« Da gibt es ganz tolle Beispiele. Aus solchen Umgebungen kommen die stärksten Werkstudenten und Mitarbeiter.

Können Sie sagen, was Sie selbst in Ihrem Mut zum Widerspruch bestärkt hat?

Ich war sehr schüchtern und hatte große Angst vor dem Reden, schon vor dem Telefonieren. Ich habe dann alles, was beflügelnd war, aufgenommen. Wenn ich mich mal getraut habe und das dann positiv aufgenommen und verstärkt wurde, dann hat mich das so sehr ermutigt, dass ich es wagte, den nächsten Schritt zu machen.

Können Sie von einer Situation erzählen, die Ihren Mut zum Widerspruch stark herausgefordert hat?

Das waren natürlich sehr viele! Es gibt so etwas wie einen roten Faden: Ich fühle mich immer dann herausgefordert, wenn Menschen meiner Meinung nach unfair behandelt werden.

Da haben wir wieder die Ethik …

Gerade wenn es um Besetzungsentscheidungen ging. Da geht es ja nicht nur um die Person, die entgegen ihrer Kompetenz ausgewählt wurde. Wenn jemand Falsches auf Führungspositionen gesetzt wird, läuft ja nicht nur er oder sie Gefahr zu scheitern, dann leiden ganze Organisationen. Oder wenn Vorgesetzte, Lehrer oder Professoren Mitarbeiter oder Schüler unfair behandelt haben. Da konnte ich mich meistens nicht bremsen.

Was macht für Sie einen gebildeten Menschen aus?

Für mich ist ein gebildeter Mensch jemand, der im Kopf Wissen und Klugheit besitzt, aus dem Herzen heraus den Menschen zugewandt ist und die Gabe hat, seine Talente für alle nutzbringend einzusetzen.

Michael Heim: Reifen, Leisten, Leben – Erfahrungen mit Bologna-Absolventinnen und -Absolventen


Michael Heim * 1966, Dr. Ing., Coach, Berater, Systemischer Naturtherapeut, studierte in Aachen und Lyon Energie- und Verfahrenstechnik. Bis 2015 Bereichsleiter für Strategisches Produkt-Marketing bei Endress + Hauser. Seit 2016 selbstständiger Berater: www.nature-and-progress.de.

Reifen, Leisten, Leben – Erfahrungen mit Bologna-Absolventinnen und -Absolventen

Um meine Erfahrungen mit Absolventinnen und Absolventen eines Studiums nach Inkrafttreten des Bologna-Prozesses und der daraus abgeleiteten Empfehlungen einordnen zu können, möchte ich zunächst meinen eigenen Werdegang offenlegen. Meine Bildungserfahrung ist recht typisch für einen naturwissenschaftlichen Akademiker, der in den 60er-Jahren in Deutschland geboren wurde. Sie ist geprägt von Erfahrungen auf einem humanistischen Gymnasium mit 1400 Schülern in sechszügigen Jahrgängen; von Erfahrungen auf einer Massenuniversität, an der allein im ersten Semester des Maschinenbau-Studiums knapp 1000 fast ausschließlich männliche Studenten sich einen klassischen, angesichts des aufkommenden digitalen Zeitalters teils schon veralteten Kanon einverleibten; von Eindrücken distanziert wirkender Professoren, von denen einige explizit bedauerten, dass es uns zum Medizinstudium ja offensichtlich nicht gereicht hat.

Aber sie ist auch geprägt von einer herzlichen und interessierten Institutsatmosphäre im Hauptstudium, von einem Erasmus-Programm, das mir in Frankreich eine andere, viel wertgeschätztere Art des Studiums ermöglichte. Und sie ist schließlich geprägt von der Abhängigkeit von einem patriarchalischen Doktorvater, der einen Touch großindustrieller Herrlichkeit in die beschaulichen Hallen des universitären Forschens brachte – im Gegenzug aber standesgemäß seine schützenden Hände über seine Zöglinge hielt und über Drittmittel erstaunliche Kontakte und Projekte umsetzte. Es liegt mir also fern, hinsichtlich unserer Bildungslandschaft von einer guten alten Zeit zu reden. Dennoch gibt es Aspekte des klassischen Studiums zum Diplomingenieur, die mir bewahrenswert erscheinen.

