Kitabı oku: «Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung», sayfa 2

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Einen kritischen Blick auf die andronormative Gedenkkultur wirft die Mannheimer Historikerin Ilona Scheidle, die den Gedenkort Hilde Radusch vorstellt. Dieser erste Gedenkort für eine im Nationalsozialismus verfolgte, lesbisch lebende Frau wurde im Juni 2012 in Berlin-Schöneberg eingeweiht. 1903 geboren, war Hilde Radusch Kommunistin, später Sozialdemokratin, Politikerin, Frauenrechtlerin und lesbische Aktivistin. Scheidle kritisiert neben neben der androzentrischen auch die heteronormative Gedenk- und Erinnerungskultur, die es immer wieder zu hinterfragen gilt. Im Berliner Gedenk-ort sieht sie exemplarische und signifikante Möglichkeiten für das Gedenken anderenorts, in diesem Sinne regt sie feministische Stadtrundgänge an und diskutiert einen Gedenkort für die in Gelsenkirchen geborene Chansonnière Claire Waldoff.

Der Direktor des Dortmunder Stadtarchivs und Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache Stefan Mühlhofer erläutert das Konzept der anstehenden Überarbeitung der Dauerausstellung in der Steinwache, in dessen Leitlinien sich die Homosexuellenverfolgung einbinden lasse. Seit 2004 erinnert zwar ein Raum der Steinwache an dieses Thema, bietet aber aufgrund des damaligen Forschungsstands kaum lokalspezifische Informationen. Der Forschungsstand des Stadtarchivs hat sich seither nicht wesentlich verändert. Mühlhofer sieht nun aber die Chance, im Zuge der Neugestaltung auch das Thema Homosexuellenverfolgung im Mikrokosmos Dortmund sowohl auf Seiten der Opfer als auch auf Täterseite angemessen darstellen zu können. In das neue Konzept wird die Zusammenarbeit von Kriminalpolizei, Gestapo und Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Homosexuellen in den Blick genommen. Die Verfolgung seitens der Polizeibehörden stellt ohnehin ein Desiderat dar. Mit der Neugestaltung der Dauerausstellung wird man hoffentlich, so Mühlhofer, bei der Darstellung der Homosexuellenverfolgung ein großes Stück weiterkommen. Er regt weitere Forschungsprojekte an, die er für lohnenswert hält.

Die Bonner Historikerin Ingeborg Boxhammer stellt zu Beginn des dritten Teils über Stationen der Selbstbehauptung ein feministisches Netzwerk an der Ruhr vor und fragt nach der Verknüpfung von Berufs- und Privatleben von vier Frauen, die um die Jahrhundertwende um 1900 im Ruhrgebiet lebten und als Dentistinnen, als sogenannte Zahnkünstlerinnen ohne akademische Ausbildung, tätig waren. Ob sie homosexuell waren, muss aufgrund fehlender Zeugnisse offen bleiben, Boxhammer weist ihnen jedoch überzeugend das Attribut lesbian-like zu. Trotz schwieriger Quellenlage und zahlreicher Fehlstellen gelingt es ihr, einen lebendigen Ausschnitt aus diesen selbstbestimmten, der Frauenbewegung nahestehenden Frauenleben aus den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen, zu einer Zeit, in denen Frauen weder Wahlrecht noch Universität offen standen.


Der paradoxen Situation von Lesben in den Neuen Sozialen Bewegungen in Westdeutschland im Spannungsfeld zwischen Homosexellen- und Frauenbewegung widmet sich die Essener Soziologin Lisa Mense. Aufgrund der Diskriminierung ihrer Lebensweise schlossen sich zu Beginn der 1970er Jahre homosexuell lebende Frauen zunächst den entstehenden homosexuellen Gruppen und Bewegungen an. Um sich sowohl hier als auch in der Öffentlichkeit Sichtbarkeit zu verschaffen und ihre spezifischen Diskriminierungen als lesbische Frauen wahrnehmbar werden zu lassen, gründeten sie zunächst innerhalb der Bewegung eigene Lesbengruppen und -zentren, so auch im Ruhrgebiet. Mense erinnert an die diffamierende Berichterstattung über einen Mordprozess gegen zwei Frauen im Herbst 1973. Während die lesbische Beziehung den Prozessverlauf und die Berichterstattung dominierte, blieb die Gewalttätigkeit des getöteten Ehemannes beinahe unberücksichtigt. Gewalt gegen Frauen bildete seither einen gemeinsamen Bezugspunkt mit den Frauenbewegungen, die sich in diesen Protesten mit lesbischen Frauen solidarisierten, wie sich auch lesbische Frauen zunehmend den feministischen Ideen und Bewegungen zuwandten. In der Folge differenzierten sich die Frauenbewegungen Mitte der 1970er Jahre weiter aus und es entstand eine sich als radikal verstehende lesbisch-feministische Teilbewegung, die eine eigene lesbisch-feministische Gegenkultur aufbaute. Damit wechselte ein Teil der Bewegung das politische Konzept, an die Stelle der gesellschaftlichen Befreiung trat ein Modell der kollektiven lesbisch-feministischen Identität.