In meine Reflexionen fließen schließlich 20 Jahre industrielle Praxis ein – in den letzten acht Jahren aus der Perspektive des Verantwortlichen für das strategische Marketing an einem Standort eines erfolgreichen mittelständischen Unternehmens mit rund 14 000 Mitarbeitern weltweit und einem Jahresumsatz von gut 2,5 Milliarden Euro. In diesem Unternehmen hat die Ausbildung einen hohen Stellenwert. Jedes Jahr stellt der von mir referenzierte Standort mit knapp 2000 Mitarbeitern 40 Lehrlinge ein, er unterstützt aktiv 50 Studenten auf unterschiedliche Weise in ihrem Studium und begleitet etwa 70 Bachelor- und Masterarbeiten.

Erfahrungen

Aus meiner Perspektive gibt es einige sehr deutliche Beobachtungen bei der Rekrutierung und Beschäftigung von Absolventinnen und Absolventen des Bologna-Systems.

•Die Bewerberinnen und Bewerber sind in der Regel sehr jung. Viele bewerben sich mit 21 oder 22 Jahren nach abgeschlossenem Studium auf eine erste Festanstellung. Das bedeutet in Deutschland eine drastische Verjüngung um etwa fünf Jahre gegenüber dem früher Üblichen. Dahinter stehen die Verkürzung der Schulzeit von 13 auf 12 Jahre bis zum Abitur (Matur), der Wegfall von Wehr- oder Zivildienst und die Verkürzung der Regelstudienzeiten.

•Die persönliche Reife der Bewerber – kenntlich an der Fähigkeit zur kritischen Selbststeuerung, dem Umgang mit Hindernissen sowie einer reflektierten Wertebasis – wird in Bewerbungsgesprächen nicht immer offensichtlich und scheint oft auch nicht ausreichend gegeben.

•Bachelorabsolventen bringen oft kein ausreichend breites Methodenwissen mit, sodass in den ersten Jahren kein selbstständiges, ingenieurmäßiges Arbeiten möglich ist. Der Betreuungsaufwand für diese Absolventen ist dementsprechend hoch. Aus industrieller Sicht ist ein derartiges Nachreifen unrentabel und unerwünscht.

•Einige Absolventen wirken erstaunlich erfolgsverwöhnt. In Deutschland finden heute 55 Prozent der Schüler einen Platz im Gymnasium (vor 30 Jahren waren es nur rund 30 Prozent), und in vielen Hochschulen und Fachhochschulen werden Studenten heute – ganz anders als vor 30 Jahren – sehr behutsam behandelt. Es mag im Interesse der Hochschulen sein, im internationalen Ranking eine geringe Abbrecherquote auszuweisen. Für die Persönlichkeitsentwicklung ist das aber sicher nicht der Königsweg.

•Erstaunlich viele Absolventen haben sehr hohe Erwartungen an eine schnelle Karriere. »Nach dem ersten erfolgreichen Projekt wird gerne nach Führungsverantwortung gefragt«, so ein Kollege auf meine Nachfrage nach seinen Erfahrungen in diesem Kontext. Angesichts der oben skizzierten Qualifikationen mag das nicht sehr realistisch sein.

Bei der Beurteilung der Studienabschlüsse findet sich die Industrie vor neue Herausforderungen gestellt.

Bedingt durch den Wettbewerb der Hochschulen untereinander ist das Curriculum an den verschiedenen Hochschulen sehr individuell, oft auch sehr ansprechend gestaltet. Die Anzahl der Studiengänge in Deutschland ist – so die statistischen Daten zu Studienangeboten der Hochschulrektorenkonferenz 2015, www.hrk.de – zwischen 2007 und 2015 von gut 11 000 auf 18 000 gestiegen.

•Diese Diversifikation macht es für Personaler, Ausbilder und Fachvorgesetzte manchmal sehr schwer, die Qualifikation der Bewerber einzuschätzen. Manche Studiengänge vermitteln hochspezialisierte Teilaspekte, deren Anwendbarkeit in der Praxis sehr fraglich ist, etwa wenn ein Studiengang statt auf Grundlagen der Informatik auf ein anwendungsorientiertes Webdesign im neusten Sprachenmix fokussiert.