Die Dortmunder Psychologin Ulrike Janz widmet sich der Lesbenbewegung im Ruhrgebiet seit Anfang der 1970er Jahre. Erstmals listet sie Gruppen und Treffpunkte systematisch auf, verweist jedoch darauf, dass zahlreiche Lücken noch gefüllt werden müssen. In den 1970er Jahren entstand nach und nach eine Lesbenwegung, die sich politisch als Teil der autonomen feministischen Frauenbewegung verstand. Lesben bewegten sich politisch und privat gemeinsam mit heterosexuellen Frauen, aber auch in eigenständigen Gruppen, Organisationen und an eigenen Orten. Die Lesbenbewegung umfasste die lesbische Selbsthilfe in Fragen des Coming-outs, in Beziehungs- und sonstigen Lebenskrisen, bot aber auch schlicht Lebenshilfe durch umfassende Information. Wenig später begannen Lesben, in ihren neu entstandenen frauenbezogenen Zusammenhängen auch miteinander zu feiern und zu tanzen. An den Universitäten im Ruhrgebiet entstanden ab Ende der 1970er Jahre Autonome Frauenreferate. Die Lesbenwegung an der Ruhr vernetzte sich zudem regional und überregional.

Einer der Gründerväter der Aidshilfe-Bewegung im Ruhrgebiet, der heute in Düsseldorf lebende Frank Laubenburg, berichtet über die mit HIV und Aids im Ruhrgebiet in den 1980er Jahren einhergehenden Veränderungen in der Gesellschaft, aber auch in der Schwulenbewegung. Er beleuchtet einige Schlaglichter der Schwulenbewegung seit Ende der 1970er Jahre, als die Gründung eines Dachverbandes desaströs scheiterte. Anlässlich der ersten Berichte über Aids 1983/84 machte sich das Fehlen einer gesellschaftlich wahrnehmbaren schwulen Gegenwehr schmerzhaft bemerkbar. Mit der Berichterstattung über Aids als Schwulen- oder Lustseuche wurde die Risikogruppe der Schwulen konstruiert. Zudem führte Aids zur Verunsicherung schwuler Männer, aber auch zu hysterischen Reaktionen der Öffentlichkeit und zu repressiven Absichten von Teilen der Politik. In dieser Situation wurden die Aidshilfen an der Ruhr 1985/86 gegründet. Die Schwulenbewegung nahm zunächst ein ambivalentes Verhältnis ein, da man sich der Stigmatisierung nicht unterordnen wollte, Schwulenbewegung und Aidshilfen verfolgten unterschiedliche Ansätze. Für schwule Männer war es nach Laubenburg eine neue Erfahrung, von staatlichen Stellen wahr- und ernst genommen zu werden. Die Institutionalisierung der Aidshilfen-Bewegung ließ die erlahmte Schwulenbewegung erstarken und zunehmend Einfluss auf die Präventionskonzepte nehmen. Erst seit dem Beginn der 1990er Jahre können die Aidshilfen als Selbstorganisation der Schwulen gelten.

Abschließend untersucht der Siegener Historiker und Germanist Tim Veith die Männlichkeits- und Körperdiskurse in Zeitschriften für nicht-heterosexuelle Männer anhand der Rosa Zone. Dazu stellt er normierende, sich am hetero- und homonormativen Ideal orientierende Körper queeren Körpern gegenüber, die sich durch performative Akte von Homo- und Heteronormativität abgrenzen, und analysiert sie auf dem Hintergrund soziologischer und queertheoretischer Ansätze. Besonders Zeitschriften für nicht-heterosexuelle Männer spielten bei der Konstruktion von Körper- und Männlichkeitsidealen eine wichtige Rolle für ihre Identifikation und ihre Identität. In jeder Ausgabe der seit 1991 in Dortmund erscheinenden Rosa Zone finden sich Körper- und Männlichkeitsbilder, die von normierenden zu queeren Körpern reichen und ein heterogenes Bild vom Macho über den Bären- und Ledertyp hin zum Twink zeichnen. Auf dem Hintergrund ihres Erscheinens im Ruhrgebiet stellt Veith die Frage, ob die aufgezeigten Männlichkeits- und Körperideale an lokale Kontexte angebunden oder sie von diesen losgelöst genutzt werden.