•Eine Flut von Bewerbern mit Bestnoten lässt eine wohlwollende Notenvergabe vermuten.

Firmenspezifische Initiativen

Um diesen Schwachpunkten entgegenzuwirken und junge Studenten als künftige Mitarbeiter solide und passgenauer auszubilden, bietet unsere Unternehmung in enger Zusammenarbeit mit regionalen Hochschulen zwei Studiengänge an.

•Mit einer dualen Hochschule wird ein Bachelor in Maschinenbau, Wirtschaftsingenieurwesen und Elektrotechnik angeboten. Die Studierenden arbeiten alternierend drei Monate im Unternehmen und in der Hochschule.

•Mit anderen Hochschulen wird ein Studium Plus mit integrierter Fachausbildung angeboten. Es ermöglicht eine kompakte Ausbildung zum Elektroniker in der Unternehmung, ein praxisorientiertes Studium der Elektrotechnik, Informatik, Informationstechnik oder Sensorik sowie einen Auslandsaufenthalt in internationalen Dependancen, durchgängig mit finanzieller Unterstützung des Unternehmens.

Diese Initiativen halte ich für sinnvoll, insofern sie einen frühen Praxisbezug und eine soziale Integration begünstigen. Hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung hoffe ich allerdings, dass diese Absolventen sich nicht zu einer lebenslangen Anstellung in nur einem Unternehmen verführen lassen, da ansonsten der Blick für die Vielfalt der Organisationsformen und des Lebens generell zu sehr eingeschränkt wird.

Impulse zur Entwicklung künftiger Führungskräfte

Fredmund Malik (2000) hat in seinem bekannten Klassiker »Führen, Leisten, Leben« sehr klar beschrieben, wie gute Führung komplexer Systeme gelingen kann – und was es braucht, um Selbstorganisation, Selbstregulation und Evolution von solchen Systemen zu unterstützen. Mit seinem Führungsrad gibt er eine übersichtliche Gliederung der notwendigen Kompetenzen.

•Die Fachkompetenz im Sachgebiet setzt er explizit als selbstverständlich voraus. Indes ist sie bei Bachelorabsolventen nicht immer gegeben.

•Die Aufgaben und Werkzeuge der guten Führung stuft er als in der Praxis erlernbare Fähigkeiten ein.

•Die Grundsätze guter Führung – also die innere Haltung der Führungskraft – und die Verantwortung, die Ethik des Führens sieht er als die kritischen Schlüsselkompetenzen. Für sie sind Lebenserfahrung, innere Klarheit und aktive Entschiedenheit unabdingbar. Leider geht Malik in seinem Buch nicht auf die Frage ein, wie diese Haltungen gewonnen werden kann.

Hier knüpfen meine eigenen Überlegungen an. Wie kommt es zur Reifung der Persönlichkeit, und wie können Studium und Arbeit sie unterstützen? Können Zahlen, Daten und Fakten, können neueste Techniken, Methoden und äußere Strukturen den alleinigen Ausschlag geben? Wohl kaum. Es ist vielmehr der kontinuierliche innere Prozess eines zunehmenden Weltbezugs, der die eigene Identität finden lässt und die persönliche Reifung voranbringt. Dieser Prozess beginnt – nicht: endet – in den allermeisten Fällen erst mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter. Hierzu möchte ich eine Analogie aus der Welt des Handwerks anbieten.

•Der Lehrling hat seine Aufgaben unter Anleitung vollständig, handwerklich gut und fachlich richtig zu lösen. Er beantwortet Fragen in ihrem bekannten Kontext.

•Der Geselle ist mit der Herausforderung konfrontiert, selbstständig zu arbeiten – und gegebenenfalls gute Fragen zu stellen. Ab und an geht er über den bekannten Kontext hinaus. In den klassischen Zünften verwirklichten die Jahre der Walz dies eindrücklich. Das Verlassen der heimatlichen Welt führte zu neuen Meistern, in andere Techniken und Umgangsformen. Vom Selbstbezug zum zunehmenden Weltbezug!

•Der Meister hat Gesellen und Lehrlinge anzuleiten – und seine Unternehmung in der Welt zu vertreten, zu leiten und zu entwickeln. Er muss in der Lage sein, neue Fragen zu finden, will er sein Geschäft langfristig erfolgreich führen.


Die handwerkliche Analogie zeigt ein Wachstum der inneren Weite in der jeweils größeren Verantwortung. Die individuelle Reifung ereignet sich in aktiver Auseinandersetzung mit der größer werdenden Welt – ein Leben lang! Der zunehmende Weltbezug erweitert den Kontext der eigenen Identität und der eigenen Interessen.

Vergleichen wir die Lehrzeit bis zum Gesellenbrief mit dem Bachelorstudium und das Reifen des Gesellen bis zur Meisterprüfung mit dem Masterstudium, so wird deutlich, dass das Bologna-System die Anforderungen unzulässig verschoben hat. Aufgrund des zeitlich und inhaltlich allzu straffen Curriculums ist der Bachelor nicht in der Lage, sein Fachgebiet selbstständig zu vertreten. Zudem fehlt ihm für die Erlangung der Reife eines Gesellen die Zeit des eigenständigen Praktizierens. Im Diplomstudium waren zwei Studienarbeiten mit selbstständiger Arbeit Pflicht, in der Regel brauchten Studenten je drei volle Monate für Einarbeitung in die Aufgabe und ihre Erfüllung. Aus Sicht der Unternehmer, der industriellen Empfänger der Ausgebildeten, ist beim Bachelor daher erheblicher Korrekturbedarf gegeben.

Auch der Master erfüllt nach unseren Erfahrungen selten die Anforderung, selbstständig arbeiten oder gar führen zu können. In der industriellen Praxis ist oft ein erheblich gestiegener Betreuungsaufwand während der ersten zwei Jahre nach Eintritt in die Unternehmung zu verzeichnen.

Schließlich der Aspekt des Weltbezugs: Angesichts des sehr verschulten und behüteten universitären Alltags ist die Frage zu stellen: Wo und wie findet eine aktive Auseinandersetzung mit der Welt heute ernsthaft statt? Sehr viele heutige Führungskräfte haben diese Auseinandersetzung vor 30 Jahren parallel zu ihrem Studium gefunden, etwa in ehrenamtlichen Aufgaben, die einen erweiterten Weltbezug gaben. Nicht selten hat man den Eindruck, dass Absolventen geisteswissenschaftlicher Fächer – denen MINT-Vertreter gern herablassend begegnen – einen anderen, weiteren Zugang zur Weltwirklichkeit mitbringen. Reifung braucht Zeit, und Leben kann man nur im Leben lernen, das sich gerade auch außerhalb behüteter Räume zeigt.

Thesen

Abschließend möchte ich folgende Thesen aufstellen:

•Persönlichkeitsentwicklung braucht Zeit – effizientes Lernen ist hierfür kein ausreichender Maßstab, Freiräume müssen für die Studenten möglich sein.

•Persönlichkeitsentwicklung braucht Vorbilder – Menschen, die wir in der direkten Auseinandersetzung erleben. Menschen, die vorleben, wie man aus einer Haltung der inneren Freiheit heraus handeln und leben kann. Der fortschreitenden Digitalisierung und Virtualisierung unserer Ausbildung sollten unter diesem Aspekt Grenzen gesetzt werden.

•Persönlichkeitsentwicklung braucht soziale Interaktion mit der Welt – zum Beispiel über ehrenamtliches Engagement, Reisen, physische – nicht virtuelle, rein kognitive – Kontakte mit der Natur und mit Menschen.

•Persönlichkeitsentwicklung braucht Konfrontation mit Diversität. Heute mehr denn je sollten Studenten – und Lehrende! – interkulturelle Kompetenzen erlangen. Sie setzen eine entwickelte Selbstreflexion voraus. Reifung ist mehr als Schulung und Perfektionierung der kognitiven Kompetenz!

Albert Einstein sagte treffend: »Die Schule sollte stets danach trachten, dass der junge Mensch sie als harmonische Persönlichkeit verlässt, nicht als Spezialist!«

Ulrich Jakob Looser: Welche Bildung braucht die Wirtschaft?