Wie zu erwarten war, ließ die Tagung eine Reihe wichtiger Fragen unbeantwortet.14 Das konnte gar nicht anders sein, bietet aber zugleich für die kommenden Jahre zahlreiche Forschungsmöglichkeiten. Die Ausgrenzung und Verfolgung gilt es in all ihren Erscheinungsformen zwischen Polizei und Justiz, Religion und Gesellschaft, Psychiatrie und Schule, Arbeitswelt und Erinnerungskultur sichtbar zu machen. Gerade in einer schwerindustriell geprägten Region wie dem Ruhrgebiet lässt sich fragen, inwiefern sich schwul-lesbische Lebenswelten im Bürgertum von jenen der Arbeiterschaft unterschieden. Waren Arbeiter häufiger von Verfolgung betroffen, konnten Bürgerliche der Verfolgung aufgrund ihrer Lebensumstände leichter entgehen oder war die Fokussierung auf Arbeiter Teil der allgemeinen Repression in einer Region, in der der Nationalsozialismus anfänglich auf keinen großen Zuspruch, wohl aber auf umfangreiches widerständiges Verhalten gestoßen war? Gab es Unterschiede zwischen den ländlichen Rändern des Ruhrgebiets und seinen urbanen Zentren? Unterschied sich die Verfolgung schwuler Männer zwischen der Rheinprovinz und Westfalen, zwischen den drei das Ruhrgebiet tangierenden Bezirksregierungen? Welche Rolle spielte die Gestapo, welche die Sittendezernate der Kriminalpolizei, wer machte sich die Verfolgung mit besonderem Eifer zu eigen? Welche Spielräume verblieben der Justiz bei der Verfolgung der Homosexuellen? Welche Rolle nahmen die Kirchen bei der Verfolgung schwuler Männer und lesbischer Frauen vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik ein? Und welche Rolle spielten Vorwürfe wegen Homosexualität bei den so genannten Klosterprozessen 1936/37 tatsächlich?

Ein zweifelsohne dringendes Desiderat stellt die Verfolgung lesbischer Frauen dar. Die systematische Aufarbeitung der Schwulenverfolgung im Ruhrgebiet zwischen 1933 und 1969 lässt ebenfalls auf sich warten, aber auch die Rolle staatlicher und städtischer Instanzen von der Medizin über die Jugendämter bis zu den psychiatrischen Anstalten bei der Verfolgung bis in die 1960er und 1970er Jahre.

Wie gestaltet sich die Erinnerungskultur in Bezug auf schwule Männer und lesbische Frauen? Welche Erfahrungen wurden in den Mahn- und Gedenkstätten, den historischen Vereinen und den Archiven der Region gemacht? Wie lässt sich der Unterdrückung lesbischer Frauen angemessen gedenken? Welche Formen nahm die Selbstbehauptung zwischen Subkultur und Integration ein? Welche Rolle spielten die Städte der Region nach der Liberalisierung des Strafrechts bei der Zulassung schwuler und lesbischer Etablissements und Vereine, bei der Genehmigung von Demonstrationen, bei der allmählichen Zurückdrängung von Repressionen? Welche Erkenntnisse bietet die Untersuchung der schwulen und lesbischen Hochschulgruppen in Bezug auf das Entstehen einer homosexuellen Bewegung, auch des Kommunikationscentrums Ruhr (KCR), des ältesten noch bestehenden Lesben- und Schwulenzentrums in Deutschland? Dessen über 40-jährige Geschichte harrt noch immer einer wissenschaftlich fundierten Aufarbeitung: Noch sind Quellen vorhanden, noch leben die Zeitzeug_innen. Und es lässt sich der Frage nachgehen, welche Bedeutung die bürgerliche Homophilenbewegung im Ruhrgebiet einnahm. Welche Auseinandersetzungen gab es zwischen ihr und der neuen Schwulen- und Lesbenbewegung der 1970er Jahre? Ein noch völlig unbeackertes Feld schließlich ist die Geschichte bisexueller, transsexueller und intersexueller Menschen an der Ruhr, wobei zu erwarten steht, dass die Quellenlage noch sehr viel schlechter als bei der Situation der Homosexuellen sein dürfte. Aber auch hier lohnen die Anstrengungen. Auch fehlt es an vergleichenden Studien sowohl innerhalb des Ruhrgebiets als auch zwischen verschiedenen Regionen der Bundesrepublik.