Ulrich Jakob Looser * 1957, studierte Physik an der ETH Zürich und Wirtschaft in St. Gallen. Nach einer Tätigkeit im IT-Bereich war er 1995–2001 Partner bei McKinsey, dann bis 2009 bei Accenture Ltd. tätig, ab 2005 als Chairman der Schweizer Niederlassung. Seit 2009 ist er Partner bei Berg, Looser, Rauber & Partners AG. Ulrich Looser nimmt zahlreiche Verwaltungsratsmandate wahr und ist Vorsitzender der Kommission Bildung und Forschung von economiesuisse.

Welche Bildung braucht die Wirtschaft?

Das Klischee hält sich hartnäckig: Die Wirtschaft sehe die ideale Schule als Zulieferer für die Arbeitswelt, effizient, kompetitiv, ohne Sinn für Freigeist und Muße. Doch diese Sichtweise ist, falls sie überhaupt jemals zutraf, längst überholt. Denn erfolgreiche Unternehmen benötigen nicht genormte Arbeitskräfte, sondern in erster Linie vielseitige, kritisch denkende und kreative Persönlichkeiten. Um diese hervorzubringen, muss unser Bildungssystem vor allem eines: Neugierde fördern.

Es ist schon wahr: Die Schweizer Wirtschaft braucht mehr Mathematiker, Informatikerinnen, Naturwissenschaftlerinnen und Techniker. Der Fachkräftemangel in den so genannten MINT-Branchen ist frappant und wird von Jahr zu Jahr größer. Und natürlich werden Rufe laut, das Bildungswesen habe auf diese Malaise zu reagieren und bitte die entsprechenden Absolventen zu liefern. Ebenso trifft zu, dass in den vergangenen Jahren ebendiese MINT-Fächer von den Lehrplänen oft stiefmütterlich behandelt wurden. Es ist mittlerweile mehr als augenfällig, dass ein anderer Kurs eingeschlagen werden sollte, und mit dem Lehrplan 21 hat man dem glücklicherweise auch Rechnung getragen. Völlig falsch aber wäre es, die schulbezogene Sicht der Wirtschaft auf diese eine Forderung zu reduzieren. Völlig falsch aber wäre es zu sagen, die Sicht der Wirtschaft auf die Schule beschränke sich auf diese eine Forderung.

Als Land ohne nennenswerte Rohstoffvorkommen wird die Schweiz immer auf ein exzellentes Bildungssystem angewiesen sein; wenn sie ihren Wohlstand sicherstellen will, muss sie weiterhin Innovationsleistungen erbringen. Um das zu gewährleisten, muss Bildung vor allem eines: Neugierde wecken. Die Begeisterung für das Aneignen von Wissen und für das Entdecken der weiteren Wege, die dieses Wissen ermöglicht. Dazu sollte sie in allen Bereichen von einer vorurteilsfreien, faktenorientierten Auseinandersetzung im Sinne der Aufklärung geprägt sein. Das Ziel dieser Bildung sind nicht möglichst angepasste Arbeitskräfte, sondern mündige Bürger mit kritischem Verstand und einem gesunden Urteilsvermögen: Menschen, die um ihre Stärken wissen und diese zu ihrem eigenen Vorteil und zugunsten der Allgemeinheit einbringen können.

Ohne die wichtigsten Werkzeuge lässt sich nichts aufbauen

Damit sie dazu überhaupt fähig sind, müssen allerdings einige Voraussetzungen zwingend erfüllt sein. Zu diesen Grundlagen zählen das Beherrschen der Erstsprache und gute Kenntnisse in der Mathematik. Beides sind Werkzeuge, ohne die man sich in unserer Gesellschaft nur in absoluten Ausnahmefällen ein erfolgreiches, selbstbestimmtes Leben aufbauen kann. Auch ein noch so kreativer Denker kann nichts bewerkstelligen, wenn ihm die Sprache fehlt, um seine Ideen zu formulieren und anderen zu vermitteln. Deshalb ist es erschreckend zu sehen, dass nach wie vor 17 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in der Volksschule nicht einmal ein Sprachniveau erreichen, das für die Bewältigung des täglichen Lebens nötig wäre.

Zwar zeigen die regelmäßigen PISA-Tests, dass sich das Schweizer Bildungssystem in den letzten 15 Jahren eindeutig verbessert hat und mittlerweile in allen Bereichen deutlich über dem Durchschnitt der OECD-Staaten liegt. Das allerdings darf in einem auf Innovation ausgerichteten Hochlohnland niemals ein Grund sein, die entsprechenden Anstrengungen zu verringern. Denn erstens brauchen wir auch in Zukunft exzellente Köpfe, die mit der Weltspitze mithalten können. Und zweitens bleiben auch bei uns nach wie vor zu viele Schülerinnen und Schüler auf einem tiefen Niveau stehen, wodurch sie viel zu früh in ihrer Bildungskarriere abgehängt werden. Das schadet ihnen nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht, sondern macht es ihnen auch schwer, sich später gesellschaftlich zu integrieren – selbst wenn sie Sporttalente, besonders musikalische oder gestalterische Virtuosen sein sollten. Deshalb ist es im gesamtgesellschaftlichen Interesse, wenn die Wirtschaft fordert, dass die Schule bei der Mathematik und der Erstsprache keine Kompromisse eingehen darf.

Die Neugierde als ewige Flamme

Allein mit der Verankerung von genügend Deutsch- und Mathematiklektionen im Stundenplan ist es aber nicht getan. Dreh- und Angelpunkt für einen guten Unterricht sind motivierte und fähige Lehrpersonen. Deshalb ist es einerseits eine Frage der richtigen Selektion und andererseits einer entsprechenden Ausbildung, motivierende Lehrerinnen und Lehrer in die Klassenzimmer zu bringen. Personen, die auch trockene Mathematik mit Leben zu füllen vermögen, zum Beispiel, indem sie das zu vermittelnde Wissen in den Kontext der Lebenswelt ihrer Schüler stellen oder indem sie Aufgaben an die individuellen Kompetenzniveaus anpassen und so verhindern, dass jemand die Motivation verliert. Gerade in der Volksschule braucht es aus Sicht der Wirtschaft deshalb Lehrpersonen, die neben den grundlegenden Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen auch Fähigkeiten wie Selbstdisziplin, Leistungsbereitschaft und Motivation vermitteln können.

Geht man aber davon aus, dass die Schule diese grundlegende Aufgabe wahrnimmt: Was soll sie den jungen Menschen darüber hinaus mit auf den Weg geben? Selbstverständlich Fähigkeiten in den MINT-Fächern, grundlegende Kenntnisse einer Fremdsprache und soziale Fähigkeiten. Daneben aber vor allem: Kreativität und Neugierde. Erstere ist vielleicht nicht jedem gegeben und kann auch nur bis zu einem bestimmten Punkt gefördert werden. Letztere aber ist bei jedem Kind vorhanden und gleicht einer Flamme, die möglichst bis zum Lebensende nie erlöschen soll. Nur wer neugierig ist, will sich neues Wissen erschließen, will im Leben weiterkommen, tut mehr als das Nötigste und hört auch im Erwachsenenleben nie auf, sich weiterzubilden.

Ein System der vielen Wege

Neugierige Menschen sind es letztlich, welche unsere Gesellschaft und insbesondere die Wirtschaft weiterbringen. Nur wer Bestehendes hinterfragt und den Drang hat, es anders und besser zu machen, schafft neue Werte. Umso wichtiger ist es, dass auch unser Bildungssystem nicht den einen, richtigen Weg zu einem erfolgreichen Leben vorzeichnet, sondern eine Vielfalt an Routen bereithält. Es ist ein enormer Vorteil der Schweiz, dass keiner dieser vielen Wege in einer Sackgasse endet. Der Slogan »Kein Abschluss ohne Anschluss« ist keine leere Worthülse. Unser vielfältiges System mit Ausbildungswegen über Mittel- oder Berufsschulen, mit Berufsmaturität und Passerelle, Hoch- und Fachhochschulen und einer unglaublichen Auswahl an Weiterbildungsmöglichkeiten trägt dem Umstand Rechnung, dass für unterschiedliche Persönlichkeiten ganz unterschiedliche Wege zum Erfolg führen.