Wenn der von der Dortmunder Tagung ausgehende starke Impuls nicht wirkungslos verpuffen soll, bedarf es der weiteren Vernetzung aller zu diesen Themen Forschenden. Es muss nicht immer eine ganztägige Veranstaltung werden, eine Diskussionsrunde ein- oder zweimal im Jahr, bei der aktuelle Projekte vorgestellt, aber auch Probleme besprochen werden, wäre bereits weiterführend. Wenn es der Tagung und diesem Tagungsband gelingen sollte, Initialzündung für eine kontinuierliche Zusammenarbeit zu sein, versprechen die kommenden Jahre einen reichen Forschungsertrag. Dazu können auch die Archive und Museen der Region ihren Beitrag leisten und sich verstärkt diesem Thema widmen. Die Archive könnten beispielsweise entsprechende Archivalien erschließen, Museen gezielte Sammlung anlegen, aber auch die Schwulen- und Lesbenbewegung selbst könnte ein dem Centrum Schwule Geschichte Kölns (CSG) oder dem Schwulen Museum* Berlins vergleichbares Archiv auf die Beine stellen.

Zum Schluss heißt es, Dank zu sagen für die Unterstützung bei der Vorbereitung und der Durchführung der Tagung und für das Zustandekommen des Tagungsbandes. Der Dank gilt der Stadt Dortmund als dem Schirmherrn, der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, dem Schwulen Netzwerk NRW und der Landesarbeitsgemeinschaft Lesben in NRW als den Geldgebern, dem Lesben- und Schwulenzentrum KCR und der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache als Veranstaltungsorte, dem Medienprojekt Queerblick und Stefan Nies für ihre technische Unterstützung, den Moderatorinnen und Moderatoren Manuel Izdebski und Frank Siekmann, den Referentinnen und Referenten, den Autorinnen und Autoren der Beiträge dieses Bandes, den vielen helfenden Händen, besonders denen der Teams des KCR und der Steinwache, und last, but not least Hans-Jürgen Vorbeck, Daniel Thäsler und Francesco Menga.

Teil 1

Entrechtung und Verfolgung

Wolfgang D. Berude

„Alle sind nach meiner Meinung typische Homosexuelle”

Der Essener Theaterskandal 1936

Jene Lokale, in denen ausschließlich oder überwiegend Personen verkehrten, die „der widernatürlichen Unzucht huldigen”, seien zu schließen, ordnete der kommissarische preußische Ministerpräsident Hermann Göring am 23. Februar 1933 an. Damit begann die sich zunehmend verschärfende Verfolgung der Homosexuellen unter dem Nationalsozialismus. Auf Grundlage dieser Verordnung verfügte der Essener Polizeipräsident Anfang April die Schließung eines Trefflokals, das in den 1920er Jahren über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gewesen war: das Eldorado am Gerlingplatz 4. Zur Begründung führte er an, es handele sich um eine Schankwirtschaft, „die überwiegend von Homosexuellen besucht wurde”. Am 2. Mai wurde das Lokal geschlossen, am 10. Mai organisierten die Nazis vor dem Lokal auf dem Gerlingplatz die Bücherverbrennung. Der Aktion zur Vernichtung sogenannter Schmutz- und Schundliteratur fielen auch die Arbeiten des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld zum Opfer, eines Vorkämpfers für die Abschaffung des § 175 StGB.15

Damit begannen die Repressalien gegen gleichgeschlechtlich orientierte Männer und Frauen. Im Juni 1934 wurden der SA-Stabschef Ernst Röhm und ca. 200 weitere SA-Führer im Deutschen Reich umgebracht, um die SA als Konkurrent um die Macht im Reich auszuschalten. Die NS-Propaganda beschuldigte viele einer homosexuellen Veranlagung. Adolf Hitler selbst gab den Befehl zur „rücksichtslosen Ausrottung dieser Pestbeule”.16 Im September 1935 wurde der Strafrechtsparagraf 175, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, deutlich verschärft. 1936 wurde in Berlin die Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung gegründet, um die Verfolgung von Homosexuellen systematisch angehen zu können.

Auch in Essen nahm die Verfolgung zu. Bei einer Razzia in der Wirtschaft Schmitz, Ecke Steeler- und Söllingstraße, nahm die Polizei etwa 60 bis 80 Personen fest – unter ihnen auch ein Staatsanwalt. Bis Ende April 1936 wurden erneut mehr als 50 Männer festgenommen. Am 25. September 1936 verurteilte die Erste Große Strafkammer des Landgerichtes 14 Angeklagte, sie stammten aus unterschiedlichen Schichten und Berufsgruppen. Einer der Verurteilten war ein 18-jähriger Autoschlosser, der nach der Verbüßung seiner Gefängnisstrafe ins KZ Sachsenhausen überführt wurde. Von dort aus folgten Jahre in den Konzentrationslagern Flossenbürg und Dachau. Dokumentiert sind die vergeblichen Bemühungen seiner Eltern und Geschwister um Begnadigung. Der Bedarf an wehrfähigen Männern für den Krieg rettete den jungen Mann schließlich vor weiterer Lagerhaft: Am 11. Juni 1943 entließ man ihn aus dem Lager mit der Auflage, unverzüglich dem Einberufungsbefehl zur Wehrmacht zu folgen.

Zu den NS-Maßnahmen zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung, die alle sogenannten Volksschädlinge erfassen sollten, gehörte auch die Verhängung der sogenannten Vorbeuge- oder Schutzhaft und die willkürliche Einweisung in Konzentrationslager. Das belegen zahlreiche Gestapo-Akten, die die Verfolgung Essener homosexueller Männer belegen. „Da die Ermittlungen einen derartigen Umfang angenommen haben, daß eine sachgemäße Bearbeitung in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich ist […], halte ich Schutzhaft bis auf weiteres für dringend erforderlich”, heißt es etwa in einem Brief vom 7. April 1936.17 Auch sind Suizide in der Gefängniszelle aus Angst vor Misshandlung und aus Scham in den Akten der Essener Gestapo dokumentiert. Ein ehemaliger Kellner, der vor Gericht sein gegenüber der Gestapo abgelegtes Geständnis widerrief, wird in indirekter Rede mit den Worten wiedergegeben, „unter Druck erreichte man meine Geständnisse – der vernehmende SS-Oberscharführer habe eine Peitsche in der Hand gehabt und […] Kastration und Konzentrationslager angedroht. Er habe das Geständnis nur zu dem Zwecke abgelegt, um nicht öfter vernommen zu werden”.

„Homosexuell veranlagte Angestellte der Essener Bühnen”

Im Frühjahr 1936 folgte mit dem Essener Theaterskandal eine Gestapo-Aktion gegen Homosexuelle. Wie weit seine Wellen schlugen, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ihn in seinem Tagebuch vermerkte. Drei Jahre zuvor war das Essener Theaterensemble von rund 20 jüdischen Künstlern und sogenannten Salonbolschewisten „gesäubert” und mit Alfred Noller ein linientreuer Intendant eingesetzt worden. Damit standen die Essener Bühnen ganz „im Dienste der nationalsozialistischen Kulturpolitik”.18 Im Zusammenwirken mit Oberbürgermeister Dr. Theodor Reismann-Grone propagierte Alfred Noller nun das Ziel, „mit dem Volkstheater zur Volksgemeinschaft” beizutragen.