Aus wirtschaftlicher Sicht ist es deshalb fahrlässig, die unterschiedlichen Bildungswege gegeneinander auszuspielen. Es macht keinen Sinn, auf höhere Maturitätsquoten zu drängen und immer noch mehr Jugendliche in die Mittelschulen zu zwängen. Der Weg über eine Berufslehre ist für viele der passendere und bietet heute nicht selten die besseren Karrierechancen. Ebenso falsch ist es, wenn Fachhochschulen vermehrt in die Grundlagenforschung vorstoßen wollen und gleichzeitig die Universitäten immer näher an die praktische Berufsbildung rücken sollen. Vielmehr sollten beide ihre Stärken herausstreichen und pflegen. Erstere, indem sie hochspezialisierte Fachleute hervorbringen. Letztere, indem sie Lehre und Forschung auf Spitzenniveau betreiben. Die ETHs als Hochschulen von Weltrang haben darüber hinaus eine Leuchtturm-Funktion: Sie erreichen ein Qualitätsniveau, das auch internationale Ausstrahlung hat. Für welche dieser Institutionen sich ein junger Mensch entscheidet, ist zweitrangig, solange die Neugier neue Nahrung findet.

Sinnhaftigkeit des Abstrakten

Wie aber kommt nun die Wirtschaft zu den begehrten Fachkräften, zu den fehlenden Ingenieuren und Technikerinnen? Der Weg führt – wie bei den Maturitätsquoten – nicht über eine künstliche Steuerung zum Erfolg. Es ist beispielsweise illusorisch zu meinen, mehr Jugendliche würden sich für ein Ingenieurstudium entscheiden, wenn für die sozialwissenschaftlichen Fächer ein Numerus Clausus eingeführt würde. Wenn sie diesen Weg einschlagen sollen, müssen sie aktiv dafür begeistert werden – und zwar nicht erst dann, wenn sie das Maturazeugnis in der Tasche haben. Es geht auch hier wieder um Neugierde. Wer jahrelang Quadratwurzeln ziehen, Doppelbrüche multiplizieren und Ableitungen dritten Grades auflösen muss, ohne die Sinnhaftigkeit dieses Wissens vermittelt zu bekommen, dessen Begeisterung für mathematische Rätsel wird später kaum wieder zu wecken sein. Wer bergeweise Physikformeln auswendig lernen muss, aber naturwissenschaftlichen Phänomenen nie mit Experimentierfreude selber auf die Spur kommen durfte, der wird auch an der Hochschule die Finger davon lassen. Selbstverständlich gibt es immer wieder solche, die entsprechende Eigeninitiative entwickeln oder von ihrem sozialen Umfeld entsprechend gefördert werden. Doch reicht das niemals aus, um eine Veränderung in Gang zu bringen.

Und eine solche ist tatsächlich nötig. Denn es ist nicht gottgegeben, dass Mädchen auf der Sekundarstufe I ihre technischen Fähigkeiten massiv schlechter einschätzen als gleichaltrige Knaben. Der MINT-Nachwuchsbarometer der Akademie der Wissenschaften hat 2012 auf diesen bedenklichen Umstand aufmerksam gemacht. Und nein: Das hat nichts damit zu tun, dass kleine Mädchen tendenziell lieber mit Barbie spielen, während die Buben das ferngesteuerte Auto bevorzugen. In allen umliegenden Ländern ist der Frauenanteil in MINT-Studiengängen signifikant höher als an Schweizer Hochschulen. Da wird ganz offensichtlich die Neugier nicht geweckt – oder sie verkümmert zu früh, weil sie keine Nahrung bekommt. Das ist zugegebenermaßen kein Problem, das die Wirtschaft allein auf die Schule abschieben kann. Vielmehr handelt es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Gefragt ist eine breite Anerkennung und Wertschätzung dieser Kompetenzen, der entsprechenden Ausbildungen und Berufe. Gefragt sind Vorbilder, spielerische Angebote und viel Aufklärungsarbeit. Doch auch die Schule kann ihren Teil dazu beitragen, indem sie MINT spannend und lebensnah vermittelt, die Experimentierfreude weckt und die realen Möglichkeiten hinter dem Theoretisch-Abstrakten aufzeigt.

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