Auch der Oberbürgermeister beabsichtigte, die „Kultur der Stadt zu heben” und „die Mitbürger durch die Taten zu überzeugen vom Wert des Nationalsozialismus”.19 Obwohl die Stadt, die durch die Weltwirtschaftskrise in große finanzielle und ökonomische Probleme geraten war, jahrelang die Schließung der Städtischen Bühnen oder eine Fusion mit dem Duisburger Stadttheater nicht ausschließen konnte, zeigte sich Reismann-Grone überzeugt, „daß wir vor einer großen nationalen Kunst stehen”. Die Unsicherheit um den Fortbestand der Essener Bühnen prägte nicht nur die Auseinandersetzungen zwischen dem Stadtoberhaupt und seinem Intendanten Noller, sie dürften auch nicht ohne Folgen auf das Arbeitsklima unter den Ensemblemitgliedern geblieben sein. Hinter den Kulissen erreichte im Sommer 1935 das Gerangel zwischen den NSDAP-Parteigenossen auf der einen und den übrigen Ensemblemitgliedern auf der anderen Seite eine neue Dimension. Linientreue Parteigenossen suchten Unterstützung bei Reichsminister Joseph Goebbels, dem als Minister für Propaganda und Volksaufklärung der gesamte Kulturbereich unterstand. Der Minister forderte daraufhin, fünf Parteimitglieder einzustellen, die Noller zuvor als „ganz unbrauchbare Sänger” beschrieben hatte. Dies berichtete der Intendant dem Oberbürgermeister am 29. August 1935.20

Während dieser Auseinandersetzungen wurde im Reich die Verschärfung des §175 StGB öffentlich vorbereitet, die schließlich am 1. September 1935 in Kraft trat.21 Im Essener Ensemble gerieten nun jene, von denen angenommen wurde, sie gehörten zur „Clique” der „homosexuell veranlagten Angestellten der Städt. Bühnen”, in die Schusslinie.22 Bereits zwei Tage später sah sich Operettenspielleiter und Schauspieler Otto Zedler23 veranlasst, gegen die „gemeine Verächtlichmachung” seiner Person und die „durch nichts gerechtfertigten erotischen Klatschereien” vorzugehen. In Schreiben vom 3. und 4. September forderte er die Operettensängerin Klara K. auf, die „üblen Nachreden” sofort zu unterlassen, was jedoch unterblieb. Ob Bühnenmaler, Gewandmeisterin oder Opernsängerin – alle tuschelten, unterstellten, vermuteten und bestellten den Boden der Denunziation.

„Ein treuer und lustiger Herrscher”

Als Otto Zedler am 12. Februar 1936 von den Essener Bühnen im Rahmen eines „frohen Festes” der 14 Essener Karnevalsgesellschaften im großen Festsaal des Saalbaues zum Prinz Karneval Otto I. der Stadt Essen ernannt wurde, versprach er seinen ausgelassenen Untertanen, ein „treuer und lustiger Herrscher” zu sein. Von den neuen Gerüchten um seine Person, die im Umlauf waren, wird er zu diesem Zeitpunkt gehört haben. Bei den Gerüchten blieb es aber nicht. „Von absolut glaubwürdiger Seite” und „streng vertraulich” bekam Kriminalkommissar Peter Nohles von der Gestapo-Außenstelle Essen Informationen über Zedler selbst und die Verhältnisse am Stadttheater. In seinen Aufzeichnungen vom 20. Februar notierte er, die homosexuelle Veranlagung Zedlers sei in weiten Bevölkerungskreisen bekannt. Deshalb habe man an seiner Wahl zum Prinz Karneval nicht nur Anstoß genommen, sie habe vielmehr ausgesprochenes Befremden ausgelöst. Nohles resümierte: „So erscheint es doch schon jetzt angezeigt, sich mit seiner Person näher zu befassen und zu erwägen, ob man ihn trotz der Gerüchte als Prinz Karneval auftreten läßt, um ggf. einen etwaigen späteren für die Stadt Essen blamablen Skandal vorzubeugen”. Auch Intendant Noller wurde zur Zielscheibe der Kritik. Nohles nannte ihn in seinen Aufzeichnungen einen „ehemaligen Kommunisten”, der NS-Parteigenossen an den Städtischen Bühnen wirtschaftlich benachteilige. Einige der wenige Wochen später Verhafteten wurden bereits hier mit Namen genannt. Nohles schloss, daß „eine eingehende Prüfung all dieser Dinge dringend geboten erscheint, da zu besorgen ist, daß sie sich zu einem Skandal auswachsen”.24

Wer der Geheimen Staatspolizei als Quelle diente, muss Vermutung bleiben. Im Theaterskandal verwickelte Personen wie die Operettensängerin Glanka Z. bezogen sich in ihren Aussagen vor der Gestapo auf einen gewissen Heinrich oder Heinz M.,25 der nach eigenen Angaben Kreispropagandaleiter der NSDAP und maßgeblich an der Denunziation beteiligt war. Opernsänger Erwin R., zugleich NSDAP-Parteigenosse und Bühnenfachschaftsleiter, berichtete der Gestapo, Glanka Z. habe ihm vertraulich mitgeteilt, die Gestapo beabsichtige, Otto Zedler während der großen Karnevalsprunksitzung, der er als Prinz Karneval beiwohnen werde, zu verhaften und im Ornat abzuführen. Doch sahen die seit Wochen ermittelnden Beamten der Geheimen Staatspolizei von einem derart spektakulären Zugriff auf Otto Zedler ab.


Beim Rosenmontagszug schließlich jubelten dem Prinzen Karneval Otto I. und seiner Prinzessin Assindia, mit bürgerlichem Namen Hilde, „Zuschauer wie noch nie” zu, wie der Essener Anzeiger in großer Aufmachung titelte. Weiter heißt es: „Prinz Otto I. war in solcher angenehmen Hochzeitsstimmung, dass er warme Worte des Dankes für die Unterstützung des Essener Karnevals durch die Stadtverwaltung, Bevölkerung und Presse fand.”26 Die „warmen Worte des Dankes”27 und der Jubel von vielen tausend Narren in den Straßen der Essener Innenstadt dürften SS-Sturmführer Albert Schweim von der Gestapo-Außenstelle nicht beeindruckt haben. Er hatte schon am 15. Februar mit sofortiger Wirkung die Postkontrolle über Otto Zedler veranlasst, doch „noch hatten sich keine positiven Beweise für seine anormale Veranlagung und strafbare Beziehungen” erbringen lassen. Fünf Wochen später lagen die gesuchten Beweise jedoch vor und der umjubelte Prinz Karneval Otto I. wurde festgenommen.

„Alle sind nach meiner Meinung typische Homosexuelle”

Doch nicht die Überwachung der Post lieferte der Gestapo die notwendigen Beweise der Homosexualität Otto Zedlers, sie fielen ihr vielmehr als Folge einer weiteren Denunziation nebenbei in die Hände. Am 15. Februar 1936 erreichte die Essener Gestapo eine kurze Mitteilung des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS: „Betrifft: Lothar Sch., Essen, Rellinghauser Str., Abteilungsleiter beim Ruhrverband. Der Genannte ist homosexuell.”28 Diese Mitteilung veranlasste die Essener Gestapo, gegen die „homosexuellen Umtriebe” einzuschreiten, und löste damit den Theaterskandal und die Aktion gegen Homosexuelle in Essen aus.

Durch Denunziation eines Nachbarn geriet der gutsituierte 53-jährige Abteilungsleiter ins Blickfeld der Gestapo. Der Nachbar, ein NSDAP-Parteigenosse, gab an, seit fünf Jahren „das Treiben in der Wohnung des Sch.” beobachtet zu haben, und bot an, bei dem nächsten, Anfang des Monats stattfindenden Sonntagnachmittagstreffen mit „5-6 jungen Burschen” der Gestapo telefonisch Nachricht zu geben. Dass es sich dabei um ein geselliges Treffen zum Kartenspiel, einen Rommé-Kreis unter Gleichgesinnten handelte, spielte in den kommenden Monaten keine Rolle mehr. Die Festnahmen vom 4. März boten der Gestapo den Anlass für die große Aktion gegen homosexuelle Umtriebe in Essen. An den Verhören beteiligte sich neben Kriminalkommissar Nohles auch der junge Kriminalkommissar-Anwärter Erich Weiler, der später durch seine Erfolge gegen Homosexuelle in Essen, Duisburg und Düsseldorf schnell Karriere machen sollte. Im Organisations- und Geschäftsverteilungsplan der Gestapo-Leitstelle Düsseldorf wurde er 1938 als Referatsleiter für „Sonderaufträge”, „Homosexuelle und Abtreibungen” aufgeführt, später stand er im Rang eines SS-Oberscharführers.29

Gemeinsam mit Lothar Sch. wurde auch der junge Tänzer Walter B. in Polizeigewahrsam genommen und intensiven Verhören unterzogen. Gezielt wurden beide nach den Essener Bühnen und den „dortigen Umständen” befragt. Auf Fragen nach dem Opernsänger Otto Zedler oder dem Kapellmeister Puhlmann gab Lothar Sch. zur Antwort: „Von den Herren Zedler u. Puhlmann weiß ich aus eigener Kenntnis nichts. Es ist mir jedoch zu Ohren gekommen, das Zedler mit einem Freund namens Brand zusammen wohnt.”30 Tatsächlich wohnten und lebten beide seit 1927 zusammen, Brand bestritt aber im Gestapo-Verhör, mit Zedler sexuelle Handlungen begangen zu haben.31 Auch weitere Ensemblemitglieder wurden verhört. Der Opernsänger Kurt R. gab am 6. März der Gestapo zu Protokoll: „Ich kenne auch die Gerüchte, die über homosexuell veranlagte Personen an der Essener Oper im Umlauf sind. Nach dem Verhalten der Tänzertruppe zu urteilen – alle sind nach meiner Ansicht typische Homosexuelle […]. Auch über den Operettenspielleiter Zedler kursiert das Gerücht, daß er homosexuell veranlagt sei.”32

„Es ist ein schlimmer Skandal für Essen”

Mitte März 1936 bat Intendant Noller wegen des sich abzeichnenden Skandals Oberbürgermeister Reismann-Grone um Hilfe. Der Angesprochene äußerte sich in seinen Aufzeichnungen ebenso knapp wie dramatisch: „Ein böser Schlag: Am Freitag, den 13. 3., kommt Noller blaß.” Als der – so der OB – „lähmende Skandal am Theater ausbrach”, „angeblich auf Grund eines Klatsches eines entlassenen Parteigenossen”, wurden von der Gestapo nach §175 StGB verhaftet: Bühnenbildner Paul Sträter, Schauspieler Otto Zedler, Kapellmeister Kurt Puhlmann und Opernspielleiter H. Intendant Noller bat den OB „um Hilfe”.33

Am nächsten Tag suchte der Oberbürgermeister Kriminalpolizeirat Braschwitz auf, den Leiter der „Politischen Inspektion Essen” der Gestapo.34 Den „nationalgesinnten Verleger” Reismann-Grone, dessen Herz „an Kunst und Kultur im weitesten Sinne” hing und der 1933 als 72-Jähriger mit der Absicht angetreten war, „Essen zu einem Weimar zu machen”, dürften die Nachrichten aus der Gestapo-Außenstelle schockiert haben. In seiner Chronik hielt er fest: „Es ist ein schlimmer Skandal für Essen.”35 In den Märztagen kam es zu immer neuen Verhaftungen. Intendant Noller „brach darüber ganz zusammen”, als Bühnenbildner Sträter und Operettenspielleiter und Faschingsprinz Otto Zedler, wenige Tage zuvor noch „von den Massen bejubelt”, verhaftet wurden. Auf Anraten des Oberbürgermeisters musste der „schwer zerrüttete” Noller für „wenige Tage” in den Erholungsurlaub geschickt werden. Noller ließ den Oberbürgermeister wissen, die Sängerin Glanka Z. habe ihm über eine „gewisse Affäre” berichtet. Im Zusammenhang mit der Verhaftung Otto Zedlers gab sie in „aller Bescheidenheit” an, „dass doch die auf Grund der Sonderaktion engagierte Klara K., die wegen künstlerischer Unzulänglichkeit in der nächsten Spielzeit nicht wiederverpflichtet wird, eine Hauptperson in dieser Affäre abgibt”. Mit Brief vom 17. März fragte Noller weiter, „ob nicht in diesem Fall die allseitig unbeliebte und künstlerisch vollkommen unzulängliche Klara K., die mich und unser Theater bereits bei der Reichstheaterkammer denunziert hatte, fristlos zu entlassen ist. Eine solche Maßnahme würde die ganze Atmosphäre um unser Theater säubern […].”

Er konnte nicht ahnen, dass die Verhaftung des Tänzers Peter Roleff am 23. März dem „Skandal” neue Brisanz verleihen und für die Beamten der Gestapo-Außenstelle Essen zu einer öffentlichen Blamage werden sollte. Denn nicht der Lebensgefährte von Otto Zedler erbrachte die gesuchten Beweise, die zur Verhaftung notwendig waren. Erst die Aussagen des Ballettmeisters Peter Roleff, der über seine intimen Kontakte zu Zedler und anderen Personen Auskunft gab, führten am 30. März zur Verhaftung des Operettenspielleiters. In seinen Aussagen, die mutmaßlich nicht ohne physischen und psychischen Druck zustande kamen, nannte er zahlreiche Personen, die homosexuell veranlagt seien. Unter ihnen der von Noller geschätzte Bühnenbildner Paul Sträter.36

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253 s. 23 illüstrasyon
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